Viele Blicke auf meiner Haut
Eine Therme in Südbayern – textilfreie Zone. Ich bin nackt, alle anderen sind nackt. Warum fühle ich mich so unwohl?
Eine Mischung aus Sehnsucht nach Wellness-Erholung und Experimentierfreude bringt mich dazu, eine Wohlfühltherme im Süden von Bayern zu besuchen. An der Kasse klärt mich die Frau darüber auf, dass ich gleich den textilfreien Bereich betreten werde und die Regel der vorgeschriebenen Nacktheit befolgen muss. Sie versichert sich durch mehrfaches Nachfragen, ob es in Ordnung für mich sei, neben den Saunen auch in den Schwimmbecken ohne Badebekleidung zu sein. Ich nicke voller Überzeugung. Zuvor hatte ich mich auf der Website informiert und mich innerlich auf diese Situation vorbereitet – dachte ich zumindest. In meinen Gedanken würde ich selbstbewusst-entblösst von Becken zu Becken spazieren und abends einen erholsamen Tag verbracht haben. Was wäre schon dabei, nackt zu sein wie alle anderen? Wenn man ohne Bikini spontan mit Freund*innen in den See hüpft, ist das ja auch keine grosse Sache. Aber so wirklich vorbereitet bin ich doch nicht, stelle ich fest, als mich, noch im Bikini, im textilfreien Bereich die feuchte, drückende Schwimmbad-Hitze trifft und mir ein Mann mit breitem Gang und stolzer Brust entgegenkommt. Plötzlich bin ich eingeschüchtert, fast erdrückt von all dieser nassen Nacktheit, die den Raum erfüllt. Überall schwitzige Menschen, baumelnde Glieder und jede Menge Brüste. Ironischerweise kann ich mir nicht vorstellen, mich in so einer Umgebung zu entblössen. Gerade weil alle nackt sind.
Die Therme, in der ich mich befinde, liegt am Ufer eines Sees im oberbayrischen Alpenvorland und ist umgeben von wunderschönen Bergketten. Der 12’000 Quadratmeter grosse Innenbereich versammelt auf seinen drei Etagen viele Bäder und fünf Saunen, ausserdem gibt es ein Restaurant und eine Bar im Pool. Als ich am Eingang des textilfreien Bereichs ankomme, suche ich mir eine Liege im hintersten Eck. Jetzt gilt’s: ausziehen. Kaum eine*r hat zuvor Badebekleidung getragen, und ich komme mir nun ein bisschen lächerlich vor, dass ich überhaupt einen Bikini anhabe. Ich streife zuerst das Ober-, dann auch das Unterteil unter meinem Handtuch ab und bemerke, wie komisch die Situation eigentlich ist. Ich verstecke mich unter dem Tuch, obwohl ich sowieso gleich nackt ins Becken gehen werde. Was mache ich hier überhaupt? Eine erwartbare Situation, die sich dennoch skurril anfühlt.
Noch eingehüllt in mein Badetuch beobachte ich das Geschehen und bemerke, dass sich hier niemand zu schämen scheint. Es gibt viele kleinere Thermal-, Sole- oder Natronbecken mit unterschiedlicher Wassertemperatur, aber auch ein grosses Chlorbecken mit der Poolbar, die schon gut besucht ist. Menschen trinken Weissbier oder bunte Cocktails mit Schirmchen, der Barkeeper ist angezogen, alle anderen sitzen nackt um die Bar herum. In einer anderen Ecke entdecke ich einen Wegweiser, der zu den Saunen und Dampfbädern führt. Die Badegäste spazieren gemütlich von Becken zu Becken und steigen langsam in den Pool. Ich nehme mir vor, dasselbe zu tun und wähle ein Becken, bei welchem der Handtuchständer nahe an der Pooltreppe steht und das auch ins Freie führt – draussen sehe ich, wie sich Menschen auf Massageliegen räkeln und die Aussicht geniessen. Meine ständigen Überlegungen, wie ich es schaffe, möglichst wenig Intimes zu zeigen, nerven mich.
