Zehn Sekunden und vierhundert-fünfundzwanzig Meter
Nachdenken über das Ende des Lebens im Tal am Ende der Welt.
In der Höhe liegen die Gipfel erodierender Felsmassen. Ich nenne sie: Berge. Sie scheinen sich nicht zu bewegen, bewegen bloss alles in mir. Wenn ich mich den Bergen nähere, knistern meine Zellen laut und die Flüssigkeiten, in denen sie schwimmen, als wären sie mit Kohlensäure versetzt. Die Berge ziehen mich an. Es ist Sehnsucht.
Ich bin in einer Sackgasse gross geworden. Sie heisst Lauterbrunnental und markiert das kleine Ende der Welt. Die Gemeinde setzt sich aus sechs kleinen Dörfern zusammen, die alle am liebsten nichts miteinander zu tun hätten. Leider tragen viele der in ihnen lebenden Familien die gleichen Nachnamen. Wir hätten da im Angebot: Von Allmen, Bischoff, Feuz, Graf, Brunner, Kammer, Lauener, Rubin, Schlunegger oder Gertsch. Vom Wallis her kamen sie einst, über den Sattel neben dem breiten Gipfel am Ende des Tals. Die Einheimischen selbst sind also der Beweis dafür, dass es das Ende der Welt nicht gibt, sie haben es bloss vergessen.
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Das Lauterbrunnental zwingt mich, dauernd in den Himmel zu spähen. Blicke streichen über Geranien, über die Silhouetten der Felswände, über die Gletscher, die ins Blaue fletschen. Seit Abertausenden von Jahren stehen die senkrechten Felswände dem Talboden Spalier. Ich kenne die Sonnenplätze und Schattenlöcher in ihnen. Die Wände sehen aus, als seien sie aus dem Boden geschossen, um der Sonne näher zu sein. Aber sie bleiben kalt und frisch und schmecken nach Salz. Aus ihnen spriessen Bäche, erbrechen sich förmlich über die Dörfer. Lauter Brunnen, lauter Wasser, die zu lauter grünen fruchtbaren Wiesen und Blumenköpfen wachsen. Die Gottheiten haben hier versehentlich zu viel Paradies verschüttet.
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Das Tal ist die Antithese der aufregenden Jugend, die ich mir gewünscht hätte. Ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene. Sie steigen unerbittlich, erklimmen, trampeln, kurz vor der absoluten Erschöpfung, hinterlassen Spuren auf Wiesen, Kies und im Schnee, um dann oben anzukommen auf dem Gipfel.
Und oben ist dann: nichts.
Berge sind ein Zufall zwischen Erdplatten, wachsen Jahr für Jahr, bewegen sich eben doch, ganz unbemerkt, während die Erwachsenen schrumpfen.
Und die Gipfel sind nutzlos.
Klar, oben sieht es schön aus. Glitzernde Schneehänge, wo das Eis noch ewig scheint. Und da ist Aussicht. Aussicht auf die Täler, Aussicht auf den Fortschritt. In den Tälern schreibt das Leben neue Kapitel, aus den Tälern wird geschöpft. In der Höhe wird nichts hergestellt, in der Höhe geht nichts weiter, in der Höhe werden wir bloss krank. Aus der Höhe geht fallen besonders gut. Falls wir nicht in die Tiefe stürzen, zerfallen wir, lösen uns auf. Zelle für Zelle wird abgebaut.
Bloss die 2000-Meter-Marke müssen wir knacken. Mit jedem aufgestiegenen Meter sinken der Luftdruck und Sauerstoffgehalt der Luft, die wir atmen. Die Lunge läuft auf Hochtouren, nimmt weniger werdenden Sauerstoff auf, den sie ins Blut zu pumpen versucht. Sauerstoffmangel. Dann erste Anpassungsreaktionen: Herz und Atemfrequenz steigen. Zu wenig Sauerstoff im Blut führt zur Höhenkrankheit, zur Bergkrankheit. Pupillen werden zu Murmeln, die Berge wirken wie synthetische Drogen. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, Schlafstörungen. Die totale Überforderung des Systems. Hände und Füsse schwellen an. In den Lungen und den Gehirnen von Bergkranken, die weiter aufsteigen, sammelt sich Gewebeflüssigkeit. Führt zu Einschränkung in der Bewegungskoordination, Verwirrtheitszuständen, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma. Bis hin zum Tod. Tod durch Ersticken in der frischen Bergluft. Tod in den Bergen. Der Tod lauert in den Bergen hinter jedem Kieselstein. Die Gletscher sind chlorgebleicht und die eigene Endlichkeit ist keine Redewendung mehr.
