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Anna Bertram

Zwischen Identität und Nichtidentität

Ich hatte die Zeitverschiebung zwischen Zürich und Beirut vergessen und mich verspätet. Jetzt sitzen Ali Chahrour und ich uns gegenüber, jeder vor dem eigenen Laptopbildschirm. Ali blickt mir wohlwollend entgegen, in seinem Hintergrund schläft auf dem Sofa eine getigerte Katze. Ich konnte ihn gerade noch abfangen. Ab nächster Woche wird er eine längere Zeit unterwegs sein, seine Performances touren in Avignon, Napoli und Fribourg. Man sieht ihm die Vorfreude auf die Vorstellungen an. Später wird er erzählen, wie wichtig die Liveness seiner Performances für ihn ist. Er hasse es, Tanz auf Bildschirmen zu sehen. Es fühle sich an, als töte es die Seele der Tänzer:innen und der Performance.

«The Love Behind my Eyes», seine jüngste Choreographie, wird dieses Jahr auf dem Theater Spektakel in Zürich zu sehen sein. Es ist der Abschluss einer Trilogie über Liebe, die mit ihr verbundene Hingabe, den mit ihr verbundenen Schmerz. Gemeinsam mit einem Freund, Chadi Aoun, tanzt der Choreograf und Regisseur darin selbst auf den inszenierten Trümmerfeldern der Gefühle, begleitet von der Sängerin Leila. Ali beschreibt sein künstlerisches Vorgehen und die Versuche während des Probens als «aggressiv poetisch». «Es ist, als ob wir diese Poesie, diese Intimität und Zerbrechlichkeit in all der Aggressivität retten müssten.» Er arbeite sehr persönlich, komponiere mit intimen Erfahrungen und Ereignissen.

Ali studierte ab 2008 in Beirut und an verschiedenen europäischen Schulen Tanz und Theater. Dazu kam es aus Interesse und Leidenschaft, ohne dass er selbst einen ausgeprägten Hintergrund in den Künsten hatte. Lediglich ein paar Tanz-Vorstellungen in Beirut habe er gesehen. In Bewegungen und Körpern aber fand Ali eine Möglichkeit eines anderen Ausdrucks jenseits von Sprache. Eine zusätzliche Ebene von Narration, die eine eigenständige Gefühlsebene aufmacht. Der Ausdruck von Gefühlen und wie man es schafft, sie durch Tanz und Kunst an- und auszusprechen, scheint eine beständige Frage für ihn zu sein. Nach seiner Ausbildung in Europa entschied er sich, in den Libanon zurückzukehren. Sein Interesse an lokalen Techniken und Bewegungsqualitäten war gewachsen, genauso der Wunsch, mit Geschichten des Alltagslebens in Beirut und arabischen Erzählungen zu arbeiten.

Ich frage ihn, ob Kunst für ihn etwas an konkrete Kultur oder Politik Gebundenes oder etwas Universelles sei. Es gebe etwas Menschliches, darüber hinaus aber nichts Universelles, antwortet Ali.  Jede Person könne sich zu menschlichen Geschichten in Beziehung setzen. Aber gänzlich universell, das sei Tanz nicht. Dafür habe er zu viel mit der Anwesenheit von Körpern zu tun, mit der Verbindung zum Raum. Und wir lebten nun mal in unterschiedlichen Orten unter unterschiedlichen Bedingungen, politischen Regeln, sozialen Praktiken und Akkumulationen von Erinnerung. Wenn diese also miteinander in einer Performance geteilt werden, sind die Körper und Bewegungen kodiert, sie erzählen Geschichten, die wir nicht alle kennen. Ali beschreibt den Körper als ein Tool, über das Ebenen und Kontexte ausgedrückt werden können.

