Wie wir sprechen. Interview mit Christa Binswanger
SANDRA BIBERSTEIN: Unter dem Hashtag #metoo kam vor einem Jahr die Debatte über sexualisierte Gewalt auf. Medial war diese Debatte über Monate hinweg omnipräsent und ermöglichte Betroffenen, auf Social Media Plattformen über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Vergewaltigung zu sprechen. Was hat die #metoo-Debatte Ihnen als Forschende im Bereich der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung aufgezeigt?
CHRISTA BINSWANGER: Die Debatte hat aufgezeigt, dass es noch immer viele Frauen gibt, die unter sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt leiden und dass es offenbar nach wie vor schwierig ist, dieses Leiden zu formulieren und gehört zu werden. Dass Frauen nicht sexuell unterdrückt werden wollen, war bereits in den 1970er-Jahren ein Thema. Nun zeigt sich, dass das Problem gesellschaftlich noch nicht gelöst ist und dass sich unsere Gesellschaft mit dem Thema befassen muss. Für das Forschungsfeld Gender Studies war und ist es eine sehr wichtige Debatte, weil sie ein Anliegen, das in den 1970er-Jahren formuliert wurde, wieder aufgreift: Diejenigen, die es betrifft, sollen reden dürfen.
In den Medien waren es vor allem Frauen, jedoch kaum Männer, die als Betroffene über sexualisierte Gewalt sprachen.
Es gab bisher tatsächlich wenig Stimmen von betroffenen Männern. Es werden aber durchaus sexuelle Übergriffe auf Männer ausgeübt. Man müsste die Debatte aber innerhalb der Geschlechterverhältnisse verorten. Denn die Statistik zeigt, dass viel mehr Männer gegenüber Frauen und anderen Männern übergriffig sind als Frauen.
Das geschieht allerdings nicht. Stattdessen spielten die Medien die beiden Geschlechtergruppen gegeneinander aus. Woran liegt das?
Medial rückten rasch Argumentationen gegen #metoo in den Fokus: Frauen würden zum Beispiel den medialen Raum nutzen, um Männer öffentlich zu verurteilen. Natürlich muss man jeden Vorwurf eines sexualisierten Übergriffes prüfen, der Vorwurf per se hat noch keinen Wahrheitsgehalt. Die Tatsache aber, dass so viele Frauen ihre Erfahrungen geteilt haben, zeigt, dass es ein Symptom eines gesellschaftlichen Problems ist. Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden, indem man sagt, dass man es nicht beweisen kann. Schlecht ist, wenn sich alle Männer pauschal angegriffen fühlen. Denn die Idee der Debatte war, dass das eigene Verhalten reflektiert und darüber nachgedacht wird; wie gehe «ich» mit dem anderen oder auch dem gleichen Geschlecht um. Medial hat sich der Diskurs nun aber in eine Richtung verschoben, wo es heisst, den Männern widerfahre keine Gerechtigkeit mehr. Letztlich scheint es so, dass sie die Verlierer des Feminismus seien und sie würden unter #metoo leiden. Eine solche Debatte ist nicht konstruktiv, wenn man eine gerechtere Gesellschaft will.
Wer erzählt, dass Männer unter dem Feminismus leiden?
Das lässt sich nicht pauschal sagen: Es gibt Männerrechtsbewegungen, die eine geschlechtergerechtere Gesellschaft anstreben. männer.ch zum Beispiel weisen darauf hin, dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen Männer diskriminiert werden. Das finde ich gut. Es gibt jedoch auch Männerrechtsbewegungen, die mittels psychologischer Studien darauf hinweisen, dass Männern im Schweizer Bildungssystem benachteiligt seien. Solche Stimmen finde ich problematisch, weil sie die Gruppe der Männer pauschal in einen Opfer-Diskurs einfügen. Wenn man statistisch prüft, welche Jugendlichen tatsächlich im Schulsystem benachteiligt sind, dann sind das Buben mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernem Milieu. Dass es auch privilegierte Buben gibt, wird oft vergessen: Nach wie vor haben junge Männer ohne Migrationshintergrund aus bildungsnahem Milieu einen Vorteil gegenüber Männern mit Migrationshintergrund sowie auch gegenüber der Mehrheit der Frauen. Meiner Meinung nach sollte es darum gehen, zu fragen: Wo besteht Handlungsbedarf? Wo gibt es überall unbewusste Sexismen und unbewusste Stereotypen, die Chancenungleichheit erzeugen?
