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Der Balken in meinem Auge

Von Zäunen, Städten und Menschen. Interview mit dem Fotografen Michael Züger

DAMIAN CHRISTINGER: Vor mir liegt deine Publikation «Yugoslavian Standard», die zu gleichen Teilen aus einem Textapparat und einem Fotoessay besteht. Die Bilder sind nächtliche Nahaufnahmen von Maschendrahtzäunen – nennt man die eigentlich so?

MICHAEL ZÜGER: Das sind sogenannte Streckzäune, die man herstellt, indem man ein Blech in regelmässigen Abständen einschneidet und dann auseinanderzieht, bis eben jene rautenförmige Struktur entsteht, die uns an den deutschen Maschendrahtzaun erinnert. Diese Zäune wurden im ehemaligen Jugoslawien zentral hergestellt, und so findet man sie in allen Nachfolgestaaten, also Serbien, Montenegro, Kroatien, Mazedonien, Kosovo und Bosnien.

Was hat dich an diesen Zäunen interessiert?

Zäune trennen, sie grenzen ein Gebiet gegen ein anderes ab, sie versperren den Zugang. Diese Bedeutung hat sich durch die Nationalismen, die bei der Nationenbildung nach den Jugoslawienkriegen hervortraten, verstärkt. Ihre Form aber ist überall die gleiche. Überspitzt könnte man sagen, dass das trennende Element gleichzeitig ein verbindendes ist.

Im Textteil findet sich dein literarisches Reisetagebuch, parallel dazu gibt es kulturhistorische Essays und Rap-Texte verschiedener Hiphop-Künstlerinnen und Künstler. Wieso Hiphop?

In den Texten der MCs werden viele Probleme der eigenen Gesellschaft verhandelt. Im «Balkan Hiphop» gibt es viele politische Lieder, die auch sehr populär sind. Populär auch deshalb, weil er ein Ausdruck junger Menschen in diesen Regionen ist, die auf der Suche nach einer neuen Identität jenseits der nationalen Identität sind. Texte wie «Die Jungen trinken Bier, drehen unser schlechtes Gras, die einen wollen Veränderung, aber die Mehrheit ist einer Gehirnwäsche unterzogen, es herrscht eine andere Zeit, statt der Rocker sind die Politiker Stars, sie ängstigen das Volk mit Krieg, meine Freunde ergrauen, alle sind grosse Serben, grosse Kroaten und Muslime, aber alle sind hungrig und so sehr in der Scheisse, alle schreiben ihre Geschichte und alle sind im Recht» von Edo Maajka sprechen junge Menschen auf allen Seiten der Grenzen an. Der Hiphop ist in diesen Ländern – im Gegensatz zur Schweiz – äusserst populär. Die Liedtexte, die sich im Buch finden, behandeln zum einen das Thema des Zaunes, sprechen vom Abgrenzen und dem Überwinden der Grenzen, zum anderen bilden sie einen Soundtrack zu meinen Reisetagebucheinträgen und den Fotos der Zäune.

Das Buch wurde 2013 publiziert und war gleichzeitig auch deine Abschlussarbeit an der ZHdK. Wie ging es anschliessend weiter?

Nach der Geburt meiner Tochter bin ich gemeinsam mit meiner Partnerin, einer Slawistin und Kulturwissenschaftlerin, wegen ihrer Doktorarbeit für drei Jahre nach Belgrad gezogen. Dort habe ich viel fotografiert.

Immer noch Zäune?

Nein, diesmal mehr die Stadt und ihre Menschen.

Welches Belgrad interessiert dich?

Mich interessieren alle Aspekte der Stadt. Zum Beispiel Neu-Belgrad mit seiner sozialistisch-brutalistischen Architektur. Im Gegensatz zu den Banlieues um Paris oder den Plattenbausiedlungen in Berlin gilt Neu-Belgrad als gute Wohnlage. Viele gut situierte und gesellschaftlich angesehene Menschen wie Professoren, Lehrerinnen oder mittlere und höhere Beamte haben dort noch in sozialistischer Zeit Wohnraum zu guten Konditionen erworben. Ganze Blocks gehörten Firmen, die dort ihre Angestellten unterbrachten. Brutalismus ist gerade Mode, das hängt vielleicht mit den westlichen Sehnsüchten nach Rauheit und Unmittelbarkeit in einer weichgespülten Medienrealität zusammen. Aber auch mit der Faszination für das Andere, welches jetzt nicht mehr bedrohlich ist. Für die Menschen in Neu-Belgrad zählt allerdings etwas anderes, nämlich das viele Grün, die Bäume, Parks, die Promenaden, der grosszügige öffentliche Raum, der allen zugänglich ist. Die «innerkulturelle» Rezeption der brutalistischen Architektur ist ein wenig differenzierter als die westliche und bettet sie historisch sowie soziologisch ein. Leider sind die meisten dieser Essays und Artikel für die westlichen Leserinnen und Leser wegen der Sprachbarrieren nicht zugänglich, wobei die Website «The Calvert Journal» auf Englisch publiziert wird und so auch einem breiteren Publikum zugänglich ist.

