Zombies der Nationalkunst
Die Kulturschutzdebatte ist auch eine Kulturmigrationsdebatte.
Noch immer wallt der Pulverdampf über das Schlachtfeld. Als die Pläne zur Verschärfung des Kulturgutschutzgesetzes bekannt wurden, ließen ihre Gegner unverzüglich schwerste Geschütze an der Erregungsfront auffahren. Aus allen Rohren feuerten sie auf die noch unbefestigten Stellungen der Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters. Ende des freien Handels! Kalte Enteignung der Sammler! Martialische Einzelkämpfer wie Georg Baselitz stürzten sich kopfüber ins Gefecht, nun sichern in der zweiten Kolonne gewiefte Strategen wie der Sammler Hasso Plattner die Flanken.
Doch worüber wird da im Kern eigentlich gestritten? So überlaut waren die Drohungen und Wehklagen, dass eine Debatte über die wichtigsten Fragen bislang ausblieb. Was soll das eigentlich sein: »Kulturschutz«? Was ist unter »national wertvoll« zu verstehen? Und warum soll für diese Nationalgüter künftig viel strenger geprüft werden, ob sie außer Landes verkauft werden dürfen?
Herkömmlichen Lesarten zufolge entstand Kultur, um Menschen vor der Grausamkeit der Natur zu schützen. Architektur, um unabhängig zu werden von den klimatischen Verhältnissen. Bilder, um symbolische Herrschaft über Dinge und Lebewesen zu erlangen. Kunst, um eine ästhetische Pufferzone zwischen unerbittlicher Natur und unerbittlichen Gesetzen zu schaffen. Mittlerweile sind es aber paradoxerweise wir, die die Kultur schützen. Wovor? Vor nichts Geringerem als uns selbst, besser gesagt: vor unserer selbstgemachten, erneut grausamen Natur 2.0 – dem Markt.
So zumindest argumentiert man im Ministerium: man müsse sich gegen die Marktkräfte wappnen. Schon Nietzsche erkannte, »dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird«. Offenbar ist der Markt für die Kultur nun das, was einst die Natur für uns war, und Kulturschutz mithin die Fortsetzung des Naturschutzes in postnaturalen Zeiten. Kultur darf sich damit gleicher Augenhöhe mit seltenen Molcharten und moribunden Singvögeln erfreuen.
Naturschutz und Kulturschutz kommen meist dann ins Spiel, wenn Natur und Kultur in ihren palliativen Zustand eingetreten sind. Die Tatsache, dass sich Staaten genötigt sehen, Artefakte auf Listen bedrohter Arten zu setzen, heißt im Klartext, dass sich niemand sonst für ihren Schutz zuständig fühlt. Gelebte Kultur ist verankert im Sozialen. Untote Kultur muss durch Paragraphenpfählung arretiert werden. Man stelle sich, ein wenig idealisierend, eine tiefreligiöse Gemeinde vor. Diese würde ihre wundertätige Marienfigur wohl mit Leib und Leben vor der Freisetzung auf den ketzerischen Märkten bewahren. Wer aber würde dieses oder jenes Werk Georg Baselitzens mit Leib und Leben verteidigen? Wer würde sich schützend vor einen Gerhard Richter werfen, wenn kapitalistische Häscher anrücken?
Was an Kunst und Kultur in den Museen lagert hat meist keine größere Bedeutung, jedenfalls nicht für jene, die angeblich Träger der »nationalen« Kultur sind, sprich, das deutsche Volk (was immer das sein soll). Umgekehrt kann dessen Gleichgültigkeit oder Missgunst gegenüber Kunst und Kultur sogar ein Hinweis auf ihre Wichtigkeit sein. In der »Multioptionsgesellschaft« (Peter Gross) sind Kollektivsingulare wie »national wertvoll« oder, wie es im Gesetz so ulkig heißt, »gemeindeutsches Interesse« jedenfalls gerade mit Blick auf Kunst und Kultur reine Schimären. Das ist gut so – wo es keinen komfortablen Kanon gibt, muss man Übereinkunft erarbeiten, muss man irgendwie begründen können, warum es neben Helene Fischer vielleicht doch noch eine Schutzmantelmadonna von Holbein braucht.
