Von der Rolle
Ist das Leben eine Bühne? Spielen wir oder sind wir? Die Grenze zwischen der Identität und der Rolle ist fliessend. Auf der Suche nach Antworten hilft: das Leben selber.
Es gibt Bücher, die nimmt man in die Hand, ohne zu ahnen, dass sie im Leben prägend sein werden. Ein solches Buch war für mich Erving Goffmans Soziologieklassiker «Wir alle spielen Theater» aus dem Jahr 1956. Mit 21 Jahren las ich es zum ersten Mal und war ab der ersten Seite eine leidenschaftliche Anhängerin seiner Gesellschaftstheorie, die uns alle blöd aussehen lässt. Schliesslich behauptet er nichts anderes, als dass unsere sozialen Identitäten konstruiert und wir alle mehr oder weniger gute Schauspieler:innen auf der Bühne des Lebens sind. Brandneu ist die Idee, dass wir alle Theater spielen, nicht. Bereits Shakespeare schrieb: «All the world’s a stage and all the men and women merely players.» Goffmans Buch war ein Hit, weil es in eine Zeit fiel, in der das bürgerliche Leben immer mehr als leere Maskerade gesehen wurde.
Was ist entscheidend, um beispielsweise als Ärztin wahrgenommen zu werden? Nach Goffman eben nicht die lange Studienzeit, sondern die Kleidung, die sie trägt, der Raum, in dem sie sitzt, die standardisierte Konversation, die sie mit ihren Patient:innen führt. Und nicht zuletzt: Die Patient:innen machen die Ärztin zur Ärztin, da sie sich von ihr als Patient:innen behandeln lassen. Jemand wird also zu jemandem, wenn er:sie die richtigen Requisiten besitzt, den Jargon beherrscht, die Abläufe befolgt und von anderen entsprechend wahrgenommen wird. Kurzum: Eine Ärztin ist nur ein Mensch, der mit Hilfe von verschiedenen Requisiten die Rolle der Ärztin spielt. Ein Beweis für diese Theorie könnte der Hochstapler Malachi Love-Robinson sein: Mit 18 Jahren eröffnete er eine Arztpraxis in Florida und gab sich für einige Zeit erfolgreich als Arzt aus. Was hatte er anderes getan als zu schauspielern?
Goffman hatte mich überzeugt und ich war hin und weg. Ich hatte mit meinen 21 Jahren schon viele Situationen erlebt, in denen ich das Gefühl nicht loswurde, dass sich mein Gegenüber in seiner Rolle nicht wohlfühlte. Was war quälender als Stunden mit Dozierenden zu verbringen, die sich in ihrer Rolle als Lehrer:innen nicht zurechtfanden?Während sie stammelten und schwitzten, bekam ich vor Mitleid unruhige Beine und schaut alle paar Minuten auf die Uhr. So wurden auch meine antiautoritären Tendenzen unterstützt: Wenn der Professor, der mich nervte, nureine Rolle spielte, dann konnte ich mich auch dazu entscheiden, die Darbietung schlecht zu finden. Goffmans Theorie gab mir einen neuen, anarchischen Blick auf die Gesellschaft und dafür liebte ich sie. Bis vor einigen Wochen, da fiel sie mir in einem anderen Kontext ein, und zum ersten Mal zweifelte ich an ihr.
Ich hatte gerade eine neue Rolle im Leben bekommen, die der allergischen Asthmatikerin. Requisiten: Inhalatoren, diverse Medikamente, Allergienotfallset. Charakteristika: pfeifender Atem. Muss sich oft abstützen und innehalten. Ist meistens müde. Kann nicht: Alkohol trinken, Rauchen, lange wach bleiben, Sport treiben, manchmal Treppen steigen. Risikopatientin. Catchphrase: «Das kann ich nicht, es ist zu anstrengend.» Wenn wir alle Theater spielen, und das auch eine Rolle war, dann fand ich sie beschissen.
