Von Identitäten und Krisen und Identitäten in der Krise
An der Generalprobe zu Yan Duyvendaks Produktion «VIRUS» geht es um Leben und Tod. Eine Pandemie bahnt sich an, die Gesellschaft befindet sich in der Krise und Ich ist plötzlich ein Anderer, und dann wieder doch nicht. Eine Suche nach Lösungen und Antworten auf die Frage, was Identität eigentlich für ein Konstrukt ist.
Identität. Denke ich daran, so ist das erste, das mir dazu einfällt, die ID. Identitätskarte – eine Karte mit einer Identität. Meiner Identität. Dieses kleine Stück Plastik, das darüber entscheidet, wo auf der Welt ich wie viele Rechte habe. Dieses kleine Stück Plastik, das so viel Macht besitzt. Dieses kleine Stück Plastik, das beeinflusst, wie ich von gewissen Personen behandelt werde. Dieses kleine Stück Plastik, an das so viele Privilegien gebunden sind. Dieses kleine Stück Plastik, das Anderen beweist, dass Ich Ich bin. Als wäre es etwas Unantastbares. Auf der Vorderseite Name, Vorname, Geburtsdatum, Porträt und Ausweisnummer, auf der Rückseite Grösse, Geschlecht, Heimatort, Behörde, Ausstellungsdatum, Punkt. Mein Blick fällt auf das Ablaufdatum und ich frage mich, ob auch meine Identität irgendwann auslaufen wird. Was geschieht dann? Erneuern? Liegt auf der Hand. Was ist aber, wenn ich damit nicht mehr zufrieden bin? Kann ich meine eigene Identität ändern, wechseln oder mir sogar eine völlig neue kreieren? Wer entscheidet darüber, was möglich ist und was nicht? Hat meine Identität damit zu tun, mit was oder wem ich mich identifiziere, oder als was? Und was bitte schön ist das? Ist Identität = Ich?
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12. August, 19.00 Uhr, Aktionshalle Rote Fabrik. Am Eingang werden Identitäten geprüft – Vorname, Name, Mailadresse – und Hygienemasken verteilt. Immer noch Covid-19, immer noch Pandemie. Doch heute Abend ist alles anders.
Für einmal am Schalthebel sitzen, für einmal erleben, wie es ist, eine Pandemie in den Griff zu bekommen. In eine neue Rolle schlüpfen und Entscheidungen fällen, die das Leben von zigtausenden Menschen betreffen. Yan Duyvendaks Produktion «VIRUS» verspricht viel. Doch es ist auch eine beängstigende Vorstellung. Und fast ein wenig ironisch, dass wir – während dem wir uns in einer echten Pandemie befinden – uns in ein Szenario begeben, in dem es gilt, eine ebensolche in den Griff zu kriegen. Doch bevor wir uns in Krisenbewältiger*innen verwandeln, gilt es sich zu entscheiden, in welchem Bereich wir gegen das Virus ankämpfen wollen. Zur Auswahl stehen Behördenkommunikation (rot), Sicherheit (blau), Lebensmittel (hellgrün), Gesundheit (gelb), Wirtschaft (dunkelgrün), Forschung (orange) und Bevölkerung (weiss). Alle Bereiche sind gleich wichtig, wird uns gesagt. Schön, wenn das auch so in unserer Gesellschaft wäre, aber «VIRUS» ist lediglich ein Spiel. Ich entscheide mich für Bevölkerung und begebe mich zu den Anderen in den weissen Westen. Mit im Team der Bevölkerungsvertreter*innen sind meine beiden Mitstudierenden Gianna Rovere und Marcel Hörler.
VALÉRIE HUG: Wer seid ihr heute?
GIANNA ROVERE: Eine leicht konservative Intellektuelle.
MARCEL HÖRLER: Ist das Spiel lustiger, wenn man sich eine Rolle gibt?
GIANNA ROVERE: Warum denn eigentlich nicht?
MARCEL HÖRLER: Ich bin ein Tourist. Ich mag das Exotische und reise gerne.
VALÉRIE HUG: Ich bin ein etwas dicker, weisser, mittelalter Mann.
Das kommt mir passender vor, als Ich selbst zu sein. Auf einmal an den Hebeln der Macht zu sitzen, ist ziemlich weit von meiner eigenen Realität entfernt. Viel wahrscheinlicher ist, dass ich ein weisser Mann bin, so etwas dicker und in meinen «besten Jahren». So mit Frau, Sohn Tobias, Tochter Sarah und Hund Bello, mit Einfamilienhäuschen inklusive Vorgarten und Garage, in dem mein nigelnagelneuer Sport-Kombi blitzeblank steht. Ich stelle mir vor, dass ich Ueli Tobler heisse, ich wäre Fussballfan und ein ganz humorvoller Typ, würde viel lachen, am meisten über meine eigenen Witze.
Ich habe mir eine Rolle gegeben, eine neue Identität für diesen Abend geschaffen.
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Vogelgrippe. Noch ist das Virus nicht bei uns, erst im Ausland. Appell an die Bevölkerung, dass die Verantwortung bei allen liegt? Strikte Beschränkungen oder doch Total Containment?
