Was ist Kulturmigration?
Seit seiner Gründung heisst Zollfreilager im Untertitel „Kulturmigrations-Observatorium“. Die Vermutung: Das Wandern der Menschen und das Wandern der Werke – wie man über das eine und das andere denkt und spricht – könnte etwas mit einander zu tun haben. Ob und wie und wieviel, das war im Frühling 2014 die Forschungsfrage.
Im Sommer und Herbst 2015 wird die Frage, wer oder was wandert, und mit welchem Recht, virulenter. Die Denk- und Sprechfiguren beim Regeln des Wanderns der Werke und der Menschen gleichen sich teils frappant. Mit dem relevanten Unterschied, dass man es bei den Menschen mit einer Einwanderungsangst und bei den Kulturgütern mit einer Auswanderungsangst zu tun hat. Das zeigt sich etwa in der Debatte um das neue deutsche Kulturschutzgesetz und in einer Wortmeldung von Arnold Nesselrath (SZ vom 27. Juli) so:
„Die Liste denkwürdiger Objekte, die ausgeführt worden sind, ist lang, auch aufgrund der Tatsache, dass Kunstwerke, die in einem Bundesland keine Exportgenehmigung erhalten haben, aus einem anderen ausgeführt werden konnten. Das Risiko der bestehenden Regelung ist nicht kalkulierbar, daher ist die neue Richtlinie sehr willkommen.“
Es geht also, wie bei den Gesetzgebern im Bereich wandernder Menschen, um ein nicht kalkulierbares Risiko (dasjenige der Einwanderung „aus wirtschaftlichen Gründen“), allerdings handelt es sich hier, bei den Werken, um das Risiko, dass sie (selbstverständlich ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen) auswandern.
Um das Problem einer ökonomischen Blickweise, wenn es um Identität, also um das Wir geht, und um die Erlaubnis zur Auswanderung von Werken zu unterstreichen, zitiert der Autor das Edikt des Kardinals Bartolomeo Pacca (1756 – 1844): „Die Kulturgüter, da konstituierende Elemente der kulturellen Identität der Nation, sind, was die Angelegenheiten ihres Umlaufes betrifft, nicht mit den Waren vergleichbar.“
Es folgt, nicht überraschend, die Frage, wie man bei den Werken, die auswandern wollen, beantworten kann, ob sie zu uns gehören oder nicht. Da gibt es Staaten wie England, die nach der Bedeutung eines Werkes für die Nation fragen. Oder aber Italien, das, auf den Spuren des Kardinals Pacca wandelnd, einfach klar macht, dass ein auswanderungswilliges Werk, wenn es älter als 50 ist, immer um Erlaubnis bitten muss.
Wir lernen: Bei den Werken wie bei den Menschen, bei den Gesetzen zur Vermeidung der Auswanderung wie bei denen zur Vermeidung von Einwanderung, kommt man in Teufels Küche, wenn man nach ihrer eigentlichen Kultur-Natur fragt.
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Ruedi Widmer, *1959, ist Kulturwissenschaftler und Kulturpublizist. Er leitet den Master Kulturpublizistik an der ZHdK und ist verantwortlich für die Plattform Kulturpublizistik.