Meine Mitmenschen, als «die Gesunden» in diesem Stück, spielten ihre Rolle nicht sehr überzeugend. Oft griffen sie auf seltsame Dialogstücke zurück, die überhaupt nicht zu dem passten, was ich sagte. Wenn ich zum Beispiel mitteilte, dass ich mich nicht gut fühlte, wurde mir geantwortet: «Weisst du, ich kenne jemanden mit Asthma, der/die rennt einen Marathon / isst täglich 500 Gramm Melone / hat es plötzlich nicht mehr gehabt…» Auch ich wurde mit meiner Rolle nicht wirklich warm. Ich sträubte mich gegen sie und wurde trotzdem immer wieder von ihr eingeholt. Zum Beispiel als ich dachte, dass ich an einem Fahrradausflug teilnehmen konnte. Und nach 10 Minuten weinend und um Luft ringend vom Fahrrad stieg, worauf mein Freund Jan mich wieder nach Hause brachte.
Der Gedanke an Goffman machte mich in dieser Zeit wütend. Diese Frechheit, dachte ich, dass dieser Typ sich herausnahm, unser Schicksal als Schauspiel zu bezeichnen. Würde es dem einfachen dramatischen Schema von Einführung, steigender Handlung, Höhepunkt und Schluss folgen, wäre dann in meinem Fall die Dramaturgie vom Heuschnupfen über die Verschlechterung des Zustands bis zum Höhepunkt: der Diagnose? Der Lungenarzt sass mir in einem weissen Kittel und mit gehetzten Augen gegenüber: «Sie haben allergisches Asthma. Damit umzugehen wird ein längeres Projekt für Sie. Wenn Sie es nicht tun, werden Sie an der Sauerstoffflasche enden.»
Tja.
Kam es da noch darauf an, dass der Arzt nur ein Mensch in einem Kittel war, der einen Arzt spielte? Was brachte mir Goffman und die Anarchie im Anblick der nicht bestreitbaren Realität, dass es mit meiner Gesundheit nicht zum Besten stand? Im klassischen Drama folgte auf den Konflikt die Lösung. Davon konnte bei mir keine Rede sein, nur zwei Erkenntnisse habe ich davongetragen: Erstens, das Leben lässt sich nicht ummünzen auf ein Theaterstück.
Zweitens, zu denken, dass wir alle nur schauspielern, muss man sich erst einmal leisten können.
Mittlerweile tendiere ich eher dazu zu glauben, dass wir zwar alle Rollen besitzen im Schauspiel des Lebens, wir uns diese aber meistens nicht ausgesucht haben. Und weil wir sie uns nicht aussuchen, passen Mensch und Rolle oft erdenklich schlecht zu einander.
Jemand, der auch ganz und gar unglücklich war mit seiner angeborenen Rolle, lebte im 18. Jahrhundert und hiess William Hay. Ich habe mich lange mit dem Essay «Of Deformity» beschäftigt, das Hay über seine Rückgratverkrümmung verfasste. Es ist eine wichtige Quelle in den Disability Studies, einem interdisziplinären Forschungsfeld, das sich mit der Kategorie der «Behinderung» beschäftigt. In diesem Feld geht man davon aus, dass mit einer körperlichen oder physischen Beeinträchtigung oft auch eine soziale Benachteiligung einher geht, und dass «Behinderung» somit auch eine soziale Kategorie ist.
Hay ist ein gutes Beispiel für diese These. Die Leser:innen seines Essays merken schnell: Es ging ihm miserabel im England des 18. Jahrhunderts, aber nicht wegen seiner Rückgratverkrümmung, wie man meinen könnte, sondern wegen seinen Mitmenschen. Sie plagten und verspotteten ihn tagtäglich. Hätte Sartre schon gelebt, hätte sich Hay vielleicht seinen Ausspruch «Die Hölle, das sind die Anderen (…und nicht die Rückgratverkrümmung)» über den Rücken tätowieren lassen. Was hätte er dazu gesagt, wenn man ihm erklärt hätte, dass seine «Behinderung» eine Rolle war? Vielleicht hätte er zugestimmt, da er in seinem über 80-seitigen Essay immer wieder beteuert, dass er gar nicht so sei, wie es alle von ihm dachten. Ich glaube, Hay hätte sich einfach eine andere Rolle gewünscht.
