Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Petra Haas

Wellengang in die Vergangenheit

Auf dem Boot setzt Ada ihren Fuss in eine Seilrolle, mit der das Piano gesichert ist. Als sie verlangt, dass das Instrument über Bord gestossen wird, zieht das Klavier sie mit in die Tiefen des Meeres. Die taubstumme Frau sinkt in eine andere Welt. Wie ein Vogel, der mit seinen Flügeln flattert, bewegt sie ihre Arme, als wolle sie zum Himmel fliegen. Der Saum ihres Kleides tänzelt im Wasser und die Blasen, die ihr aus Mund und Nase quellen, spielen mit den Haaren, die sich aus ihrem strengen Knoten gelöst haben.

Szene aus dem Film «The Piano» von Jane Campion

Die Etsch entspringt im Südtirol und schlängelt sich von den Alpen südwärts Richtung Adria. Ganz nah an der Quelle der Etsch liegt das Dorf Eschen. Eine verschwommene Erinnerung ist, dass ich im Sommer einige Tage mit einer Freundin und deren Eltern im Etschtal verbrachte. Wir spielten an einem Bach. Stauten das Wasser und planschten darin. Wir hatten unsere Lieblingsfelsen, auf denen wir sassen und so taten, als seien wir Prinzessinnen, die von einem bösen Kobold gefangen worden waren. Natürlich warteten wir auf den Prinzen, beziehungsweise auf zwei Prinzen. Ich mochte den Felsen, und die Vorstellung, von ihm in die Etsch zu springen und bis an die Adria zu schwimmen, faszinierte mich. 

Fast so sehr wie Marios Kaiserschmarren. Er war Koch in einem Restaurant in Rimini und machte den besten Kaiserschmarren der Welt. Ihn zu essen, war eine Reise durch zarte, luftige Brocken aus Ei, Zucker und Mehl, die zuerst in Butter gebraten und zum Schluss mit Puderzucker bestreut wurden. Das Essen bei Mario verbinde ich vor allem mit meiner Mutter. Selten erlebte ich sie so entspannt. Ihr Lachen und den Klang der fremden Sprache, deren Wörter sie sicher aussprach und mit Gesten unterstützte. Ihre Gelöstheit machte mich glücklich. Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf ihren Schoss und lauschte ihren Worten. Wenn sie kurz still war, strich sie sanft über meine Haare. Ganz nah schmiegte ich mich an den Ort, der mich zum Menschen machte.

Eine Zeichnung von meiner damaligen Freundin in meinem Poesiealbum erinnerte mich wieder an den Traum, in die Etsch zu springen. Das kühle Wasser, das ein leichtes Kribbeln in den Beinen auslöst. Das Gefühl, endlos zu treiben auf dem Rücken und dem Bauch. Am Ufer stehen Menschen und winken mir zu.

Anders das Training im Schwimmbecken der Schule, morgens vor dem Unterricht allein mit Herrn Schad. Das frühe Aufstehen, der lange Weg, das Leuchten der Schwimmhalle im dunklen Morgen. Das Umziehen in der stillen Garderobe, die grosse Auswahl der Kleiderhaken. Das Benässen des Körpers unter der kalten Dusche. Das eklige Gefühl an den Füssen beim Durchschreiten des kleinen Beckens, bevor man die Schwimmhalle betrat. Das Einatmen der chlorgetränkten Luft. Das leise Surren der Filteranlage. Die Badekappe aufsetzen, die Haare hineinwursteln, auf den Startblock steigen. Das flaue Gefühl im Magen, das nie ganz verschwand. Die Position einnehmen, kurz zögern und durchatmen, die Muskeln spüren. Der Sprung. Zeitlos. Die Vermengung von Körper und Wasser beim gleichzeitigen Ausholen der Arme.

Die Gedanken blieben, drehten im Kopf ihre Runden, meist schneller als die Arme ausholten, und flohen durch das Fenster in den Morgen.

Herr Schad kam erst in die Schwimmhalle, wenn die vorgeschriebenen Aufwärmlängen beendet waren. Es berührte mich ein feiner Luftzug, wenn er die Schwingtüre schloss und in seinen Adidas-Latschen die Halle betrat. In kurzen Hosen und einem verwaschenen Shirt des Schwimmverbands blickte er auf mich hinunter. Manchmal ging er in die Hocke und die Stoppuhr, die er um den Hals trug, baumelte wie ein grosser Zeiger hin und her. Herr Schad beobachtete die Schwimmtechnik, die Beweglichkeit, das Wendigsein. Er nannte das «agil». Damals kannte ich das Wort nicht. Ich begegnete ihm wieder im Sanitätszimmer. Es stand auf einem Papier, auf dem eine Tabelle ausgedruckt war. Eine Position hatte den Namen «Liga». Das Wort «agil» zu verstehen, war schwieriger als «Liga» rückwärtszulesen. 

