Zu schön, um wahr zu sein
Versuch eines alternativen Werbekonzepts
1907: Ein Watt pro Stunde
Sterne fangen die vom Himmel fallen
Zauberstaub, Wunderlicht, ein Luxusprodukt.
Der weiche, bernsteingelbe Schimmer
Zittert feinnervig nervös.
Arme Leute schaufeln Kohlebrocken zusammen
Und die schwarzen Brüder kriechen ins Ofenrohr
Sollen uns Wärme und Glück bringen
Bald kommt die Kohleknappheit.
Bis zum 1. Weltkrieg braucht es noch viel Strom
1913 wird der erste Zug der Schweiz elektrifiziert
Ein Kartell in Genf plant die Lebenszeitverkürzung
Für Glühbirnen – die Älteste ist schon 123 Jahre alt
Und brennt immer noch in Livermore, Kalifornien
In der Feuerwache über den Löschfahrzeugen.
Sie werden eines Tages losfahren um das Licht zu löschen
Wenn der bernsteingelbe Schimmer, wie ein Stern, explodiert.
1935: Schöne Schweizer Strassen
Wirtschaftswachstum dank Schnellstrassen
Ein Kunstwerk aus Kopfsteinpflaster
In Handarbeit bearbeitet dank Arbeitsbeschaffung
Gefallene Mädchen und Verwahrte arbeiten gratis.
Eine Industriellenfamilie im Automobil
Macht eine Vergnügungsfahrt ins Blaue,
Und das Künstlerinnenpaar im Ford Deluxe
Ist auf dem Weg nach Afghanistan.
Dann ein Regierungsbeamter mit Chauffeur am Steuer.
Vorsprung durch Technik, es wird ungeheuer.
Bald ist Krieg und die Schweizer Strassen bleiben intakt
Im Sommer rollen Autorallies über Alpenpässe.
Diese Strasse wartet auf ihre Zukunft,
Sie wird wachsen: länger, breiter, schneller, teurer.
Die Motoren schnurren immer feiner,
Der Berg das Spielzeug und die Dörfer immer kleiner.
1944: Migros, direkter Import
Ein Frachter steuert über den Atlantik,
Von Kriegsschiffen begleitet, von U-Booten beobachtet,
Hafeneinfahrt in Antwerpen, das Kaffeeschiff lotst ins Land
Auf dem Fluss und mitten durch die Fronten:
Links des Rheins springen Soldaten vom Himmel
Für die Schlacht um die Normandie
Rechts des Rheins fahren sie mit Panzern
Durch ein Blutbad im Schützengraben.
Das Schiff passiert alle Schleusen und Sperrzonen
Fährt bis zum Rheinhafen, wo die Schweizer wohnen.
Die Brücken verbarrikadiert und mit Sprengladung versehen,
In der Nacht suchen Flüchtlinge die Grüne Grenze bei Basel,
Irren mit ihrem Rasierklingen-Kompass durch die Wildnis,
Pirschen vorbei an Hundepatroullien und Stacheldrahtverhau.
Am Tag wird das schwarze Gold geröstet, raffiniert und gehandelt
Gefasste Flüchtlinge den deutschen Zollbeamten ausgehändigt.
1957: Pflanzenschutz
Würmer, Maden, Engerlinge
Sind füllevoll und guter Dinge
Im schwarzen warmen Erdenreich
Gebettet für den Winter madenbleich
Schlüpfen sie im Sommer freudig aus
Als Flügelfalter für den Planzenschmaus
Zur Freude der Vögel die sich daran laben
Dazu singen, Nester bauen und Eier brüten
Der Bauer mag nicht teilen mit den Tieren
Sprengt die Felder voll mit Karzinogenen:
Chemikalien die Nerven lähmen
Und Chromosomen in die Irre führen
Er will Monokulturen ohne Fliegenscheiss
Für DDT bekommt er den Nobelpreis
DDT im Emmentaler! Den darf man nicht mehr exportieren
Es könnte schaden und die Menschen sterilisieren
Fliegen, Schnecken, Malariamücken werden resistent
Vogeleier zerbrechen, der Frühling verstummt.
