Was ist Theater?
Über das Andere (auf) der Bühne. Ein Gespräch mit Hayat Erdogan
Was ist Theater?
Es gibt viele mögliche Antworten. Wenn man die Kunstform meint, und also vom Theater als Institution, als Architektur usw. absieht, würde ich sagen: Theater ist, wenn Menschen auf und vor einer Bühne für eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort zusammenkommen. Es handelt sich um geteilte Zeit, in der sowohl ästhetische als auch intellektuelle Erfahrungen gemacht werden können, in der sogar eine temporäre Gemeinschaft entstehen kann.
Was tut Theater?
Theater hat mit Schau zu tun, das steckt ja auch in der Etymologie des Wortes thea. Für mich ist Theater eine Schau ins Unbekannte, auf das, was nicht ist. Im Theater, wie ich es verstehe, wird Gesellschaft nicht nur kritisch hinterfragt, sondern qua Versuch und qua Erfindung weiterentwickelt. Es handelt sich um ein Spiel, aber nicht im Sinne eines sich Verstellens, sondern eines Erprobens von etwas Anderem, eines Übersteigens der Wirklichkeit. Das hat auch etwas mit Theorie zu tun. Was Theater und Theorie in den Anfängen in Athen miteinander verbindet, sind die sogenannten theoroi. Das sind die Schauenden. Theoroi waren fester Bestandteil der griechischen Kultur, sie waren Abgesandte einer Stadt, sie wurden als Weltschauer in andere Städte und Länder geschickt. Ihr Auftrag lautete: Reisen, fremde Kulturen erkunden, Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln, zurückkehren, berichten und die Erkenntnisse und Erfahrungen der geschauten Welt in Theorien übersetzen. Und ich würde sagen, dass Theater als sinnliche Schau in einem steten Spannungsverhältnis steht zur Theorie als einem Schauen, das die Sinnlichkeit übersteigt. Für mich geht es darum, diese Ambivalenz zwischen sinnlicher, ästhetischer und abstrakter, intellektueller Schau produktiv zu machen. Theater muss den Widerstreit zwischen einem So-ist-es mit einem So-könnte-es-sein suchen, die Zuschauenden als ästhetisch und theoretisch Schauende ansprechen.
In der Diskursgeschichte ist das Schauen aber auch etwas Suspektes. In der Nachfolge von Platon, aber eigentlich auch schon im Alten Testament und im Koran, später in der Reformation, kommt das immer wieder zum Ausdruck: Die Sinnlichkeit, die Schaulust, die Unterhaltung, die Ablenkung bringen uns ab vom Wesentlichen, das hinter den Dingen liegt. Es gibt die Kritik des Theaters bei Rousseau, es gibt die Idee des Theaters als Ort der Aufklärung und Bildung, es gibt die Idee der Brechung der Illusion in Brechts epischem Theater. Namentlich im Kontext der Aufklärung geht es darum, den Menschen mündig und politisch handlungsfähig zu machen, indem man die Vorstellungskraft quasi in die richtigen Bahnen lenkt. Was davon übernimmst du, und was lehnst du ab?
Die Unterteilung in gefährliche und ungefährliche Formen der Wahrnehmung übernehme ich nicht. Das Emanzipative bei Brecht würde ich hingegen übernehmen: als einen Kampf gegen innere und äussere Zwänge. Theater macht idealerweise Spass. Theater ist nicht humorbefreit, aber befreit von mainstreamigen Zwängen und go-to-moves. Das Theater, das mich interessiert, ist immer ein gemeinschaftlicher Prozess, ein kollektives Handeln, Denken und Herstellen. Wenn man das Spiel des als-ob und was-wenn kultiviert, wenn man es auf eine nächste, neue, ernstgemeinte Ebene bringt und leidenschaftlich für das einstehen kann, wofür es sich zu kämpfen und streiten lohnt, dann kann Theater auch eine Liebeshandlung sein. D.h. es geht um Erregung, die Übertragung von Ideen, die Aktivierung der eingerosteten und faul gewordene Einbildungskraft. Es geht auch darum, gemeint zu sein, gesehen zu werden: als denkender, fühlender Mensch. Also: Love Play Fight!
Und dennoch gibt es Dinge, die wir nicht unbedingt wollen: Voyeurismus, das Lachen auf Kosten anderer, das Bedienen einer Faszination für ungewohnte Erscheinungsformen des Menschlichen, das sprichwörtliche Schenkelklopfen usw. Wo sind die Grenzen?