Uns erreichen Nachrichten, dass das Virus von Rechtsextremisten in die Welt gesetzt wurde. Der Verzehr von Hühnerfleisch – egal ob roh oder gekocht – verbreitet das Virus. Poulet ist kontaminiert. Panikmache.
FAKE NEWS! FAKE NEWS! FAKE NEWS!
Alles halb so schlimm, die Grenzen bleiben offen. Nur drei Todesfälle im Ausland.
MARCEL HÖRLER: Ich bin dafür, dass die Grenzen offenbleiben. Schliesslich will ich reisen.
UELI TOBLER: Die kann man schön zumachen, hier drin sind wir sicher.
Ich, Ueli, bin möglicherweise mit H7N9 infiziert. Muss mich in Quarantäne begeben. Angst. Was machen meine Kinder, meine Frau? Ich hoffe, ich habe sie nicht angesteckt. Warum ausgerechnet ich? Das muss an allen anderen liegen, die da herumreisen und die Lage nicht ernst nehmen.
REAL NEWS: Bin doch nicht infiziert, darf wieder zurück zur Bevölkerung und zu meiner Familie, zu Bello und meinem Sport-Kombi. Aufatmen. Homeoffice. Von Reisen ins Ausland wird dringend abgeraten. Marcel war auf Reisen im Ausland, jetzt muss auch er in Quarantäne. Auch er hat Glück, ist nicht infiziert. Erleichterung.
Wir, die Bevölkerungsvertreter und Gewerkschaften, sind unzufrieden. Wir organisieren eine Demonstration, protestieren vor der Krisensitzung. Sind gegen Fake News, für internationale Solidarität und mehr Lohn für Care-Arbeit.
Alles doch nicht halb so schlimm, die Schulen werden geschlossen. Immer mehr Menschen sterben.
Identitätskrise. Habe ich ein unsicheres Selbstbild? Wohl kaum. Ich, Ueli Tobler, strotze nur so von Selbstachtung und Selbstüberzeugung. Aber ich hätte doch nie an einer Demo teilgenommen! Viel lieber wäre ich in meiner Stammkneipe gesessen, hätte mit meinen cismännlichen Freunden Bier getrunken und mich über diese Unruhestifter*innen aufgeregt. Jawoll!
Die Fassade bröckelt. Ich gerate in einen Konflikt, hinterfrage Uelis Identität. Kann ich mich mit dieser Identität nicht mehr identifizieren, da ich seine Handlungen und Charaktereigenschaften nicht erstrebenswert finde? Wahrscheinlich. Das Experiment ist gescheitert, ich höre auf, Ueli Tobler zu sein, werde wieder Valérie Hug. Hätte ich eine andere Identität besser annehmen können? Eine, die mir mehr entspräche? Gibt es sowas überhaupt wie eine Identität, die mir selbst mehr entspricht, als meine eigene? Warum heisst es dann, dass sich Menschen meiner Generation (Y) so oft in Identitätskrisen befinden? Sind Selbstzweifel, das Nicht-Finden eines Sinnes und Ängste vor der Zukunft die Gründe, die Identitäten in eine Krise stürzen? Ist diese Krise, in der sich meine Generation befindet, schon Teil unserer Identität geworden?
Wenn ich es mir so genau überlege, dann habe ich eigentlich keine Ahnung, was der Begriff Identität zu bedeuten hat. Duden antwortet mir: «Echtheit einer Person oder Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird» und «als selbst erlebte Einheit einer Person.» Wenn ich es mir so genau überlege, dann ist Identität für mich mehr ein leeres Blatt Papier.
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Wir springen in der Zeit vier Jahre nach vorn, uns wird offenbart, in welche Zukunft uns unsere Entscheidungen gelenkt haben:
«Dank all den Entscheidungen, die wir heute getroffen haben, ist es uns gelungen, so viele Menschen wie möglich zu retten. […] unser Umgang mit der Krise ermöglicht es uns, ziemlich nah an der Gesellschaft zu bleiben, die wir kennen: neoliberal und kapitalistisch. […] Die Krise hat die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten im System verstärkt, welches weiterhin mit unendlichen Schulden und nie eingehaltenen Versprechen operiert.»
Für Ueli Tobler wohl eine lohnenswerte Zukunft, ein lautstarkes «Jawoll!». Nicht aber für Valérie Hug, nicht für mich.
Wow, da müssen wir ja einiges falsch gemacht haben, denke ich. Ich frage mich, welche Entscheidungen uns zu dieser Zukunft gebracht haben. Hat die Wirtschaftsgruppe ihre Interessen zu stark durchsetzen können? Hätten mehr Mittel zur Forschung und der Gesundheitsgruppe fliessen sollen? Hätten wir als Bürger*innen uns solidarischer verhalten können? Nach Spielende erfahre ich, dass unser Zukunftsszenario der bestmögliche Ausgang der Pandemie ist. Ich frage mich, ob das in der Realität so kommen wird. Vermutlich etwas in diese Richtung. Ich hoffe mehr auf ein Vielleicht, oder ein Unwahrscheinlich. Das Spiel deutet auf ein Wahrscheinlich. Schliesslich befinden wir uns ja in einer Krise.
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Spezialausgabe
Trading Identities
Valérie Hug, *1993, ist Studentin im Master Kulturpublizistik.