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Philipp Spillmann

World Press Photo Ethik. Oder: Kontraste sind erlaubt

Ein fahler Nachthimmel hängt über den schwarzen Baumkronen. Auf der rechten Seite des Bildes erhebt sich die Silhouette eines Eisengerüsts. In der Mitte steht ein geparkter Kleinwagen. Die Scheinwerfer strahlen einen grellen Kreis ins Geäst, der den Wagen unheilvoll umrahmt. Der Motor des Autos scheint noch an zu sein, hinter der angelaufenen Rückscheibe umklammern sich zwei schwitzende Körper. „The Dark Heart of Europe“ nennt der italienische Fotograf Giovanni Troilo die Gegend, in der sich die Szene abspielt. Mit dem Foto gewann er den World Press Photo Award 2015, der ihm allerdings nur einen knappen Monat nach der Verleihung wieder aberkannt wurde. Zuerst stellte sich heraus, dass nicht alle Aufnahmen tatsächlich in Charleroi, der „Ville Noire“, wie Troilo die belgische Industriestadt betitelt, entstanden sind. Dann konnte nachgewiesen werden, dass der Innenraum des Autos mit einem kabellosen Blitzgerät beleuchtet worden war. Schliesslich, dass es sich beim nackten Mann auf dem Bild um den Cousin des Fotografen handelt. Obwohl Troilo in der Bildbeschreibung angegeben hatte, dass er diesen abgelichtet hatte, musste er den Preis zurückgeben. Die Geschichte, die das Bild zu schildern schien, entsprach nicht mehr derjenigen, die (noch) geglaubt werden konnte.

Zwei Jahre zuvor stand ein anderes Siegerbild von World Press Photo auf der Waage. Eine Fotografie des Schweden Paul Hansen, die einen Trauerzug für zwei im Gaza-Streifen getötete Kinder zeigt. Mehrere Tage lang wurde sie analysiert. Anlass waren Unstimmigkeiten der Lichtsituation. Bekannte Fotografen und Datenforensiker behaupteten, dass es sich nicht um ein Bild, sondern eine Komposition aus mehreren handelte. Hansen erklärte, er habe mehrere Bildebenen übereinander gelegt. Die Gutachter beurteilten das Foto nicht als Fälschung. Zwar konnten drastische Veränderungen von Farben und Farbtönen nachgewiesen werden, es waren allerdings nur Daten genutzt worden, die im Originalbild gespeichert waren. Hansen konnte seinen Preis behalten.

Die Grenze, die hier gezogen wird, wirkt auf den ersten Blick plausibel. Auf der einen Seite stehen Hansens Veränderungen an der Aufnahme, die als ok befunden wird. Auf der anderen Troilos gestellte Aufnahmesituation; oder das Komponieren von einem Bild aus mehreren bei Hansen (obwohl das nicht nachgewiesen werden konnte); oder das Wegretuschieren eines Schuhs aus dem Bild des ukrainischen Fotografen Stepan Rudik (World Press Photo 2010, der Preis wurde aberkannt) – all dies wird als nicht ok befunden, denn die Preisgewinner vergingen sich durch ihre Manipulation am Glauben des Betrachters, dass etwas genau so, und unbeeinflusst vom Fotografen, vor dessen Linse stattgefunden habe. Anders gesagt: Sie manipulierten den Inhalt, nicht die Form. Die World Press Photo Foundation schreibt in ihrem Reglement: „Der Inhalt eines Bildes darf nicht verändert werden. Nur Retuschen, die mit den gegenwärtigen branchenüblichen Standards vereinbar sind, sind erlaubt. Die Jury ist die richtende Instanz gegenüber diesen Standards […].“

Und hier beginnen die Probleme. Es stellt sich nämlich die Frage, was unter „Bildinhalt“ verstanden werden soll. Das ist keinesfalls so offensichtlich, wie World Press Photo suggeriert. Troilo zum Beispiel hat den Bildinhalt streng genommen gar nicht verändert. Er hat die Szene, die auf dem Bild zu sehen ist, gestellt. Und falsche Angaben zum Inhalt gemacht. Aber das geschossene Bild hat er inhaltlich nicht angerührt. Trotzdem ist es wie jedes gestellte Bild eine Fälschung. Und zwar deshalb, weil das, was vor der Linse stattfand, manipuliert wurde. Aber zur Fälschung wird das Bild erst dann, wenn diese Veränderungen verschwiegen werden.