Sicher besteht hier ein Konflikt: Jeder muss denken können, was er will. Die Gesellschaft ist offener geworden, die ganze Bandbreite der Haltungen ist heute sichtbar. Das Dunkel des Zuschauerraums kann viel Macht entfalten. Wer Theater macht, muss das zulassen. Aber das Theater ist ja, wie der Film, auch intelligenter geworden in der Reflexion des eigenen Mediums. Problematische Formen der Rezeption können sichtbar gemacht werden. Theater kann aufscheinen lassen, wie viel Normativität in unserem Wahrnehmen steckt. Theater kann in diesem Sinn die Haltungen des Publikums, auch dort wo sie problematisch sind, auf die Bühne bringen.
Wir könnten also sagen: Das Theater führt mir meine Befangenheit vor. Viele kanonisch gewordene Theater-Texte haben das ja immer schon gemacht. Gleichzeitig wissen wir, dass auch die Instanz, die das vorführt, befangen ist. Wenn ich jetzt noch einmal den theorós in seiner Rolle als Beobachter anderer Kulturen bemühe und diese Rolle mit der Dramaturgin als einer Expertin im Umgang mit Stoffen verbinde: Darf Theater, darf Kunst überhaupt «andere» Kulturen oder Communities zur Darstellung bringen, ohne diese von innen zu kennen?
Grundsätzlich würde ich sagen: Ja, die Kunst darf das unbedingt, sie soll das sogar. Theaterleute sind weder Historiker noch Ethnologen. Sie sind kompetent darin, Wirklichkeiten zu fiktionalisieren, spekulativ weiter zu fabulieren. Dabei geht es, wenn wir von dramatischen Texten reden, um das Herausarbeiten von Typen, die zwar vielleicht aus der Beobachtung geschöpft sind, die aber vor allem geeignet sein müssen, in einer Theater-Erzählung zu funktionieren und also den Blick auf mögliche Welten zu öffnen. Es gibt aber unter vielen anderen Theater-Formen z.B. auch das dokumentarische Theater. Es erhebt, was die Faktizität oder Authentizität des Dargestellten betrifft, einen ganz anderen Anspruch. Diesem Anspruch muss es dann auch gerecht werden. Der Prozess ist ein ganz anderer, die Recherche hat ein ganz anderes Gewicht. Die Frage, ob eine Person der Zugehörigkeit X mit dem Erfahrungshintergrund Y von einem Schauspieler der Zughörigkeit Z dargestellt werden darf, erhält ein ganz anderes Gewicht. Entsprechend sind es in solchen Theaterformen dann oft die darstellende und die dargestellte Person dieselbe. Ich sage dazu: Ja, kann man machen. Aber damit hat man sich der Frage, wer für wen sprechen darf, noch nicht unbedingt gestellt. Theater wird interessant, wenn es sich angreifbar macht, wenn es Grenzen überschreitet, nicht wenn es Codices befolgt.
Die Frage, wer für wen sprechen darf, prägt die Gegenwart, und die Frage, was Kunst darf, in einem nie gekannten Ausmass. Ein gutes Beispiel ist für mich Spike Lee, der Quentin Tarantino das Recht und die Fähigkeit abspricht, einen fundamental-kritischen Film über die Geschichte der Sklaverei zu machen. Es gibt also, zumal wenn ein historischer Konflikt auch in der Gegenwart nicht gelöst ist, eine Art Sippenhaft des Dürfens und Nichtdürfens im künstlerischen Umgang mit «Anderen».