Während ich in das 38 Grad warme, salzige und leicht gelbliche Wasser des Thermalsolebads einsteige, nehme ich Blicke von schwitzenden, älteren Männern auf meiner Haut wahr. Ich versuche, möglichst schnell unter die Wasseroberfläche zu gelangen und den Blicken zu entkommen. Gänzlich im Wasser angekommen, fühle ich mich einigermassen wohl und sicher. Die anderen Badenden liegen mit genüsslicher Selbstverständlichkeit aneinandergedrängt auf der Sprudelbank des Aussenbeckens und erfreuen sich am unverstellten Dasein sowie am Bergpanorama. Ich hingegen mache mir schon wieder Gedanken, wie ich wieder aus dem Becken herauskomme. Ich habe noch die Männer im Kopf, die dort am Eingang sitzen. Nachdem der Ausstieg geschafft ist, folgt ein Versuch an der Poolbar. Die Barhocker sind im Boden des Beckens verankert – wenn ich auf ihnen sitze, reicht mir das Wasser bis zum Schlüsselbein. Vielleicht tragen ein bis zwei Aperol Spritz zur Entspannung bei.
Seltsam, dass ich jetzt über meine Gefühle während des Nacktseins schreibe.
Mich lässt der Eindruck nicht los, dass es in dieser Therme Menschen gibt, die sich bewusst so im Wasser platzieren, dass sie andere beim Ein- und Aussteigen aus dem Becken beobachten können. Mir fallen überwiegend alte Männer auf, die das tun. Aber auch die Blicke jüngerer Männer und Frauen, die ich auf mir spüre, empfinde ich als unangenehm. Was ihre Intention ist, weiss ich nicht. Es wäre unangemessen, ihnen böse Absichten zu unterstellen. Und es stimmt auch, dass wir uns alle in der selben Lage befinden: Alle sind unbekleidet. Nichtsdestotrotz ich fühle mich irgendwie in meiner Intimität angegriffen.
Wir sind alle in der gleichen Lage, aber wir sind wir nicht alle gleich: Männer- und Frauenkörper werden unterschiedlich bewertet. Seit dem Teenager-Alter wird mein Körper, wie auch derer anderer Frauen, immer wieder beurteilt und sexualisiert – meist von Männern, manchmal auch von Frauen, fast immer ungefragt. Die Szenen wiederholen sich: blöde Sprüche, unangenehme Blicke. Das Gewicht, das Aussehen, die Proportionen eines Frauenkörpers scheinen, im Gegenteil zu einem Männerkörper, viel auszulösen. Und die Kommentare prallen auch an mir nicht ab. Ich habe mir bis heute viele Sprüche und Situationen gemerkt, während sie für Verantwortlichen längst vergessen sind. So meinte ein Ex-Partner einmal zu mir, dass ich mollig sei, und ein Freund bemerkte aus dem Nichts, er habe noch nie so dicke Oberschenkel gesehen wie meine. Ich war einfach nur sportlich und hatte Muskeln, ich entsprach nicht dem Model-Ideal. Auch kommentierte meine ehemalige Chefin immer wieder ungefragt mein Gewicht. Jedes Mal, wenn ich in ihren Augen wieder dünner war, hiess es: «Jetzt hast du endlich wieder abgenommen, das sah schon nicht so gut aus.» Oder eben auch andersherum, wenn ich ihrer Ansicht nach «zu viel» war.
Von den unzähligen Hinterherrufen und Pfiffen von Männern brauche ich gar nicht erst anzufangen. Das sogenannte Catcalling bleibt bis heute kaum einer Frau erspart, besonders nicht, wenn sie Haut zeigt oder die Brustwarzen durchs T-Shirt zu sehen sind. Und Kommentare wie «Die will nur Arsch zeigen» sind auch nicht selten, wenn man eine enge Hose trägt. Glücklicherweise haben diese Aussagen bei mir keine tieferen Wunden hinterlassen. Trotzdem kann ich mich lückenlos an alle erinnern. Vielleicht sind es all die Vorerfahrungen, die mir hier in der Therme dieses Unwohlsein bereiten. Ich bin exponiert und kann mir vorstellen, dass sich die Leute eine Meinung über mein Aussehen bilden. Und dass ich in gewisser Weise sexualisiert werde, weil ich nackt bin. Eine nackte Frau erregt immer noch mehr Aufsehen als eine Frau im Bikini.