Das Wichtigste waren Disziplin und Durchhaltevermögen. Der Trainingsplan hing mit all den anderen Zetteln und Zeichnungen am Kühlschrank. Ein Magnet mit wenig Haltekraft und der Aufschrift Adria hielt den Plan fest. Waren die Fenster offen, riss ihn die Zugluft binnen Sekunden von der Kühlschranktür. Der Plan in der Küche erinnerte mich daran, dass meine Eltern entschieden hatten. Niemand fragte, ob ich morgens vor Schulbeginn in der Schwimmhalle mit Herrn Schad trainieren wollte. Für meinen Vater war es reizvoll, eine Tochter zu haben, die ausgesucht worden war. Ausgesucht für Erfolg und Ruhm. Er prahlte damit, bevor ich mit dem Trainieren begonnen hatte. Es schmeichelte mir. Endlich war sie da, die ersehnte Aufmerksamkeit meines Vaters. Meine Mutter hatte sich gefügt.

Sie hatte sich gefügt, aber sie mochte es nicht, dass ich mit Herrn Schad trainierte. Sie mochte nicht, wenn ich etwas tat, was sie nicht kontrollieren konnte. Sie war gefangen in einer unsäglichen Angst um mich. Das «Pass auf» bei jedem Abschied war der Knopfdruck für ein flaues Gefühl im Magen. Überall könnten Männer lauern und mich plagen, mir weh tun wollen. «Pass auf» überschattete meine Ungezwungenheit und stülpte sich über mich wie ein unsichtbarer Schleier, den ich überallhin mitnahm. Ich glaube, sie wusste, dass sie mit ihren Ängsten meine Entwicklung behinderte. Sie rang mit sich, versuchte, ihr Unbehagen zu überspielen, wollte es von mir fernhalten. Doch ihre Vergangenheit kam ihr hoch wie Schluckauf. «Pass auf» war mein stetiger Begleiter.

Bloss nicht daran denken, wie Mutter in der Tür steht und zusieht, wie ich mein Fahrrad die Kellertreppe hochtrage. Ihr leidendes Gesicht. Ich schwinge mich aufs Rad. Schnell entkommen aus dem Raum ihrer unausgesprochenen Worte. Vermeiden, dass sie sich hineinsteigert in ihre Erinnerungen, ihre Qual. Ihr Blick in meinem Rücken, den ich bis heute spüre.

Die erste Monatsblutung begrüsste mich an einem trüben, regnerischen Morgen in der Umkleide. Eine ganze Weile starrte ich auf den bräunlich-roten Fleck, der nach nichts roch. Das Papiertaschentuch, das ich in den Badeanzug legte, liess sich von da an nicht mehr wegdenken. Im Wasser hatte ich das Gefühl, einen roten Faden hinter mir herzuziehen. Herr Schad schrie sich fast die Kehle aus dem Leib, als ich versuchte, beim Schwimmen hinter mich zu sehen. 

Der rote Faden blieb. Er war die Spur, die mich über Wasser hielt und gleichzeitig in die Tiefe zog. Ich wollte ihn nicht, den Faden, und auch kein Blut zwischen meinen Beinen. Der Körper bestimmt eine Regel, die keine Frau auslässt. Herr Schad wusste nichts von meinem Faden und dem Taschentuch. Es ekelte mich, im öffentlichen Bad zu schwimmen. Viele unsichtbare Fäden tummeln sich darin. Sie vernetzen sich und bilden eine rote Fadengemeinschaft. 

Herr Schad war nett zu mir. Ich mochte, dass er mir etwas abverlangte. Ich mochte seinen Ansporn. Er hatte ein Ziel, das er mit mir erreichen wollte. Sein Glaube an mich gab mir Mut. Manchmal wartete ich darauf, dass er mich anfassen oder mich in der Garderobe aufsuchen würde. Das tat er nicht. Es verwirrte mich und ich zweifelte an seinem Interesse. Gleichzeitig war es auch ein Grund, mich anzustrengen. 