Ein glaubwürdiges Gesetz müsste somit nicht das gemeindeutsche Interesse an der Kultur schützen, sondern eher die Kultur vor dem Gemeindeutschen. Oder anders herum gedacht: Wo sich das einst auf dem Turnplatz Friedrich Ludwig Jahns mühevoll zusammengeschweißte Gemeindeutsche dann doch noch in aller Pracht und Einigkeit versammelt, das ist beim schönen Spiel Fußball. Wer es ernst meint mit dem nationalen Kulturschutz, der setze Günter Netzer oder Franz Beckenbauer auf die Liste. Alsgleich müsste verfügt werden, dass diese – immerhin handelt es sich um Unikate! – das Land nurmehr unter strengsten Auflagen verlassen dürfen. Selbiges müsste für die Popgruppe Rammstein gelten, den erfolgreichsten deutschen Kulturexport seit Goethe. Was wäre, wenn sich Sänger Till Lindemann, sagen wir: im kühlen Stockholm – Ausland! – beim Rollen des Teutonen-Rrrrrs einen irreparablen Stimmbandschaden zuzöge? Nicht auszudenken fürs Gemeindeutsche! Auch dieses Lebendexponat müsste zum Wohle des Vaterlandes im selbigen verwahrt werden. Denn dass sich nicht nur aus sinfonischen Dichtungen und synthetischen Urteilen a priori Sinn destillieren lässt, sondern auch aus Ballspielen und Schockrock, belegen Myriaden neologismengesättigter Publikationen kulturwissenschaftlicher Provenienz.
Wo wir bei Neologismen sind: Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass gerade jetzt, wo allerorten von »Supranationalität«, »Transkulturalität«, »shared heritage« oder »digital natives« die Rede ist, der Zombie des nationalen Kulturgutes durch den Paragraphendschungel stakst und die Modermuskeln spielen lässt. Schon 1983 konstatierte der Politologe Benedict Anderson, Nationen seien »imaginierte Gemeinschaften«. Weil man einander nicht kennt, aber durch ein obskures Geburtsdiktat aneinandergeflanscht worden ist, krallt man sich an symbolische Identifikationsfetische. In der globalisierten Welt ist das nicht anders. Sie erweitert die imaginäre Gemeinschaft, folgt man dem Ethnologen Arjun Appadurai, sogar hin zu »imaginierten Welten«. Doch gerade für derlei Imaginationsgebilde braucht es mitnichten auratische Originale, die in nationalen Schatzkästchen verwahrt werden. Im Gegenteil!
Die Nationalisierung vollzog sich ausgerechnet über massenhaft verbreitete Druckerzeugnisse, die jüngere Globalisierung über noch effektivere elektronische Medien. Gerade das Reproduzierte und Mediatisierte eignen sich somit bestens für imaginierte Unionen. Die Gesetzgeber können sich beruhigt zurücklehnen: Je weiter entfernt die Humboldt-Tagebücher sind, desto besser für die Nation. Ein paar mal kopieren und ab damit nach Alaska!
Kurioserweise spielt das Verhältnis von Original und Reproduktion in der Kulturschutzdebatte kaum eine Rolle. Dabei gäbe es genügend Anknüpfungspunkte. So verteidigen avancierte Denkerinnen und Denker derzeit die Reproduktion gegen den Kult des Originals. Reproduktionen, folgt man etwa Wolfgang Ullrich in Raffinierte Kunst: Übung vor Reproduktionen (2009), können zur Veredelung eines Originals beitragen, seinen Komplexitätsgrad steigern oder dieses überhaupt erst zu einem Gegenstand von Relevanz und Interesse machen. In der Kulturschutzdebatte indes dreht sich alles um Originale und damit eben doch um die Marktkategorie Nummer eins.
Spätestens seit Platons Ideenlehre wird dem Original, gleichsam als dem Vorhof von Idee und Geist, der höchste Wert zugesprochen, was sich noch heute in Auktionspreisen niederschlägt. So wurde der esoterische Kunstverächter Platon ungewollt zum Garanten der Preisbildungspolitik des Kunstmarkts. Weil Kulturschutzgesetze die dem Kunstmarkt und dem Kulturguthandel zugrunde liegende Auratisierung einzelner, seltener, vom Schöpferodem durchwehter oder vom Weltgeist geadelter Artefakte zementieren, spielen sie letztlich doch denjenigen Kräften in die Hände, welche sie zu bannen vorgeben.
Der Artikel erschien erstmals in der ZEIT vom 13. August 2015.
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Gastspiel im Gastspiel
Jörg Scheller, *1979, ist Kunstwissenschaftler, Publizist, Musiker und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.