Sucht man im «Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache» typische Begriffe, die mit dem Wort «Nacktheit» verbunden sind, stösst man auf: ausgestellt, schämen, unangenehm, Sexualität und Gewalt. Sexualität wird mit Nacktheit assoziiert, aber Nacktheit kann nicht ohne Sexualisierung existieren, sagt die Entwicklungspsychologin Bettina Schuhrk von der Hochschule Darmstadt. Es sind nach wie vor viel mehr Frauen als Männer von Sexualisierung und Bodyshaming betroffen, das beginnt schon bei der Tatsache, dass Frauenbrüste in einem viel grösseren Ausmass als sexuell anziehend wahrgenommen werden als eine männliche Brust. Um das festzustellen, muss man sich nur mal all die Kommentare anschauen, wenn es darum geht, ob Frauen nun auch oberkörperfrei im Schwimmbad sein dürfen.
Ich wünschte, es wäre mir egal, aber das ist es nicht. Die ganze Zeit versuche ich mögliche lüsterne Gedanken anderer auszublenden. Aber ich traue besonders den männlichen Besuchern der Therme nicht. Wenn dort nur Frauen gewesen wären, hätte ich mich sicherlich wohler gefühlt. Die Tatsache, dass man nicht in die Köpfe anderer schauen kann, macht es nicht einfacher. Denn was passiert in den Köpfen derer, deren Blicke man nicht sieht? Und was passiert gedanklich, wenn man sie sieht? Die Ungewissheit nagt an mir, das ständige Mutmassen strengt an.
Ein weiteres Wort, das mir zu meiner Situation einfällt, ist «Blösse». Man sagt ja oft, man soll sich «keine Blösse» geben. Heisst das, man soll sich nicht nackt zeigen? Der ostdeutsche FKK-Fotograf Klaus Ender, Wegbereiter für Aktfotographie in Deutschland, verfolgte das Credo: «Wer nackt Würde zeigt, gibt sich keine Blösse.» Ender verstand Aktfotographie als Ausdruck von Sensibilität und Ästhetik und verhalf der öffentlichen Nacktheit während der 60er- und 70er-Jahre zu mehr Normalität. Er setzt Würde und Blösse in einen interessanten Gegensatz – habe ich also Würde, wenn ich nackt bin, oder eben nicht? Diese Therme hat für mich nichts Würdevolles, wenn ich ehrlich bin. Ich gebe mir dort also die Blösse, weil ich mich schäme. Wenn ich auch mit breitem Gang und stolzer Brust nackt durch die Therme laufen würde, würde ich mir dann keine Blösse geben, ergo – mich weniger schämen? Es ist kompliziert.
Ich für meinen Teil versuche, in der Therme keine Person länger anzusehen. Man soll ja nicht denken, ich würde starren. Andere tun genau das. Sie glotzen unverblümt fremde Körper an. Mich interessieren die Körper der anderen nicht wirklich. Ich nehme nur die Nacktheit als Ganzes war, und sie ist einfach zu viel für mich. Sie ekelt mich fast an. Man sitzt zusammengepfercht im heissen Whirlpool auf dem Dach der Wohlfühltherme, teilt sich womöglich noch dieselbe sprudelnde Düse, reibt sich danach schwitzend an der Poolbar – das ist einfach zu viel. Viel zu viel. Bevor ich in dieser Therme war, dachte ich, mit Nacktheit kein Problem zu haben. Doch das programmatische Nacktsein auf engstem Raum hat mich aus der Fassung gebracht. Diese Nacktheit ist nicht befreiend. Neutral betrachtet, ist es einfach absurd, Zeit mit wildfremden und zugleich komplett nackten Menschen zu verbringen. Für mich ergibt es einfach keinen Sinn. Das war vorerst mein erster und letzter Besuch in einer textilfreien Therme. Experiment durchgeführt – Hypothese verworfen.
Illustration: Taddeo Lorenzo Motta
Spezialausgabe
nass
Karolina Sarre (*2000) lebt in Zürich und ist Studentin des Master Kulturpublizistik an der ZHdK. Nebst ihrer Arbeit in der Zollfreilager-Redaktion ist sie freie Journalistin und als Produktionsassistentin bei der Tanzcompagnie cie O. tätig.