Mädel, wo bleibt deine Konzentration. Wach auf. Noch eine halbe Stunde. Eins, zwei, drei und atmen. Eine halbe Stunde. Danach schnell umziehen, Haare föhnen. Als Letzte ins Klassenzimmer huschen. Mathetest. Flächenberechnung. Hab’s verpasst, zu lernen. Vergessen, was in den Slip zu legen. Unruhe, der Gang aufs Klo, nach der Frage, ob man dürfe. Die Angst, dass es zu sehen ist, durch die Hose drückt. In die Unterhose schauen. Kein neues Blut. Nur der alte Fleck. Vielleicht eine Fehlschaltung, eine Einbildung. Zur Sicherheit doch ein Papier reinlegen.

Eins, zwei, drei und atmen. Eins, zwei drei und atmen. Herr Schad zählt mit. Die Beine gerade, gleichmässiges Schlagen. Die Zehen gestreckt, die Füsse leicht nach innen gerichtet, knapp über der Wasseroberfläche. Die Bewegung mit dem Atem synchronisieren. Immer im Rhythmus, das Ausholen der Arme, das Verschieben der Wassermenge, das genaue Anheben des linken Armes für die Luke, die das Einatmen ohne Zeitverlust ermöglicht. Das Ausatmen bei den nächsten beiden Zügen. Durch den Mund atmen ist ergiebiger. Vertrauen, Vertrauen in den Körper. Angst ablegen. Das mulmige Gefühl im Magen bleibt. Durch das Wasser gleiten. Auf die Bewegung konzentrieren. Die Luke nicht zu hoch ansetzen. 

Eins zwei, drei und atmen. Der Körper in Harmonie mit den Schwingungen des Wassers. Eins, zwei drei und atmen. Rollwende. Schwung holen im Abstossen an der Beckenwand bis zur Markierung. Die Poren öffnen sich, Schweiss vermischt sich mit Wasser und Fäden. Schad läuft mit. Keine Anweisungen. Still folgt er meinen Zügen. Ziehen, gleiten. Rollwende. Abstossen. 

Die letzte Länge. Mit jedem Atemzug wächst die Kraft. Schneller, schneller, perfekter. Rhythmus. Schad lächelt. Kontrolliert die Uhr. Das Wasser, das bezwungen wurde, gezwungen mitzuarbeiten, mit mir, der Welt, als flöge ich auf einer Welle. Dieses unglaubliche Gefühl, das Kraulen für einen Moment verstanden zu haben. 

Das Aufstützen der Arme am Beckenrand. Das pochende Herz. Der schnelle Atem. Das Abtauchen für die Entspannungslänge. Das Abstreifen der Badekappe. Dem Wasser schmeicheln. Er wirft mir den Bademantel zu. Die Beine zittern, die Lippen sind blau. Er legt mir die Hand auf die Schulter. Für heute ist er wohl zufrieden. Der feine Luftzug, als er wortlos die Schwingtüre schliesst.

Herr Schad liess mir Zeit, mich einzugewöhnen. Er spürte meine Anspannung. Oft war ich den Tränen nahe. Ich verbiss sie mir. Dachte an meinen Vater, seinen Stolz auf die Tochter. Wollte ihn um keinen Preis enttäuschen. Scheuchte das flaue Gefühl im Magen weg. Schrie es stumm in die Ablaufrinne des Beckens.

Mein Körper veränderte sich, legte an Muskeln zu. Die Freude am Wachsen, der geweckte Ehrgeiz, das immer grössere Vertrauen. Irgendwann war der Plan am Kühlschrank weg. Die Angst der Mutter hatte sich durchgesetzt. Ich fügte mich. Gab das Schwimmen und mit ihm die Aufmerksamkeit des Vaters her. Um mich herum wieder der gewohnte Alltag, eine Lüge, die das flaue Gefühl im Magen erträglicher machte.

Doch etwas hatte sich verändert. Ich vermisste das Schwimmen und Herrn Schad. Ich begegnete ihm auf dem Pausenplatz oder in der Schwimmlektion mit der Klasse. Er schenkte mir weiterhin seine Aufmerksamkeit, obwohl ich sicher war, dass ich doch nun für ihn wertlos sein musste. Es behagte mir nicht und ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich kam mir vor wie der Magnet am Kühlschrank, der mit jedem Luftzug zu Boden gerissen werden konnte.

Die Zeit mit Herrn Schad hatte mich verändert. Sachte begann ich, für mich einzustehen. Hatte den Mut, die Blicke der Mutter von mir zu weisen. Ich wagte, ihr zu widersprechen. Heute weiss ich, dass ich mich nicht aufgeben muss, um geliebt zu werden.  

 

Illustration: Taddeo Lorenzo Motta