Wir hatten Sporttag im hinteren Talkessel. Dort, wo die Sonne den Talboden erst gegen Mittag streift. Wenn überhaupt. Dort, wo sich die Kälte eingefressen hat. «Schattengewächse», sagen wir den Menschen, die dort leben im Stechelberg. Ich fuhr mit dem Fahrrad einen Teil eines Triathlons, als ich es hörte. Das Geräusch des aufprallenden Körpers. Wenn 80 Kilo mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h im Tal aufprallen, dann tönt es. Tönt es laut. Da erzittern der Boden, die Felswände und die Saublumenköpfe. Ein kleines Erdbeben. Und ich trat mit geschlossenen Augen die Pedale, um nichts zu sehen, weil ich unmöglich vergessen kann. Aber ein Geräusch reicht, um den Tod eines unbekannten Menschen nicht mehr aus dem Gehirn schütteln zu können. Seither sehe ich, wenn ich aus dem Tal zu den Gipfeln hochblicke, aus den Augenwinkeln Körper auf mich zufallen.
Aus der Höhe geht fallen besonders gut. Zehn Sekunden freier Fall, zehn Sekunden ehrliche Ausgesetztheit. Ich ziehe mir Film nach Film nach Film über Basejumper*innen auf Youtube rein, während die Schatten der Felsen, die mich umgeben, auf mir ruhen. Um zu verstehen, wieso Menschen springen, gehe ich hoch. Ich gehöre neu auch zu den Erwachsenen. Ich steige, unerbittlich, erklimme, trample, hinterlasse meine Spuren auf Wiesen, im Kies und im Schnee. Der Weg zu dem Stein, von dem es sich relativ sicher fallen lässt, liegt gut versteckt, das Dorf Wengen hat man weit hinter sich gelassen. Man nennt diese Orte «Exit Point», dieser hinter dem Dorf trägt den Namen «Yellow Ocean». 425 Meter bis zum Talboden. Der Abgrund tut sich erst beim Näherkommen auf. Vorher ist er schlichte Aussicht, eine Erinnerung, ein mittelmässiges Postkartenmotiv. Wenn ein*e Basejumper*in abspringt, bleibt an der Absprungkante die Zeit stehen. Und ich, daneben stehend, vergesse kurz, dass ich atmen kann. Bis das Zurren des Fallschirms sich ins Bewusstsein drängt. Ein Ruck und der Körper der Basejumper*in gleitet, sanft geworden, zum Talboden.
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Die Frage, wieso sich Menschen das Springen zutrauen, hängt in den Wänden unter mir. Klebt sich fest an den Springenden, legt sich auf die Menschen im Tal. Sie hängt da und ist ein einziges Missverständnis zwischen uns allen. Inneres Kopfschütteln meinerseits, weil ich kaum verstehen kann, wie die Jumper*innen nichts Besseres zu tun haben, als sich durch den Fall merkwürdig innerlich abzulenken vor den nicht abebbenden Geschehnissen, die sich um uns herum klotzen. Diese allein sind für mich Grund genug, mich wie ein brüchiger Papierflieger zu fühlen. Immer kurz vor dem Absturz.
Während ich, vorsichtig nur, mit gerecktem Nacken, um keinen Schritt weiter zu müssen, die Tiefe observiere, pocht auch Bewunderung gegen meine Herzkranzgefässe. Die Jumper*innen zerren das Leben mit an die Absprungkante. Schleppen das Leben mit sich hoch und mit sich rum, zu den Gipfeln, durch Nordwände oder in Gletscherspalten. Ich und mein Leben hingegen schleichen nur zeitgleich nebeneinander her, selten treffen wir uns zufällig, nie an unseren Grenzen, immer irgendwie belanglos an roten Ampeln. Die Grenzen heben wir uns für morgen auf, für später, die Grenzen heben wir uns auf für die Momente, an denen wir keine Wahl mehr haben werden. All diese Fälle habe ich in Gedanken für mich durchexistiert. Die Menschen aus den Basejumperfilmen sind rau und lustig und frei und sagen eingeübte Sätze, um ihren diagnostizierten Leichtsinn dem Volk zu erklären. Sie glauben an das Unmögliche. Ich glaube an Steuererklärungsdeadlines und daran, dass die Berge bedrohlich sind. Von weitem wirkt der Fall von einem Felsen wie ein kontrollierter Selbstmordversuch, dabei ist er eigentlich das Gegenteil. Ein kontrollierter Überlebensplan. Überleben macht high. Überleben dieser Art macht süchtig. Es ist die Sucht nach dem in die Höhe schiessendem Blutdruck, Adrenalin und Endorphin. Und die Sucht nach dem Gefühl, das Unmögliche im Griff zu haben.