Wenn inhaltliche Veränderungen erreicht werden können, ohne den „Bildinhalt“ zu verändern, zeigt das, wie prekär und unscharf die Sprachverwendung von World Press Photo ist. Aber das ist noch nicht alles. Bei der Wahl der Einstellungen, die bei einer Aufnahme involviert sind, handelt es sich um gestalterische Entscheidungen, mit welchen der Fotograf das Vorgefundene interpretiert. Diese Interpretation wird bei der Nachbearbeitung weitergeführt. World Press Photo scheint davon auszugehen, dass sich ein Fotograf, der weder das Fotografierte als solches noch die Rohdaten als solche verändert, sondern „nur“ die Wahrnehmung via Einstellungen der Kamera und der digitalen Bearbeitung steuert, grundsätzlich nicht der Manipulation des „Inhaltes“ schuldig macht.

Was es heissen kann, diese Bedingungen zu erfüllen, zeigt eine Fotostrecke, die der Spiegel 2013 im Zusammenhang mit Hansens Fall veröffentlicht hat. Sie beinhaltet einige World Press Photo-Siegerbilder zusammen mit ihren Rohdateien. Auch wenn die Auswahl nicht als repräsentativ für den gesamten Wettbewerb betrachtet werden kann, zeigt sie, welche Möglichkeiten sich bieten: Veränderungen an Lichtern, Schärfen, Farbwerten und an der Körnung erzeugen dramatische Effekte. Es gibt Schatten, wo es vorher keine gab, kräftige Kontraste, wo anfangs magere Farben zu sehen waren, und Konturen, die so scharf sind, dass sie das Foto förmlich durchschneiden. All dies scheint aus Sicht der Jury legitim zu sein, indem diese Formen der Dramatisierung formaler, aber nicht inhaltlicher Natur sind, und indem sie die „Fakten“ als solche unberührt lassen.

Tatsächlich hat ein grösserer oder kleinerer Kontrast mit einem durch die Kamera vermittelten Fakt zunächst nichts zu tun. Aber durch den Respekt vor Fakten ist keineswegs gewährleistet, dass keine falschen Aussagen gemacht oder Behauptungen aufgestellt werden. Ein Foto, dass von einer luftverschmutzten Grossstadt handelt, macht verschiedene Aussagen über diese Luftverschmutzung, wenn der Himmel azurblau oder wenn er rostbraun ist. Und ein Foto, das einen Boxer nach dem Kampf zeigt, erzählt von einem ganz anderen Kampf, wenn die Narben entweder blutrot oder sanftrosa, die Stirnfalten entweder stechend scharf oder weich, die Augenhöhlen entweder dunkelviolett oder hell schattiert sind.

Was sich mit Farben, Lichtern, Kontrasten oder Schärfen ändert, sind nicht die Gegenstände des Bildes, sondern die Geschichte, die vom Bild über diese Gegenstände erzählt wird. Nicht die Fakten ändern sich, sondern die Art und Weise, wie diese Fakten im Kontext der Darstellung ihren Platz erhalten. Hätte Rudik sein Foto so geschossen, dass aus dem Schuh einfach ein heller Fleck (in einem ohnehin sehr verschwommenen Hintergrund) geworden wäre, hätte er ihn gar nicht erst wegretuschieren müssen. Er hätte ihn einfach nachträglich abdunkeln können, so wie das Hansen bei seinem Siegerbild an einigen Stellen gemacht hat. Auf einen Text übertragen hiesse die Behauptung, Farben etc. leisten keinen inhaltlichen Beitrag, zu erklären, dass die sprachlichen Wertungen zu Fakten, Begriffen und Sätzen nicht dazu beitragen, die Geschichte zu erzählen. Und das ist alles andere als trivial.

Der Inhalt schliesst seine Präsentation und Repräsentation also prinzipiell mit ein. Fotografieren ist nicht ein einfacher Akt der Annäherung an eine Wahrheit (Aufnahme), sondern ein komplexer und mehrstufiger Kommunikationsakt. Entscheidend ist, wie auch im geschriebenen Journalismus, dass die Beziehung zwischen Inhalt und Sachverhalt faktisch so ist, wie sie erklärt wird. Beides lässt sich in legitimer Weise gestalten oder in illegitimer Weise verzerren, ohne die Szene zu stellen und ohne in das einzugreifen, was World Press Photo den Bildinhalt nennt.

Inhalt ist nichts, was sich in Settings, Gegenständen, Rohdaten und anderen „Fakten“ erschöpft. Kann es sein, dass dies die Zunft der Bild-Auswähler erst noch lernen muss?

Links zum Thema:

http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-zaubertricks-im-photoshop-fotostrecke-96730.html

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/world-press-photo-giovanni-troilo-disqualifiziert-13465794.html

http://www.hackerfactor.com/blog/index.php?/archives/549-Unbelievable.html

http://petapixel.com/2010/03/03/world-press-photo-disqualifies-winner/