Widerspiegelt dies nicht auch eine nostalgische Sehnsucht nach der guten alten, sozialistischen Zeit?

Natürlich, doch die Realität ist eine andere. Die eingesessenen Läden in Neu-Belgrad müssen schliessen, weil alle im Zentrum einkaufen und die amerikanisch geprägten Shopping Malls boomen.

Man liest von Überbauungen, Bürotürmen und Shopping Malls im historischen Hafengebiet von Belgrad, denen ziemlich viel Widerstand entgegenschlagen soll.

Die Überbauung wird Belgrad Waterfront genannt. Es handelt sich um ein Gebiet an der Sava, welches arabischen Investoren verkauft wurde. Der Verkauf des Bodens war total intransparent und wurde über den Köpfen der Bürger Belgrads hinweg vollzogen. Das Fass zum Überlaufen brachte das Abreissen ganzer Strassenzüge durch maskierte Männer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Wer den Auftrag gegeben hat, ist bis heute unklar. Daraufhin folgten regelmässige Proteste mit mehreren Tausend Menschen gegen die Gentrifizierung, die Intransparenz und die Korruption.

Die Fronten scheinen sehr hart zu sein. Gibt es in Serbien auch einen Sinn für den Zusammenhalt?

Wie in der Schweiz ist die Realität komplex. Es gibt grosse Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen martialischen Nationalisten und eher linksintellektuellen Milieus. Auch zwischen den Generationen finden Auseinandersetzungen statt, die sich dann eben beispielsweise im Hiphop zeigen. Die Präsenz der vielen Flüchtlinge hat die Dinge noch weiter kompliziert gemacht. Einigend ist eine gewisse Skepsis dem Westen und Europa gegenüber, von denen man sich im Stich gelassen fühlt. Auch sind die Bombardements der NATO natürlich noch nicht vergessen und schon gar nicht verziehen.

Du sprichst die Flüchtlinge an. Europa scheint Serbien als Grenzregion zu verstehen, als Teil des Walls gegen die vermeintlich anstürmenden Flüchtlingshorden; als Teil einer Aussengrenze, die kulturell definiert wird. Die Medienbilder von Flüchtlingsfamilien, die sich an stacheldrahtbewehrte Zäune klammern, sind um die Welt gegangen und haben sich in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt. Dies setzt deinen Fotoessay von 2013 in einen neuen Zusammenhang.

Ja, leider. Während meine Arbeit damals darauf angelegt war, die neuen physischen und mentalen Grenzen im Raum Ex-Jugoslawiens auszuleuchten, so ist heute das Thema der Grenze auch für Europa wieder zentral. Die sogenannte Balkanroute führte genau durch die Stadt Belgrad. Obwohl von Seiten der Regierung wenig Geld für die Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung stand, war ein grosser Teil der Bevölkerung sehr solidarisch.
Als Tausende von Flüchtigen am Bahnhof strandeten oder in ausgedienten Hütten am Rande von Baustellen Unterschlupf fanden und dort bei eisigen Temperaturen ausharrten, gab es viele Belgrader und Belgraderinnen, die ihnen Decken, Nahrung und Kleidung vorbeibrachten. Fast jeden Tag wurden in Schulen und Kulturzentren Material gesammelt und verteilt. Auch Menschen, die ansonsten vielleicht politisch eher rechts anzusiedeln sind, haben sich solidarisiert, vielleicht auch, weil eben die Erinnerung an die Kriege, die Bombardements und die vielen Fluchten im eigenen Land noch immer sehr präsent sind. Natürlich gab es auch laute Stimmen der Gegenseite, dies war ja auch in Deutschland der Fall, aber ein konsequenter Rechtsrutsch wie in Ungarn, Polen oder Österreich fand nicht statt.

Michael Züger ist Künstler, Fotograf und Dozent. Er lebt in Zürich.

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Zollfreilager und Coucou. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Michael Züger wurde von Damian Christinger am 14. März 2018 in seiner Küche geführt.