1970: Mit Vollgas in die 70er
Technisches Wunderwerk
Zwei Tonnen Kolonialrohstoff:
Die Karosserie aus Aluminiumerz
In Guinea geschürft im Dschungelherz
Erdöl und Schmiermittel aus Russland
Eisenerz für Stahlbleche aus der Ukraine
Für die Akkus Lithium aus Chile und Australien
Für Autoreifen gezapfter Kautschuk aus Bäumen
Fürs Display Silber aus Mexiko und Gold aus Kanada
Für die Kabel Kupfererze aus Südafrika
Für die Batterien Kobalt aus dem kaputten Kongo
Der Gewinn geht bei Ausbeutern aufs Konto.
Es kann schon sprechen, bald ist es fliegend
Die Vibration des Motors wirkt stimulierend
Endlich Rasen mit Vollgas und Frau auf der Haube
Bohrt sich das Rad durch 4000 Jahre wie eine Schraube.
1980: Land- und Milchwirtschaf
Es schön geformts Üter, samtig und a Güeti übergattig
Mit Milchaadere an der Unterseite vom Büüch.
Dadrin die vier Magen des geduldigen Wiederkäuers:
Der Fässbidil, der Pfeischtersack, der Läsi und der Reidi
Die verdauen am liebsten frisches Gras und würzigi Chrüüter.
Anno 1980 gabs in Grossbritannien meh Chüe als Gras
Und so gab der Mönsch den Chüeli Kadaver und Knochenmehl zum fressen,
Ou anderi Buure händ die Art vo Füeterig
Als choschtegünschtig befunde, zmal die Chüeli vor Hunger
All de Abfall vom Schlachte und Keule hän verschlunge.
Bis die Fehkörper und Hirni chrank si worde,
Usem Gfräss und dr Nasulecher dr Schum isch cho,
Die volle Öügg usem Schädel si quolle
Und de Fehchörper nüme het chöne stah uf sine vier Bei.
2010: Skiferien
Ein weisses Tischset als Skipiste
Der Tag eher trüb bewölkt und ohne Sonnenstrahl
Kein Glitzern im billigen Schneekristall.
Bunte Skiausrüstung aus Polyester
Mit Klettverschluss und Daumenloch
Was sonst noch aus der Plastikhülle kroch:
Bergluft, gebratenes Milchfett, Raclette
Herzhaft gsellig zum schmelzen und schaben,
Die schwitzende Hülle im Abfallsack entsorgen.
Wir haben Sportferien morgen
Und fahren Ski auf einem Käseberg
Gletscher und Schnee verdampfen im Wettbewerb.
2023: Für einen schlanken Staat
Eine Galaxie mit 2,7 Millionen Produkten
vollautomatisch gelagert, gesammelt und verzollt.
Grössenwahn, von der Pandemie beflügelt
In kosmischer Expansion.
Gefrässiger Kunde, wo willst du hin mit all den Sachen?
Spitzenreiter bei Siedlungsabfällen weltweit!
Dein Fussabdruck wiegt 17 Tonnen und jedes Jahr mehr
Der Abfallberg pro Kopf ist 700 Kilo schwer.
National- und Ständeratswahlen 2023 finale Runde
Bald ist auch die Demokratie ein Automat
Der letzte Beamte verpackt 205 Artikel pro Stunde
Beäugt vom Ampelsystem, für einen schlanken Staat.
2023: Züri trännt
Preise scannen
Zahlen nennen
Farbe bekennen
Abfall trennen
Qualität erkennen
Sieger ernennen
Im Heroin schwimmen
Leichen verbrennen
Schuldige benennen
Tränengase brennen
Niemals flennen
Neu beginnen:
Preise scannen …
Bildnachweis:
Abbildung 1:
Kunstbibliothek der Staatlichen Museen
Abbildung 2:
Museum für Gestaltung Zürich
Abbildung 3:
Mit freundlicher Genehmigung des Migros-Genossenschafts-Bundes. Alle Rechte vorbehalten.
Abbildung 4:
Museum für Gestaltung Zürich
Abbildung 5:
www.tackerfilm.d
Abbildung 6:
Olma-Messen.ch, St. Gallen
Abbildung 7:
Mit freundlicher Genehmigung des Migros-Genossenschafts-Bundes. Alle Rechte vorbehalten.
Abbildung 8:
Copyright «Digitec Galaxus AG»
Abbildung 9:
Stadt Zürich, Entsorgung + Recycling Zürich
Spezialausgabe
Legenden
Dominique Lieb ist freischaffende Autorin und Illustratorin mit einem CAS Schreiben in Kunst und Kultur