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Günter Hack

Heimat der Störche

Die Heimatzeitung meldet die Ankunft des Storchs. Des Storchenweibchens, genauer gesagt, denn das Männchen wurde bereits im Nest gesehen, auf dem Schornstein des alten Klosters, von wo die Vögel die Dächer der Altstadt überblicken, bis hinaus in die Niederungen des Flusstals, wo sie ihre Nahrung finden. Der diensthabende Lokalreporter notiert jede Ankunft der Weißstörche in den Annalen, wann die Jungen schlüpfen, wie viele es sind, ob sie überleben. Der Storch ist nicht unser Eigentum, er ist vielmehr einer von uns.

Bei der Jagd steht er aufrecht und zweibeinig in der Wiese, schreitet vorsichtig voran, lauscht, sucht. Ein Mensch mit Maske könnte er sein, von weitem, betrachtet aus dem fahrenden Schulbus. Unser Kunsterziehungslehrer, ein akademischer Bildhauer, hat uns von seiner Zeit in Paris erzählt, wie er seinen Helden Alberto Giacometti aufgesucht und der ihn empfangen habe. Er zeigte Dias der berühmten Skulpturen von mageren Menschen und Tieren: den Mann, der über einen Platz schreitet, gegen den Regen. Den Hund mit dem tief durchhängenden Rücken. Giacomettis Skulpturen verschmolzen in meinem Hirn mit dem Bild des Storchs in der Wiese. Eigentlich, so dachte ich mir, hat er immer nur einen Storch modelliert, seine Figuren schwanden ihm unter den Fingern auf diese eine schmale Gestalt, immer und immer wieder.

Aus der Nähe meinen wir, den Storch weise lächeln zu sehen. Im Nest begrüßen die Tiere einander mit lautem Geklapper. Keiner der Nachbarn würde sich jemals darüber beschweren. Die Ankunft eines Storchs ist immer eine gute Nachricht. In jedem der Orte ringsum lebt ein Storchenpaar, und zwar genau eines. Bleibt es aus, wird einer der Vögel gar verletzt, sind die Menschen traurig. Die Lokalzeitungen geben den Störchen keine Namen. Nicht dass ihnen kein passender einfiele, aber Namen individualisieren, sie stören die Mechanik der zyklisch organisierten Ewigkeit, konzentriert im Bild des Tiers. So sind die Störche als namenlose Mitglieder der Gemeinschaft Garanten für deren Bestand, entheben sie der Zeit.

Geht es den Vögeln gut, dann ist die Welt ringsum in Ordnung. Die Störche machen die Stadt erst komplett und damit auch die menschliche Gemeinschaft, sie holen sie heim in die Natur. In den Neubaugebieten steht vor jeder Doppelhaushälfte ein Kinderbaum, eine Konstruktion aus Holz, behangen mit Schnullern und Babykleidung, den die Freunde der Besitzer in den Garten gesteckt haben. Bringt das frisch eingezogene Paar nicht nach einem Jahr einen Nachkommen zur Welt, muss es ein Fest ausrichten. An der Spitze des Kinderbaums leuchtet stets die Figur eines Storchs. Auch die Figur des Vogels lächelt, sie trägt ein stilisiertes Bündel mit Menschenkind im Schnabel, bei ihm ist unser Wertvollstes gut aufgehoben.

Der Storch hätte sein Nest sonst wo hinbauen können, aber er kam hierher, mitten in die Stadt, er hat es sich so ausgesucht, wir akzeptieren ihn als einen der Unsrigen, also ist hier sein Zuhause, nirgendwo sonst. Auch wenn er nicht in der Stadt weilt, so ist er doch bei uns, im Gedanken an den Vogelzug. Wird es ihm zu kalt, fliegt er in den Süden, also auf Urlaub, via Türkei oder Portugal, auch dieser Zug an ihm erscheint uns beinahe menschlich. Wir frieren und sehen sein leeres Nest und wünschen ihm, dass er es gut hat und wohlbehalten wiederkehren möge. Das Assoziationsfeld um den Storch erscheint solide, geradezu bürgerlich, Fluchtfantasien inklusive.

Als Otto Lilienthal 1889 sein Buch Der Vogelflug als Grundlage für die Fliegekunst veröffentlichte, stellte er dem Text das Bild einer „kreisenden Storchfamilie“ voran, die prominenteste technische Illustration des Buchs zeigt dann, wo welche Kräfte auf die Flügel eines Storches wirken. Schon im ersten Satz des Buchs beschreibt der Ingenieur, wie Störche „zu ihren alten nordischen Wohnsitzen“ zurückkehren. Weiter hinten erklärt er auch, warum er sich gerade mit diesen Vögeln befasst hat: „Als Beispiel ist der Storch gewählt, weil kein anderer ebenso großer Vogel und ebenso gewandter Flieger eine gleich gute Beobachtung gestattet.“

Das mag auch daran liegen, dass Lilienthal auf die Arbeiten des Fotopioniers Ottomar Anschütz zurückgegriffen hat. In seinem Nachlass fand sich eine Serie von Anschütz’ Storchenaufnahmen. Kleinere und schnellere Vögel waren mit der damals verfügbaren Technik schlicht nicht so gut zu erfassen. Anschütz fotografierte auch Lilienthals Versuche mit seinen Fluggeräten, die später die Gebrüder Wright inspirieren sollten.

In seinem Text klingt an, dass Lilienthal den Menschen gegenüber dem Vogel als unvollständig empfand. Er zitiert Faust – „Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen!“ –, aber nur, um ihm zu widersprechen. Die Sehnsucht nach dem Fliegen war für ihn kein Zeichen von Hybris, sondern ein natürliches Verlangen, das es mit wissenschaftlichen Methoden zu befriedigen galt. Der Storch ist uns so nah, und er ist ein perfekter Flieger, also können wir ihm folgen. Lilienthals Ideal war ein Mensch, der sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben vermag, Motoren betrachtete er als lästige Hilfsmittel. Lilienthals fliegender Mensch sollte still gleiten, wie sein Traumbild, der Weißstorch. Nicht nur die Stadt, auch die Einzelnen macht der Storch als Idee erst ganz. Eskapismus ist eine reale Option, auch wenn das Unterfangen schwerer sein sollte als Luft.

Tatsächlich aber steht der Storch nur in der nassen Wiese, still lauschend: die Bundesstraße hinter ihm, ein permanentes Rauschen des Verkehrs; auf dem Hügel vor ihm ein Traktor, der sich mit einem Güllefass die Kontur eines Hangs entlangarbeitet. Ein Sperberweibchen kreist über dem Flusstal. Etwas zuckt im Gras. Schnabelhieb: ein Frosch. Der Wind fährt in kurzen, heftigen Böen ins Schilf, Wasser kräuselt sich, eine Bisamratte taucht. Ein Auto nähert sich auf dem Feldweg und hält an. Drei Rehe springen auf, suchen neue Deckung. Auch der Storch nimmt kurz Anlauf gegen den Wind, gewinnt schnell an Höhe, schraubt sich der niedrigen Wolkendecke entgegen, findet den Kurs aufs Nest.

„Heimat der Störche“ erschien erstmals im Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 7, 68. Jahrgang, Juli 2014, Klett-Cotta.