Es erinnert mich an das Beispiel von Gayatri Spivak, die Julia Kristeva das Recht absprach, sich für chinesische Arbeiterfrauen einzusetzen. Kristeva habe sich, so Spivak, in einer Sache, die nicht ihre sei, und überdies aus falschen Motiven, in Szene gesetzt. Sie würde wie viele westliche Intellektuelle andere Kulturen benennen, aber dabei nur an der eigenen Identität interessiert bleiben. Spivak kann mit diesem „kolonialistischen Wohlwollen“ wie sie es nennt, nichts anfangen. Das hat sicher auch etwas Wahres, aber das Problem, das ich bei solchen Voten habe, ist der Modus der Unterstellung und der pauschalen Wahrnehmung von Gruppen. Ganz aktuell im Beispiel von Frank Castorf, der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sinngemäss zu Protokoll gibt, dass Frauenfussball langweilig sei und dass Frauen kein Theater machen können (Ausgabe vom 29. Juni 2018, Anm. d. Red.). Das ist so unterirdisch, dass es keine Aufmerksamkeit verdient. Doch es befeuert dann in der Reaktion einen Kampf der Frauen gegen die Männer, an dem ich mich leider nicht beteiligen kann. Einfach aus dem Grund, weil man damit letztlich nur im Reaktionsmodus in Opposition zu einer Person geht, die dadurch ein Gewicht kriegt, das ihr nicht zukommt. Und ich mag auch die eigenartige neue Kultur nicht, die der Logik folgt: „Lass uns schnell einen offenen Brief schreiben und Unterschriften sammeln.“ Was soll damit erreicht werden? Was wird ver- oder geändert? Man bleibt doch damit immer nur im schön eingezäunten Empörungsraum, den man fälschlicherweise für einen Handlungsraum hält. Und hinterher klopfen sich alle, die irgendwo unterschrieben haben, auf die Schultern. Weil man auf der richtigen Seite steht. Auf der richtigen Seite wovon? Und daher genauso langweilig und anachronistisch wie das Denken, dass Fussball ein Männersport ist. Ich denke: Wenn wir einmal bei der Erkenntnis angekommen sind, dass es die Männer, die Frauen usw. so nicht gibt, wird sich auch die Frage, wer auf der Bühne wen darstellen darf oder kann, ziemlich weitgehend in Luft auflösen. Jedenfalls liesse sie sich dann viel präziser stellen.
Eine der theaterästhetischen Positionen in diesem Themenfeld ist das Postmigrantische Theater. Der Begriff wurde Anfang der 10er Jahre u.a. von Shermin Langhoff geprägt. Postuliert wird darin, kurz gesagt, dass «andere» Erfahrungen auf die Bühne kommen. Wie stellst du dich dazu?
Ich kann die Forderung verstehen und auch ernst nehmen. «Postmigrantisch» wird ja strategisch eingesetzt – der Gap zwischen dem klassischen Theaterpublikum und der Mehrheit aller anderen Bevölkerungsgruppen wird sichtbar gemacht und ein Stück weit überwunden. Gleichzeitig finde ich Kunst, die noch einmal abbildet, was Medien sowieso abbilden, redundant und unkünstlerisch. Und ich habe auch Mühe mit Wörtern wie «postmigrantisch» oder «politisch» oder «engagiert», die man vor die jeweilige Kunstform schnallt. Ich sehe auch, dass es Theaterhäuser gibt, die sich geradezu genötigt fühlen, darauf in einer Weise zu reagieren, die Repräsentationspolitik auf Quoten reduziert. Man fragt dann: Wie viele Ausländer sind bei dir im Ensemble? Haben wir noch eine türkische Person? Jemanden mit schwarzem Hintergrund? Ich empfinde da eine grosse Ambivalenz. Natürlich ist es richtig, dass ein Querschnitt durch Zürich oder Berlin nun mal nicht weiss ist. Und dennoch sehe ich, wenn ich ein Ensemble zusammenstelle, nicht Hautfarben. Ich sehe Menschen. Ich frage mich vielleicht, aus welchem Milieu sie kommen. Ich interessiere mich dafür, wie sie denken, welche künstlerischen Interessen sie haben, ob sie mich mit und durch ihre Kunst ansprechen, Charisma und Witz haben. Ich interessiere mich dafür, ob sie neugierig sind. Ob sie bereit sind, Experimente zu wagen. Ich achte auf Sensibilitäten und Affinitäten, nicht auf repräsentative Eignung.
Interessant ist nun aber, dass ja Schauspielerinnen davon leben, dass man sie auswählt und Rollen mit ihnen besetzt, und dass man dabei nie vom Äusseren abstrahiert. Als Mensch auf der Bühne, und das heisst auch als Mensch auf den entsprechenden Aufmerksamkeitsmärkten, muss ich mich unterscheiden. Die Frage der Eignung von Menschen mit bestimmter Zugehörigkeit für bestimmte Rollen wird oft genug als Problem beschrieben, und dennoch steht sie unausweichlich im Raum. Fotografiert oder porträtiert werde ich, wenn ich eine Rolle bekommen und eine Karriere machen will, nicht als Neutrum, sondern als Mensch mit Eigenschaften.