In den Diskussionen über Gender wird ja nicht nur Gleichberechtigung der beiden Geschlechter gefordert, sondern auch darüber diskutiert, die binären Kategorien von «Mann» und «Frau» aufzubrechen. In Schweden und Deutschland wurde vor ein paar Jahren ein drittes Geschlecht eingeführt. Im Zusammenhang mit #metoo wird jedoch nur über Mann und Frau gesprochen und an den bisherigen Kategorien festgehalten. Warum?
Das ist ein Grundparadox unseres Faches. In der Geschlechterforschung bilden wir einerseits Gruppen, um empirisch vergleichen zu können, welche Gruppe gegenüber einer anderen benachteiligt ist. Gleichzeitig ist es unser Ziel, diese Gruppen zukünftig aufzulösen, also nicht mehr in diesen Kategorien denken zu müssen. Die #metoo-Diskussion teilt alle Menschen in die Kategorie Mann oder Frau ein. Diese Zuteilung stimmt jedoch nicht für alle. Wenn wir nun sagen, es gibt mindestens ein drittes Geschlecht, dann bilden wir eine neue Gruppe von all jenen, die sich nicht eindeutig zuordnen können oder wollen – seien das Intersex-Menschen, die physisch mehrdeutig sind, Trans-Menschen, deren biologischer Geschlechtskörper nicht mit der Geschlechteridentität übereinstimmt, non-binäre Menschen, die sich nicht eindeutig zuordnen und sich weder als Mann noch als Frau fühlen. Wenn wir sie alle, obwohl sie sehr unterschiedlich sind, als eine Gruppe fassen, müssen wir eine künstliche Gruppengrenze machen. Ohne diese Gruppenbildung können wir Forschenden keine Rechte für sie einfordern. Ein solches Unternehmen ist konflikthaft und diese Konflikte gilt es im Dialog mit allen konstruktiv auszutragen.
Man konstruiert also eine vorübergehende (Gruppen-)Identität mit der Idee, sie wieder aufzulösen, wenn man ihre Rechte erreicht hat.
Genau. Das ist sehr kompliziert. Aber in dem Paradox befinden wir uns immer – auch bei der Diskussion um Frauenrechte. In den 1970er-Jahren forderten zum Beispiel Frauen, dass sie die gleichen Rechte wollten, weil sie genau gleich seien wie die Männer. Das ist natürlich ein Widerspruch. Für mich als Forschende stellt sich deshalb immer die Frage: In Namen von wem und mit welchem Anliegen spreche ich?
Die Sprache spielt in der Gender-Diskussion eine enorm wichtige Rolle. Nicht nur, indem man jemandem eine Stimme gibt, sondern auch durch einen gendergerechten Sprachgebrauch: Seit den 1970er-Jahren wird versucht, die Frauen durch weibliche Begriffe in der Sprache sichtbar zu machen. Nun wird auch der dritten Gruppe, also allen, die sich weder als Frau noch als Mann sehen, durch das Gender-Sternchen (Asterisk) oder den Gender-Gap ein Ort in der Sprache gegeben. Welche gesellschaftlichen Konflikte zeichnen sich in dieser Veränderung des Sprachsystems in Vokabular, Orthographie oder auch Grammatik ab?
