Wo sind die Monster?
Was ist es eigentlich, das den Menschen zum Turm macht? Oder verläuft das Leben doch eher linear? In «Ich seh‘ Monster» spielt sich Nikko Weidemann durch seine persönliche Lebens- und Musikgeschichte – und folgt dabei einer ganz eigenen (Ton-)Spur.
Zuerst war da nichts. Dann verbanden sich einzelne Partikel. Bewegung entstand, Leben formte sich. Auf Leben folgte Identität. Ist Identität ein Konstrukt? Wenn der Mensch selbst ein Turm wäre, dann wären seine Erlebnisse wohl Ziegel, und seine Erfahrungen vielleicht Mörtel. Doch was ist es, das den Menschen zum Menschen macht – zum individuellen Turm an einem überfüllten Ort? Er will Turm sein, seine eigene Festung erschaffen, daran feilen, sich unentwegt optimieren. Das Leben verläuft weder rein vertikal noch horizontal, ist vielmehr ein verschachteltes Konstrukt von Erfahrungen. Wir fürchten uns jedoch vor Katastrophen, Trümmern und Monstern, und wir ziehen uns lieber in unsere sicheren Elfenbeintürme zurück, statt auf einem Schlachtfeld auszuharren. Die Ungeheuer, die wir manchmal hervorrufen, sollen bloss wieder ganz schnell verschwinden. Woher sie kommen oder wohin sie gehen, wissen wir nicht. Uns dürstet es vielmehr nach den kurzen Augenblicken leichten Glücks. Zäsuren, Schicksalsschläge und Krisen bringen unseren Turm nur zum Einstürzen.
Und schliesslich, nach geraumer Zeit, halten wir inne, analysieren das Bauwerk – unser Bauwerk – blicken auf Vergangenes zurück und erinnern uns an die damit verknüpften Erlebnisse und Geschichten. Chronologisch lief es ab, unser Leben, episodenhaft, Tag für Tag, Jahr für Jahr – jahrzehntelang. Gleicht es letztendlich doch mehr einer Linie als einem Turm?
Wenn Nikko Weidemanns Leben eine Linie wäre, dann würde sie einer reinen Tonspur ähneln. Doch das Leben verläuft meist nicht linear. Der Berliner Musiker singt und erzählt in einem biografischen Theaterkonzert von den Turbulenzen seines Lebens. Er knüpft und koppelt seine persönlichen Erinnerungen an Musikstücke, die ihn geprägt haben. Weidemann selbst nennt sich eine «menschliche Jukebox» – er spielt seine eigenen Geschichten, als wäre sein Leben eine einzige musikalische Performance.
Weidemann, 1961 in Köln geboren, ist ein schlaksiger, trotziger Kautz mit schütterem Haar und einer piratenhaften Aura. Seit einem Unfall vor vierzehn Jahren tritt er nur noch mit einer glitzernden Augenklappe auf. Auf der Bühne im Clubraum der Roten Fabrik in Zürich stehen Gitarren, Drumset, Verstärker und Lautsprecher bereit. Eigentlich ein Set-Up für eine komplette Band, doch der Sänger, Gitarrist und Komponist tritt alleine auf. In seinem Repertoire hegt er aktuell etwa 50 Songs. Diese performt und interpretiert er fragmentarisch oder komplett. Weidemann rezitiert und rezycliert, schwelgt und spannt die Fäden kreuz und quer durch sein Leben.
Er erzählt von seinem Vater, einem ehrgeizigen aber medikamentenabhängigen Chefarzt, der am Geburtstag von John Lennon starb, oder von seiner russischen Mutter, die ihren kleinen «Nikolai» immer singen hören wollte und ihn oft als Vorband für ihre eigenen Performances benutzte. Weidemann schrammt und klimpert sich durch die Musikgeschichte seiner Zeit. Prägendes wie seine erste Schallplatte, seine erste grosse Liebe, sein erstes Rockkonzert, verbindet er mit Liedern von Frédéric Chopin, Franz Schubert, Frank Zappa, Led Zeppelin James Brown, Deep Purple, Hildegard Knef, Mad Romeo, Talking Heads, Udo Jürgens, Einstürzende Neubauten und anderen. Er wühlt tief in der Erinnerungskiste – Frank Zappa öffnete ihm die Tür zum Musikuniversum – in Nick Cave hat er sich schockverliebt – für Tom Tykwer schrieb er mit Mario Kamien den Soundtrack zur deutschen Fernsehserie Babylon Berlin.
Weidemann beschwört Monster, singt von längst vergangenen Zeiten. Während er sich durch die verschwitzten Haare streicht und seine Augenklappe richtet, rauschen die Jahrzehnte nur so an ihm vorbei. Lied um Lied, Jahr um Jahr.
Lebt man, je älter man wird, immer mehr in und mit seiner Vergangenheit? Das Leben – eine scheinbar nie enden wollende Langspielplatte? Obwohl der Spannungsbogen trotz Lichteffekten und Technoeinlage etwas schwächelt, wird Weidemann nicht müde, die Nanodetails aus seinem Mikrokosmos nachzusingen. Und die Monster, die er ruft, kommen auf diese Weise nur ganz kurz als halblebendige Erinnerungen auf die Bühne zurück. Die Zuhörer*innen sind ergriffen, gelangweilt, oder beides zugleich. Sie lächeln, schlafen sitzend, schweifen ab, erinnern sich an Episoden aus ihrem eigenen Leben, verknüpfen Erinnerung mit Emotionen – im Wissen, dass sich am Schluss doch alles wieder auflöst.
Die Idee und das Programm zu «Ich seh‘ Monster» entstand in Zusammenarbeit mit dem deutschen Regisseur und Theaterproduzenten Tom Stromberg. Das biografische Konzert ist eine Co-Produktion der Roten Fabrik und des Theaterspektakels.
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Annatina Nay ist Visuelle Gestalterin und studiert im MA Kulturpublizistik.