Ich verstehe Hay heute besser als früher. Das Mitleid und die gleichzeitige Ignoranz der Mitmenschen einer Einschränkung gegenüber sind so anstrengend, dass man beinahe verführt ist, einen Essay darüber zu schreiben. Gerade gestern suhlte ich mich darüber in Selbstmitleid. Es war mein 26. Geburtstag und einsamer habe ich mich in meinem ganzen Leben nie gefühlt. Sechs Leute waren an mein Geburtstagsessen eingeladen. Fünf davon waren nach kurzer Zeit betrunken. Die eine, die nicht betrunken war, war ich. Ich sass mit meiner Teetasse zwischen den Gästen und fühlte mich wie im falschen Theater. Ohne darüber nachzudenken, war ich davon ausgegangen, dass man auf mich Rücksicht nehmen würde, da ich als Geburtstagskind nicht trank. Man tat es nicht, sondern trank doppelt für mich mit. Später weinte ich alleine in meinem Zimmer lange über die Entourage, die mir das Leben an diesem Abend beschert hatte. Wir alle haben Rollen – und ich glaube, die meisten davon bringen uns früher oder später zum Heulen. Ich bin nicht gern «die Kranke» oder «die Abstinente», Hay war nicht gerne «der Behinderte», viele auf der Welt können sich nicht mit der «Frau» oder dem «Mann» identifizieren, für die oder den man sie hält. Wir sind also nicht Schauspieler:innen, sondern vielmehr Verhandler:innen der eigenen Identität, die sich irgendwo zwischen all den Rollenanforderungen unserer Gesellschaft und unseres Umfelds versteckt.
Einer der grössten Verhandler, den ich kenne, ist mein Freund Jan.
Wenn er jemanden kennenlernt, fragt die Person früher oder später (meistens früher): «Und, woher kommst du?» Am liebsten würde er «Aus der Schweiz!» antworten, aber er sagt, die Fragenden tun ihm leid, er will sie nicht in Verlegenheit bringen. Denn der offene Mund und die leicht geweiteten Augen seines Gegenübers erwarten etwas Exotisches, darum antwortet er: «Aus der Karibik, aus dem Kongo, aus dem Sudan, aus der Schweiz.» Er hat keines der anderen Länder je besucht. Er weiss nicht so recht, ob er von da kommt, sagt er. Aber die meisten suggerieren: Von irgendwoher musst du kommen – aber bestimmt nicht aus Luzern. Sie nervt ihn, die Rolle des «Ausländers», weil er es nicht ist. Die Frage nach seiner Herkunft will trotzdem eine Antwort, und er verhandelt sie jeden Tag neu. «Zuhause? Das ist Zürich, wird es immer sein. Da wo ich herkomme? Luzern, auch wenn es mir nie gefiel. Und wo ich noch hinwill? Nach Guadeloupe, in den Kongo, den Sudan – ich bin mir nicht sicher, aber man hat mir schon oft angedeutet, dass ich dort ein Teil von mir finden werde. Vielleicht ist auch einfach das Essen gut.»
Wegen Jan, wegen mir selber, wegen William Hay, und wegen all den anderen, die unglücklich sind mit ihren Rollen, ist Goffmans Theorie für mich invalid geworden. Das Label «Schauspieler:in» tut Unrecht, man möchte mit dem eigenen Verhalten meistens genau das Gegenteil: In dem, was einen ausmacht, wahrgenommen werden. Böse bin ich Goffman nicht – schliesslich hat auch er sich später in seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit den «Rollen» vertieft beschäftigt, unter anderem schrieb er ein Werk über Gender. Seine These, dass wir alle schauspielern, wird immer noch gerne zitiert und gelehrt, aber dort trennen sich nun unsere Wege. Vielleicht ist es mit dem Schauspielern so: Wir alle kriegen verschiedene Rollen im Leben zugeteilt. Schon bei der Geburt entscheidet meistens jemand, anhand von äusseren Geschlechtsmerkmalen: «Dieser Mensch ist ein Mädchen. Dieser Mensch ist ein Junge.» In der Schweiz zumindest muss man auf Papier eins von beiden sein, «intersexuell» gibt es in unserem Land noch nicht als Auswahl. Mit dieser ersten Rolle kommt schon ein Skript, das mir gebietet, wie ich mich darin zu verhalten habe. Was ich damit mache, gleicht in aller Regel mehr einem Kampf als einem Spiel. Heute mehr denn je, wenn in der Gesellschaft die Frage omnipräsent ist: «Was soll das denn heissen? Männlich, weiblich, geschlechtlich, menschlich sein?» Im Kampf mit den oder gegen die Rollen finden wir uns selbst.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Noëmi Roos (*1995) studiert im Master Kulturpublizistik. Nach einem Studium in Geschichte und Literatur widmete sie sich dem journalistischen und freien Schreiben. Ihre Interessen liegen in der Literatur, gesellschaftlichen Fragen und der Popkultur.