Sprache ist immer politisch und war schon immer ein Instrument von Politik. Menschen, die sich nicht eindeutig zuordnen, sind in der Minderheit. Die Mehrheit ist insofern privilegiert, weil sie sich klar einem Geschlecht zuordnen kann. Nun gibt es konservative Kräfte, welche die binäre Geschlechterordnung als richtig und gut empfinden. Alles, was nicht in diese Dualität passt, wird pathologisiert, also als krank beschrieben. Bei Trans-Menschen wird die Transidentität nur anerkannt, wenn es ein psychiatrisches Gutachten gibt. Das heisst, ein*e Mediziner*in muss einer Person zuerst das Recht auf eine neue Identität erteilen, wenn sie*er eine Transition machen will. Um solche Pathologisierungen zu vermeiden ist es notwendig, dass mehr als zwei Geschlechter anerkannt sind. Zudem gibt es einen starken Anti-Genderismus, bei dem solche Forderungen als Blödsinn oder Firlefanz abgetan werden. Die Sprache ist daher ein Ort, wo sich solche Konflikte manifestieren.
Was kann denn konkret über die Sprache erreicht werden? Eine Veränderung der Weltwahrnehmung?
Ja, wenn wir bei jeder Sprachform überlegen, ob wir nun geschlechtergerecht formuliert haben, macht das etwas mit uns. Wenn wir also eine inkludierende Gesellschaft sein wollen, muss das auch in der Sprache sichtbar sein.
Der Rat für deutsche Rechtschreibung beruft sich auf das generische Maskulin – Bezeichnungen, die auf das männliche Geschlecht referieren, bei denen aber alle Geschlechter gemeint sind.
Ich akzeptiere das generische Maskulin nicht – aus politischen Gründen. Wenn ich sage: «Ich gehe heute zum Arzt», dann sehen wir vor unserem inneren Auge automatisch einen Mann. Es ist nicht so, dass wir beim Gebrauch des generischen Maskulinums die Personen von ihrem biologischen Geschlecht abstrahieren können. Sprache ist natürlich immer auch Ästhetik. Die Veränderungen sind kompliziert – gerade wenn mit dem Asterisk* oder dem Gender-Gap Genitivkonstruktionen oder Nebensätze formulieren werden sollen – und lösen nochmals eine ganz andere Debatte aus. Gendergerecht zu formulieren ist eine Herausforderung! Es ist Neuland, es gibt keine Richtlinien. Schön finde ich, dass man mit der Sprache auch spielen und neue Techniken entwickeln kann. Sprache ist für mich ein wichtiges Instrument, um zu signalisieren, dass wir einen Ort für eine Minderheit in unserer Gesellschaft schaffen, die sich geschlechtlich nicht eindeutig identifiziert. Und je nachdem in welcher Gesellschaft wir leben, wie zum Beispiel für eine*n schwedische*n Student*in, ist das dritte Geschlecht bereits Normalität.
Wie lässt sich das Vorgehen legitimieren, dass man über Richtlinien an Bildungseinrichtungen einen gendergerechten Sprachgebrauch einfordert? Schliesslich sagen Sie damit der Mehrheit, dass sie ihren Sprachgebrauch für eine Minderheit ändern sollen.
Da haben Sie Recht, das ist ein Machtanspruch, den ich artikuliere. Das Ziel wäre es aber, der Vielfalt von Geschlechtern, die wir in der Gesellschaft haben, einen Raum zu geben. Mit gendergerechten Formulierungen soll keine restriktive Politik betrieben werden. Man erfindet zudem kein drittes Geschlecht, sondern es gibt Menschen – und es gibt immer mehr –, die sich nicht eindeutig geschlechtlich zuordnen.
Bei der Anwendung einer gendergerechten Sprache geht es also auch darum, sich mit Fragen der Repräsentation auseinanderzusetzen? Was für ein Sprachverständnis liegt dem zugrunde?
Ich habe deutsche Literatur und Linguistik studiert und mich auch mit der Frage, wie man das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit versteht, auseinandergesetzt. Für mich ist klar, dass die Art und Weise, wie etwas benannt wird, auf die inneren Bilder zurückwirkt. Das Anwenden einer gendergerechten Sprache hat also einen doppelten Effekt: Die Sprache wirkt auf die Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit wirkt auch auf die Sprache zurück. Das ist wie bei der Frage, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei? Anglizismen werden in die deutsche Sprache aufgenommen, weil wir Begriffe für neue Phänomene brauchen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie eine Sprache die Gesellschaft prägt. Durch eine aktive Sprachpolitik können wir etwas ändern, das auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückwirkt.