Klar. Es gibt ein solches Bedürfnis, das oft von aussen kommt. Mir geht es ja nicht anders. Ich werde gefragt, wo ich herkomme. Ob ich Türkin bin, oder Deutsche. Ob ich aus einer bildungsfernen Schicht komme, und wie man sonst noch ein Porträt von mir aufmachen könnte. Aber ich bin Hayat. Ich habe einen Namen. Ich bin ein Mensch, der bestimmte Dinge tut bzw. nicht tut. Ein Mensch, mit dem man sich unterhalten kann, oder auch nicht.
Wir sind jetzt definitiv bei der Frage Öffentlichkeit als dem Raum, in dem, im Guten wie im Schlechten, Meinung gemacht wird, in dem Werte und Bewertungen verhandelt werden. In der Geschichte war Theater selber immer wieder so ein Ort. Heute gibt es mehr oder weniger hilflose Versuche, Theater interaktiv zu machen. Und es gibt eine nicht kleine Macht der Nachfrage: Du überlebst im Grunde genommen nur dann, wenn dein Haus gut genug gefüllt ist. Da musst du doch mitunter auch Bedürfnisse bedienen, die du nicht unbedingt magst.
Gehen wir noch einmal zurück ins antike Griechenland. Bei der Schau, von der wir reden, ging es um Festivitäten, Prozessionen, sportliche Wettkämpfe, Chortänze mit Lied und Musikbegleitung usw. Theater war so gesehen – sehr verkürzt gesagt – ein Fest und ein Wettkampf. Das agonistische Prinzip war dominant, sprich: es ging um Rede und Gegenrede, es ging um den Dialog gegensätzlicher Standpunkte, den Wettstreit der Argumente wie beispielsweise in der Tragödie. Agon als Fähigkeit zur öffentlichen Widerrede, die durch Übung erweitert und verbessert werden konnte – und das auf Seiten der Wettkämpfer wie auf Seiten der Schauenden – war ein radikal partizipativer Vorgang. Das Publikum war noch nicht durch die Dressur gegangen, wie wir sie heute kennen, also dass man als Zuschauer im Dunkeln sitzt, auf die Bühne starrt und die Klappe hält. Oder dass, wie heute, Theater manchmal alles tut, um ein Publikum zu haben. Dieser Form von Marketing im Kunstkleid möchte ich etwas Radikaldemokratisches und zugleich Künstlerisches entgegensetzen. Wer weiss, vielleicht ist Theater als utopische Methode und Möglichkeitsraum auch die kommende Versammlung.
Das wäre eine Art Tauschhandel: Die politisch-mediale Arena bedient die Schaulust und die Erregungskurven, ist Inbegriff der Gesellschaft des Spektakels, ist das grössere und schlechtere Theater. Die Bühne nimmt sich den brach liegenden Raum zurück und wird der bessere Versammlungs-, Verhandlungs- und Erinnerungsort.
Ja, man könnte sagen, dass die Theatrokratie, die sogenannte Massenerregungskunst, die von der Wirkung her konzipiert ist, heute da stattfindet, wo das Theater nicht ist. Und ich stimme dir zu, dass die Künste und Medien tendenziell marketinggetriebener sind, auf kurzfristige Schocks und Provokationen in Schlagzeilen-Länge setzten, in den Dienstleitungsmodus gehen. Dabei kommt Kunst ja nicht von Kundenbefragung. Und doch sehe ich darin natürlich den Kampf der Künste um Aufmerksamkeiten. Man kann das aber auch unterwandern und sagen: Lasst die anderen die Schaulust befriedigen und dem Theater mehr Raum für eine Selbst-Besinnung geben. Wenn Theater als Kunst relevant sein soll, muss es fragen, wie es mit seinen ureigenen Mitteln in die Gesellschaft eindringen kann. Dahingehend, dass der Raum für das, was nicht ist, geöffnet wird.
Hayat Erdogan ist Dramaturgin und Dozentin, ab 2019 ist sie Teil des Leitungsteams des Theater Neumarkt. Das Gespräch mit ihr wurde von Ruedi Widmer am 3. Juli 2018 geführt.
Ruedi Widmer, *1959, ist Kulturwissenschaftler und Kulturpublizist. Er leitet den Master Kulturpublizistik an der ZHdK und ist verantwortlich für die Plattform Kulturpublizistik.