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Der Balken in meinem Auge

Zukunft des Völkerkundemuseums. Interview mit Martin Heller

Martin Heller über Kultur, das Projekt Humboldt-Forum und Multiperspektivität

RUEDI WIDMER: Ist der Begriff Kultur noch tauglich?

MARTIN HELLER: „Kultur“ ist mittlerweile einer dieser typischen Stretch-Begriffe. Wenn man ihn gebraucht, muss man fallweise bestimmen, was man meint: welche Kultur, wo, wann, wozu?

Woher kommt es, dass die Kultur so erkärungsbedürftig geworden ist?

Das kommt vermutlich nicht zuletzt daher, dass sich in der westeuropäischen oder westeuropäisch determinierten Gesellschaft immer mehr Elemente über Kultur definieren. Das heisst, der Begriff erlebt eine Belastung, die er ohne Zusatzaufwand nicht tragen kann. Die Sache der Kultur wird komplexer durch unsere wachsende Aufmerksamkeit für Differenzen und Diversität, und so muss sich auch die Rede von der Kultur ausdifferenzieren. Wenn Milieus und Bewegungen selbst in kleinem und kleinstem Massstab fassbar sind, wenn der eigene Standpunkt als solcher besser sichtbar wird und wenn sich ein Individuum immer mehr durch den frei gewählten Bezug auf verschiedene kulturelle Felder und Positionen definieren kann, so wird das Argumentieren in pauschalen Kategorien schwieriger.

URS ANDREAS WICKLI: Welche Diskurse sind für dich in diesem Zusammenhang besonders wichtig?

Für mich stehen nicht Diskurse oder Autoren, sondern Praxen im Vordergrund. Thematisch haben mich immer diejenigen Debatten um Kultur interessiert, die mit Fragen der Präsentation und Repräsentation verknüpft waren – beispielsweise mit Wirkungsweisen des Populären oder mit dem Verständnis einer Gesellschaft als Publikum.

RUEDI WIDMER: Wie siehst du vor diesem Hintergrund den Zustand der Kulturvermittlung oder auch der Museumslandschaft? Bewegt sich da etwas, und wenn ja was?

Generell hat sich sehr viel bewegt. Gerade in einem Schnittbereich von Kultur und Globalisierung – etwa durch die Auflösung von Standards und Kategorien, durch neue Akteure und Rollenverständnisse, durch die Expansion des Kunstmarktes und durch die Überwindung von Primitivismus- oder Weltkunst-Vorstellungen. Hans Beltings Projekt „Global Contemporary“ war dafür ein Augenöffner. Darin wurde u.a. deutlich, dass ein kuratorisches Individuum unmöglich mehr als zwei, drei Territorien besetzen oder auch nur überblicken kann. Wer allein schon diese Dynamik beobachten oder beschreiben will, muss sich selber permanent bewegen.

Mit Blick auf das Publikum gibt es die Diagnose der Übersättigung – auch: Kulturübersättigung oder Kulturinfarkt. Kannst du damit etwas anfangen?

Formen der Übersättigung erleben wir vermutlich alle. Die Diagnose des Kulturinfarktes hingegen hatte für mich, gerade weil sie von Akteuren des Kultursystems kam, etwas Arrogantes und Besserwisserisches. Überdies habe ich instinktiv Mühe, wenn man Krankheitsbegriffe auf die Kultur anwendet. Natürlich generierte der Begriff Aufmerksamkeit, so wie etwa die aktuelle Publikation „Müde Museen“ von Daniel Tyradellis bereits durch ihren Thesentitel Aufmerksamkeit erzeugt und Diskussionen anstösst. Verallgemeinerung ist jedoch ein schwieriges Geschäft. Bei genauerer Betrachtung ist die Welt um ein Vielfaches komplizierter

Du bist an der Vorbereitung und Konzeption des Humboldt-Forums beteiligt. Wie kam es dazu?

 

Im Herbst 2010, als vieles noch offen und unklar war, wurde ich angefragt, ob ich am Humboldt-Forum Intendant werden möchte. Eine Intendanz zu diesem Zeitpunkt interessierte mich nicht, in einer beratenden und teilweise mitwirkenden Rolle dabei zu sein hingegen schon. Seit Anfang 2011 arbeite ich kontinuierlich mit. Mich interessiert am Projekt, dass es äusserst schräg in der Landschaft steht, dass es eine beträchtliche Grösse hat, und dass es im Kern ein politisches Projekt ist. In einer ersten Phase ging es um die Rolle der so genannten Agora; wir entwickelten daraus Vorstellungen, wie sich die zukünftigen Veranstaltungen im Erdgeschoss in ein Verhältnis produktiver Polarität zu den Sammlungen auf den beiden darüber liegenden Etagen bringen lassen. Ich begann deshalb , zunehmend an den zukünftigen Museumsausstellungen und in Fragen des Betriebskonzepts mitzuarbeiten. Hinzu kam als eine Idee, die ich einbrachte, um die Übergangs- und Entwicklungszeit produktiv zu machen, das Humboldt Lab Dahlem, dessen Programm ich wesentlich mitpräge.

Was für ein Institutionstypus soll hier entstehen? Wenn es kein Völkerkundemuseum mehr sein wird, was dann?