Wie rechtfertigen Sie die Forderung, die Vielfalt der Geschlechter in der Sprache sichtbar zu machen, gegenüber jenen Menschen, bei denen sie Widerstand auslöst.
Die Forderung nach einer gendergerechten Sprache kommt nicht aus dem Nichts, sondern hat mit Diskriminierung zu tun. Ein Mensch darf laut schweizerischem Gesetz weder aufgrund seiner Herkunft noch aufgrund des Geschlechts diskriminiert werden. Wenn wir diesen Gesetzesartikel ernst nehmen und zugleich empirisch belegen können, dass intersex, homosexuelle, non-binäre und transsidente Menschen diskriminiert werden, dann ist die gendergerechte Sprache eine Antidiskriminierungsmassnahme. Carolin Emcke gab in der Rede zum Deutschen Buchpreis, den sie 2016 für «Gegen den Hass» erhielt, gute Antworten: Sie sagte, es gehe um Menschenrechte, also dass jede*r ein Recht auf die Identität hat, die sie*er sich zuschreibt. Gleichzeitig äusserte sie auch, dass wir trotz des gegenseitigen Respektes nicht mit der Lebensweise von anderen einverstanden sein müssen. Die deutsche Autorin betonte zudem: Menschenrechte sind keine begrenzte Menge! Wenn ich jemandem ein Menschenrecht gewähre, heisst das nicht, dass mein Menschenrecht dadurch kleiner wird. In diesem Sinne: Wenn wir einer Gruppe, die zwar in der Minderheit ist, aber diskriminiert wird, einen Ort in der Sprache zuweisen, nehmen wir niemandem etwas weg.
Aber weshalb gibt es dann Widerstand gegen eine gendergerechte Sprache, wenn es doch eigentlich darum geht, sie für alle zu öffnen?
Es löst offenbar ganz viele Ängste, Aggressionen und Ablehnung aus. In der Diskussion über nicht eindeutige Geschlechteridentitäten zeigt sich oft auch Verunsicherung, weil – und das diskutiere ich auch mit meinen Studierenden – es eine schwer denkbare Position ist, die bedroht. Wenn aber eine Person privilegiert ist und sagen kann, dass sie eine eindeutige Geschlechtsidentität hat, frage ich mich, warum bedroht diese Forderung jemanden so? Wieso darf das nicht sein? Ist der Geschlechterdualismus für die Identität einer Person so wichtig, dass die Möglichkeit, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, sie dermassen verunsichert? Eine Erklärung wäre vielleicht, dass es diese Möglichkeit in einer konservativen, patriarchalen Gesellschaftsordnung nicht geben darf. Denn wenn man anfängt, Geschlechterpositionen in Frage zu stellen, sind auch Geschlechterrollen nicht mehr klar zugewiesen.
Inwiefern ist diese Diskussion über Sprache moralisch?
In der Rede von Carolin Emcke ging es darum – und das sah man auch bei den jüngsten Ereignissen in Chemnitz –, dass faschistoides Reden über andere wieder salonfähig ist und gesellschaftlich nicht sanktioniert wird. Es wird praktiziert und medial übertragen. Es wird anderen das Recht auf ihr Leben abgesprochen, wenn sie nicht gewissen Normen entsprechen. In den USA gibt es einen Präsidenten, der grundlegende Fragen von Respekt und Menschenrechten mit Füssen tritt. Innerhalb dieser Diskurse ist die Diskussion natürlich moralisch, wenn gegenseitiger Respekt eingefordert wird. Moralische Positionen haben oft eigene blinde Flecken, das ist der Punkt, warum man ihnen mit Kritik begegnet. Aber sie sind nichtsdestotrotz wichtig!
Christa Binswanger ist Leiterin des Fachbereichs Gender und Diversity an der Universität St. Gallen.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Master Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Chirsta Binswanger wurde am 3. September von Sandra Biberstein geführt.
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Die Gesprächsreihe «Der Balken in meinem Auge. Reflexivität als Ressource» wurde zwischen 2014 und 2022 von verschiedenen Mitgliedern der Zollfreilager-Redaktion bespielt.