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Vielleicht überwindet man mit dem Leben am Limit die Angst vor dem Tod. Bodenlose Erinnerungen an meine zwei Minuten Philosophie-Schwerpunkt am Gymnasium, wo ich gleichzeitig alles und nichts verstanden habe. Da schwebt, neben Gottesbeweisen und alten Männern, Halbwissen an meinem Gehirn vorbei. Vorbei schiesst auch der Tod, Ich bin ihm begegnet, wir kennen uns, grüssen uns auf sichere Distanz. Er hat mir früh meinen Vater genommen. Da teilten wir uns den gleichen Raum für kurze Zeit. Ich habe keine Angst vor ihm, glaube ich zumindest. Er sieht nicht aus wie der Sensenmann. Er ist ein Luftstoss. Ich kenne die Farbe von Haut nach dem Tod, ich weiss wie es aussieht, wenn der Tod sich in Körper schleicht. Ich habe keine Unfälle gesehen, die im Tod geendet haben, zum Glück. Aber ich weiss, wie es tönt, wenn ein Körper aufschlägt. Ich weiss, dass andere Eltern sterben in den Bergen. Bei Unfällen in der Höhe. Ich weiss, dass Menschen verschwinden im Eis. Das ist irgendwie normal, jedenfalls für alle, die Lauterbrunnen von innen kennen. Seltsam abgestumpft sind wir. Wir kennen ihn eben, den Tod. Wir kennen die heimlichen Löcher, die er im Alltag von Angehörigen hinterlässt.
Der Tod nach einem Fall von einem Felsen kann man mir erklären. Er ist einfach und endgültig. Er ist logisch. Ich kaufe den Springenden ihre Freiheit ab. Sogar bei den im Tod endenden Sprüngen. Es ist eine eiskalte Übernahme der Verantwortung für den eigenen Körper, das eigene Gehirn, mit allen Konsequenzen. Bestimmt fühlt sich das gut an. Aber ich glaube auch, dass die meisten von ihnen nie vor einem Abgrund gestanden haben, den sie sich nicht selber ausgesucht haben. Einen den ihnen durch ihr Leben zugeteilt wurde. Und wenn schon, dann flüchten sie vor ihm, weil die Felsen des Lauterbrunnental der einfachste Abgrund der Welt sind. Der Fall ist schnell genug, um jeglichen Ballast, jede Sorge und jede Erinnerung an Schwere oben in den Zweigen der Weisstannen verheddert zu lassen. Es ist, als würden sie nur schnell an der Tischdecke ziehen, dass alles so bleibt wie es ist. Und sie werden bleiben. Die Tannen und das Geröll. Ein Relief von oben, es sieht ganz hübsch aus, scheint von weitem fast bezwingbar. Als wären die Berge ein Mustang, den man zähmen kann. Menschen in ihnen, die klettern und stürzen und fallen. Aber vor allem suchen sie, die Menschen, nach Erfüllung in den Felsen. Die Berge machen uns nach kurzer Zeit süchtig. Es ist das Bergfieber mit seinen vielen Gesichtern. Und wir fallen auf sie herein und von ihnen herunter. Vielleicht bleiben die Berge nur deshalb für immer, weil ab und zu ein Mensch sich selbst als Opfergabe in ihren Schoss begibt. Es heimlicher Pakt. Ich vergesse meine Sorgen in den Gipfeln und dafür fressen sie mich langsam auf.
Alle Malereien der Serie „vonoben“ von Janica Irina Madjar sind begleitend zum Text entstanden.
Spezialausgabe
fallen
Janica Irina Madjar ist Studentin des Master Kulturpublizistik (*1997) an der ZHdK, ist freischaffende Künstlerin, lebt, schreibt und arbeitet in Bern und widmet sich hauptsächlich der Malerei und der Sprache.