Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Daniela Bär

W wie Weltsprache Fotografie

Im Jahre 1931 hielt der Fotograf August Sander einen Rundfunk-Vortrag mit dem Titel „Die Fotografie als Weltsprache“. Sander, der später als Porträtist des deutschen Volks in die (Fotografie-)Geschichtsbücher eingehen sollte, sah im damals noch jungen Medium ein Kommunikationsmittel mit esperantoähnlichem Potential:

„Durch die Photographie sind wir heute in der Lage, unsere Gedanken, Vorstellungen und Tatsachen allen Völkern der Erde zu vermitteln (…). Ein Photo aus dem Weltall (…) würde auch dem weltentlegensten Buschmann verständlich sein.“

Sander nutzt die Fotografie vor allem für seine physiognomischen Studien, da sie „die stärkste Ausdruckskraft besitzt, die die Sprache niemals erreichen kann“. Die Vorstellung der Fotografie als Weltsprache und das Zuschreiben von egalisierenden, universalistischen Eigenschaften werden in der Nachkriegszeit erneut hochaktuell und entsprechen den Bedürfnissen einer von globalen Krisen gezeichneten Gesellschaft. Das Trauma des zweiten Weltkriegs, der Kalte Krieg, die nukleare Bedrohung – all diese weltpolitischen Umstände wirken deutlich spürbar auf diverse Ausstellungsprojekte ein: So auch auf The Familiy of Man. Im Januar 1955 öffnet diese Ausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) in New York ihre Türen für ein Massenpublikum, das diese zur meistbesuchten Ausstellung in der Geschichte werden lässt. Der Initiant der Ausstellung, Edward Steichen, tritt dabei mit dem ambitionierten Ziel an, der Fotografie im Kunstkontext ihren verdienten Platz einzuräumen und gleichzeitig den Weltfrieden zu fördern. Carl Sandberg, Dichter und Schwager des Kurators, schreibt dazu:

«Der erste Schrei eines Neugeborenen in Chicago oder Zamboanga, in Amsterdam oder Rangoon hat gleiche Bedeutung: ich bin da, ich bin durchgekommen, ich gehöre zu euch, bin Teil eurer Familie… Mögen die Neigungen der Menschen von Ort zu Ort und nach der Zeit wechseln, in allen Regionen der Welt, bei allen Völkern, überall fragen wir Menschen, was der Himmel, die Sterne, das Meer, die Erde uns zu sagen haben. Gleich und immer wieder gleich sind wir in allen Erdteilen im Verlangen nach Nahrung, Liebe, Kleidung, Schlaf, Verehrung, Spiel.»

Die 500 gezeigten Fotografien sind nach Themen wie den von Sandberg aufgezählten geordnet und zeichnen in ihrer Gesamtheit das Bild eines typischen menschlichen Lebens – die Gleichheit aller Menschen wird durch die Ähnlichkeit der einander gegenübergestellten Bildmotive behauptet und zugleich vermeintlich bewiesen. Über neun Millionen Menschen besuchen und feiern die Ausstellung, die kaum von kritischen Stimmen begleitet wird – diese ertönen erst in den 1960er-Jahren. Kritiker wie Roland Barthes oder Allan Sekula stören sich an der rein illustrativen Bedeutung der Fotografie, befürchten die Eroberung der Kunstmuseen durch die Massenmedien und vermissen eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem humanistischen Statement, das Steichen mit seiner Ausstellung macht. Laut dem Fotografiehistoriker Olivier Lugon sind es vor allem die aufkommenden Cultural Studies, die den Vorwurf in den Diskurs tragen, dass in der Ausstellung „die Festschreibung der Werte der amerikanischen Mittelklasse“ vollzogen werde. Dieser Kritikpunkt sei ein Vorbote für die Fragen der „Globalisierung auf politischer, kultureller wie ökonomischer Ebene“.