Während Ali erklärt, mit welchen Schwierigkeiten das Proben in Beirut verbunden war, als die Explosionskatastrophe im Hafen am Tag des Probenbeginns von «The Love Behind My Eyes» geschah, wird mir schmerzhaft bewusst, wieviel meine Idee des Universellen mit meinem Wunsch nach einer Welt ohne Kulturbarrieren zu tun hat: Wir können nicht hinter unser Wissen und unsere Erfahrungen zurücktreten. Wir alle bringen eine Lebenswelt und Zusammenhänge mit, materielle Umstände, durch die und mit denen wir die Welt interpretieren. Sie zu verschweigen wäre ignorant. Wie aber können wir das Verhältnis von Kunst und Realität verstehen, wenn eine allgemeine Sichtweise gar nicht möglich ist?

«Die Aufgabe von Tanz ist nicht, das eigene Land zu repräsentieren, sondern durch Kunst andere Zugänge zu ermöglichen. Ich glaube nicht, dass das Publikum alle Codes und Schlüssel braucht, um die Aufführung für sich zu erschliessen. Sie sind wichtig für uns, um das Stück zu kreieren, aber wenn man sich auf eine andere Art und Weise darauf beziehen kann, und das ist das Schöne, kann jeder seine eigene Konnotation haben und sich damit identifizieren.»

Vielleicht liegt die Schönheit in Alis Werken gerade darin, dass sie sich in beidem bewegen: In einer Identität und in einer Nichtidentität. «The Love Behind my Eyes» zum Beispiel hat einen klaren Bezug zu Legenden aus der arabischen Geschichte, erklärt Ali. Da ist die Liebesgeschichte in der Abbasid-Periode, eine verbotene Geschichte, die sich mit dem Mufti, einer sehr religiösen Figur zu jener Zeit, und einem anderen Mann ereignet. Es geht um ein Gedicht, das er seinem Geliebten geschrieben hat, und um andere Geschichten, die in der Gegenwart passieren. Hier liegt das Spezifische, der kulturelle Referenzrahmen, notiere ich gedanklich. All die Geschichten, erklärt Ali, erzählen ein Ende einer Beziehung. Seine Performance handle nicht von Gender, sondern von Liebe, von einem Ende der Liebe, dem Ende von etwas, dem Verschwinden von etwas. Von der Zeit zwischen dem Verstehen dessen, was passiert, und dem Ende der Beziehung. Wie ein Traum, der noch nicht real ist. Und dann, irgendwann, erkenne man die Aggressivität der Trennung.

Alis Worte hallen in mir nach. Das Land, auf dem ich lebe, ist nicht gestohlen (soweit privatisiertes Land nicht grundsätzlich als gestohlen verstanden werden kann). Familien in meinem Umfeld werden nicht jeden Tag umgebracht, aus ihren Häusern geworfen und voneinander getrennt, wie es nur ein paar Stunden entfernt von Beirut passiert. Und Beirut ist nur einer der etlichen Orte, an dem es Alltag ist, sich endgültig verabschieden zu müssen von Geliebten und Liebenden.

Bevor wir uns verabschieden, verspüre ich den Drang, eine Frage zu stellen, die vielleicht fehl am Platz ist: Ob in Kunst wohl etwas Revolutionäres läge? Doch Ali fängt die Unbedarftheit der Frage wie eine Feder auf. Revolution sei ein grosses Wort, merkt er an, und erzählt von einem Journalisten der ihn nach einer Vorstellung in Beirut angesprochen habe. Die religiösen Menschen seien nicht glücklich mit der Inszenierung, weil sie dächten, dass er viele religiöse Rituale in Frage stelle. Und die nicht-religiösen Menschen seien auch nicht glücklich, weil sie dächten, dass er religiöses Material auf eine sehr künstlerische Art und Weise behandle und damit Religion einen zu grossen Wert beimesse. Das eröffne interessante Fragen, meint Ali. Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: «Für mich ist es wichtig, dass, wenn die Fragen aufkommen, die Menschen keine Antwort haben.»

Das Gespräch wurde am 17. Juni 2022 geführt.