Ein Bild, das der politische Diskurses oft braucht, evoziert einen Dialog „auf Augenhöhe“ zwischen den Weltkulturen. Ein anderer Zugang wäre, zu sagen, dass das Humboldt-Forum als ein Kompetenzzentrum für weltkulturellen Austausch die Museumsinsel – der dieses Element sonst fehlen würde – vervollständigt. Ansonsten finde ich den Namen Humboldt-Forum passend für ein Gebäude, das auf einem Geschoss Veranstaltungen bietet, auf einem zweiten Bibliotheken und ein Schaufenster der Humboldt-Universität, sowie auf den restlichen beiden Stockwerken hochkarätige Museumssammlungen mit Artefakten aus der ganzen Welt. Verbunden damit ist der Anspruch, dass das Forum mit Institutionen und Orten der Wissenschaft vielfältig vernetzt ist.

URS ANDREAS WICKLI: Es gibt einen Text von Vitus Weh mit dem Titel „Die produktive Krise der Völkerkundemuseen“. Befinden sich nun diese in einer produktiven Krise und somit in einem Prozess der Weiterentwicklung, oder gilt für sie die These von den müden Museen?

Es gab in den letzten Jahren immer wieder Ansätze, etwa in Göteborg, Köln oder, prominent, in Paris, den klassischen Auftrag des Völkerkundemuseums in relevanter Weise neu zu definieren. Auch Weltkulturen-Museen wie diejenigen in Basel oder Frankfurt sind durchaus nicht müde – wobei letzteres mehr und pointiert als Labor konzipiert ist. Vorgezeichnete Spuren für die Weiterentwicklung des Völkerkundemuseums gibt es vermutlich nicht. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler sagte kürzlich an einer Veranstaltung etwas Interessantes: Er wisse zwar nicht, wie das Humboldt-Forum konzipiert werden müsse, aber er wisse sehr genau, wann eine Ausstellung funktioniere und gut se

RUEDI WIDMER: Wie steht es mit der Müdigkeit oder Krise bei den Museen in Dahlem?

Da kommt vieles zusammen, das aber wenig mit Konzepten und Inhalten zu tun hat. Dahlem war zu westdeutschen Zeiten ein kulturelles Zentrum und hat diese Rolle durch die politischen Verschiebungen in der Stadtentwicklung verloren. Der Zustand der Gebäude ist nicht gut, und dass nun schon seit mehreren Jahren das Humboldt-Forum im Raum steht, ist für den Standort Dahlem nicht einfach.

Kürzlich erhielten die Museen Besuch von Juan Gaitáns Biennale, und ich hatte als Besucher fast den Eindruck, als wollte die Gegenwartskunst ihre Dynamik herausstreichen, in dem sie den musealen Dornröschenschlaf in Dahlem als Kulisse nutzt.

Ich hatte einen ähnlichen Eindruck. Warum Gaitán nicht mehr auf den Dialog der Kontexte insistiert hat, vermag ich nicht zu sagen.

Zurück zu Köhlers Diktum: Woran wird man sehen, ob es sich bei den ersten Ausstellungen des Humboldt-Forums um gute Ausstellungen handelt?

Der erste Punkt ist Multiperspektivität – es gibt verschiedene Standpunkte, und die müssen zusammenkommen, so etwa im Dialog mit indigenen Communities. Der zweite Punkt heisst Publikum – wir arbeiten für ein Publikum, das wir uns als neugierig und anspruchsvoll, aber in keiner Weise als Fachpublikum vorstellen. Der dritte Punkt meint Gegenwärtigkeit – eine Ausstellung muss ausstrahlen, dass sie mit Gegenwart zu tun hat.

 

Kannst Du noch anschaulicher machen, wie Multiperspektivität in diesem Fall verstanden werden soll?

Im Völkerkundemuseum der Gegenwart hat der Eurozentrismus ausgedient. Es soll mit den Objekten auch ein Stück weit vermittelt werden, wie beispielsweise ein bestimmter Indianerstamm im Amazonasgebiet lebt oder lebte, denkt oder dachte. Multiperspektivität dreht sich darüber hinaus um die Aufarbeitung der Geschichte solcher Sammlungen, um Kolonialgeschichte, um Fragen der Wiedergutmachung oder auch der Teilhabe. Das wird deutlich, wenn beispielsweise der Ältestenrat einer indigenen Universität in Venezuela darüber befindet, ob er mit der Vertreterin des Humboldt-Forums einen Dialog über eine Ausstellung führen will.

 

URS ANDREAS WICKLI: Man sieht auch hier, wie herausfordernd die Rolle der Kuratorin geworden ist. Es gibt dafür mittlerweile auch institutionalisierte Ausbildungen. Nimmst du eine Zunahme der Expertise punkto Ausstellen wahr?

Es ist wie beim Fussball: Die Zahl der Genies ist beschränkt. Hinter guten Ausstellungen stehen Persönlichkeiten mit einer ebenso profilierten wie kooperativen Haltung. Wenn ich jedoch eine Stelle ausschreibe, dann gleichen sich die Bewerbungsschreiben oft wie ein Ei dem anderen. Es ist schwierig, jemanden zu finden, der sich unterscheidet, der etwas will, der etwas erfinden kann – und nicht nur Leute, die wissen, wen man kennen und zitieren muss. Aber Hoffnung und Spürsinn sterben zuletzt.

Das Interview mit Martin Heller wurde von Urs Andreas Wickli und Ruedi Widmer am 3. Juli bei Heller Enterprises in Zürich geführt. Die Zollfreilager-Reihe Der Balken in meinem Auge. Reflexivität als Ressource versammelt Gespräche mit AkteurInnen der Kunst- und Kulturvermittlung.
Das Interview erschien, in aktualisierter Form, auch in Coucou (Augustnummer 2015).