Bis heute ist der Diskurs über die universelle Sprache der Fotografie am Beispiel von The Familiy of Man von der Diskrepanz geprägt, die zwischen der propagierten Gleichheit und der tatsächlichen Umsetzung des Ausstellungskonzepts herrschte. Laut Edward Steichen wurden Amateur- und Berufsfotografen aller Kontinente zusammengetrommelt, um Bilder aus allen Regionen der Welt zeigen zu können – bei genauerer Betrachtung muss dieser Aspekt der Universalität revidiert werden: Die Amateuraufnahmen bilden einen verschwindend kleinen Anteil der Ausstellung und knapp drei Viertel aller Bilder zeigen Motive aus den Vereinigten Staaten oder aus Westeuropa. Dazu kommt, dass fast 90 Prozent der Bilder von amerikanischen oder westeuropäischen Fotografen stammen. Beide Statistiken zusammen verraten schliesslich, dass der Blick auf die Gegenden ausserhalb von den USA und Westeuropa meist ein amerikanischer oder ein westeuropäischer war – weiter hat das Life Magazin über hundert Fotografien (also ungefähr ein Fünftel) beigesteuert, weitere vierzig stammen von der Agentur Magnum Photos. Steichens Ausstellung repräsentiert also nicht nur ein Nachkriegs-Friedens-Bedürfnis, sondern vor allem auch die Globalisierung der fotografischen Bild-Produktion. Die ehemals fernen Regionen sind zugänglicher denn je, zahlreiche Fotojournalisten weiten ihre Tätigkeit auf vorher unerreichbare Gebiete aus. Olivier Lugon spricht in diesem Zusammenhang von einem „Exotisierungsentzug“:

„Diese Annäherung und dieser gleichzeitige ‚Exotisierungsentzug‘ der Ferne bestimmen nun auch das Verhältnis des abendländischen Betrachters zu den Bildern. Dieses neue Verhältnis ist Grundlage der Ausstellung The Family of Man, in der das Erstaunen über die Intimität und die Nähe der Ferne die Faszination der Ferne an sich ersetzen soll, die Kern des Exotismus war. Steichen macht in gewisser Hinsicht nichts anderes als aus der Situation des Betrachters der modernen Massenmedien eine humanistische Moral zu ziehen, indem er einen Eindruck von Nähe als Brüderlichkeit ausgibt, der jedoch in erster Linie das Resultat einer neuen Zirkulation von Bildern und Fotografien ist.“

Für Steichen sieht die neue Möglichkeit, weit voneinander Entferntes direkt nebeneinander zu zeigen, als Chance zur Versöhnung. Diesen Gedanken nimmt Arnold Kübler, Gründer der Kulturzeitschrift DU, auf, als er im November 1955 eine Ausgabe seines Hefts der Ausstellung von Steichen widmet. Im Vorwort schreibt Kübler:

„Da fallen viele Unterschiede in nichts zusammen, die sonst von Bild zu Bild sich für uns auftun und uns wichtig erscheinen; belanglos die Fragen nach Zeit, Ort und nach den handelnden Gestalten. Kein „Wer ist’s?“ soll uns beschäftigen. Suchen Sie, verehrte Freunde, nicht nach erklärenden Legenden: es geht nicht um Berichte, sondern um die Aufhebung zeitlicher und örtlicher Unterscheidungen. (…) Ein Hinweis hegt in den Bildern dieses Hefts auf die Einheit, auf die Gleichheit der Menschen, darauf, dass wir alle Gottes Kinder sind und aus seiner Hand kommen, wie die Sprache des Glaubens es sagt; (…).“

Aus den 500 Fotografien Steichens wählte Kübler 35 Aufnahmen aus, die zusammen nach dem indischen Spruch „Tat twam asi“ („das bist du“) funktioniert. Dass nicht jeder Teil der Welt sich von diesem „du“ angesprochen fühlt, zeigt die Ausstellung selbst und spätestens dann, als sie sich auf Wanderschaft begibt: Die regional unterschiedlichen Hängungen der Fotografien beeinflusst die ursprüngliche Aussage der Ausstellung massgeblich. In Zürich steht ein Bild der Wasserstoffbombe, das in anderen Ländern jeweils den Abschluss bildet, am Anfang. In Japan kommt es sogar zu einem diplomatischen Zwischenfall: Der Architekt Kenzo Tange fügte der Ausstellung sechzig japanische Bilder hinzu und erstellt mit Hilfe der Negative die Ausstellung komplett neu, statt sie einfach zu übernehmen – es wird Kontext hinzugefügt, wo dieser einst weggeschnitten wurde, und Bilder werden auf Motive reduziert, die die Amerikaner so nicht vorgesehen hatten. Bei der Eröffnung ist schliesslich das Kaiserpaar anwesend, weshalb die Bilder teilweise hinter einem Vorhang versteckt oder abgehängt werden – die universelle Sprache der Fotografie wird durch das lokale Geschichtsbewusstsein wieder in regionalen Dialekt übersetzt.

Quellen:

  • Arnold Kübler: Vorwort DU November 1955: The Family of Man – Wir Menschen.
  • Olivier Lugon: Die globalisierte Ausstellung: The Family of Man, 1955, in: Bernd Stiegler (Hg.): Ausgestellte Fotografien. (Fotogeschichte 112/2009)
  • Allan Sekula: Der Handel mit Fotografien.