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Sarah Calörtscher

Verzauberung als Widerstandsakt

Ich erinnere mich ans Theaterspektakel 2019 und an eine erste Begegnung mit Lia Rodrigues‘ Arbeit. Im Tanzstück «Fúria» versetzten mich die gewaltigen, aus vielen Körpern bestehenden und sich ständig ändernden Bilder in eine Trance, die ich so schnell nicht vergessen konnte.

Nun ist sie mit ihrer Companhia de Danças und dem neuen Stück «Encantado» zurück. In beiden Stücken manifestiert sich der Gedanke des Zusammenkommens und gemeinsamen Widerstandes in tanzenden Körpern. Lia Rodrigues thematisiert in ihrer Arbeit immer wieder Rassismus, Gewalterfahrungen, Macht und Ohnmacht. Im Vergleich zu «Fúria» scheint mir «Encantado» aber von Hoffnung statt von Wut getragen zu sein. Lia Rodrigues sagt, dass beide Stücke wie durch verschiedene Perspektiven auf die Welt miteinander verbunden seien. Das Stück sei unter komplizierten Bedingungen entstanden und trage den Wunsch in sich, Hoffnung zu verspüren.

Bereits am Anfang, wenn die elf Performer:innen nacheinander allein auftreten, liegt der Kern für die später aufkeimende Hoffnung. Nackt betreten sie eine Bühne, deren Boden mit 100 bunten Tüchern ausgelegt ist. Lustvoll verhüllen sie sich in immer neue Formen und überschreiten die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanzenwelt. Wie sprudelnde Quellen, zuerst vereinzelt, dann in einem immer breiter werdenden Strom zusammenfliessend finden die Tanzenden zu einem kollektiven Körper zusammen. Das stete Herumwirbeln, Drehen und An- und Ausziehen der Stoffe erzählt vom Feiern des Lebens, von Widerstand, von Verbundenheit. Im Gespräch erfahre ich, dass sich in diesem Zusammenkommen auch der Entstehungsprozess unter Pandemiebedingungen spiegelt: Mit zunehmenden Impfungen konnte in immer grösseren Gruppen zusammengearbeitet werden. Die drei Arbeitsphasen – Solo, Duo/Trio, gesamte Gruppe – spiegeln sich in der Dramaturgie des Abends.

Bereits 2020 beginnt Rodrigues aufgrund des Romans «Torto Arado» von Itamar Veira Junior mit der Recherche rund um den Begriff «Encantado». Der Begriff lässt sich mit «verzaubert, verwunschen» übersetzen, trägt jedoch weitere Bedeutungen in sich. In der afroamerikanisch-indigenen Kosmologie sind Encantados Wesen, welche zwischen Himmel und Erde da sind und sich durch ihre Nähe zur Natur auszeichnen. Die fiktive Geschichte von «Torto Arado» wird aus drei Perspektiven erzählt, derjenigen von zwei Schwestern und derjenigen des Encantado.

«Da ist ein Wesen, das einen anderen Bezug zur Realität hat», sagt Rodrigues, «das hat mich als Weltanschauung sehr beeindruckt, dass da etwas ist, das von etwas spricht, was ich gerne hätte: Die Welt mit anderen Augen zu sehen.»

Als Inspirationsquellen nennt Rodrigues unter anderen Luiz Rufino und Luis Antonio Simas. Beide sind brasilianische Historiker und Schriftsteller, die vor allem über brasilianische Kulturen, Bildung, Religionen der afrikanischen Diaspora und Kritik am Kolonialismus schreiben. In ihrem gemeinsam verfassten Buch «Encantamento: sobre política de vida» (Verzauberung: Über Lebenspolitik) stellen die Autoren eine Metapher der Verzauberung vor, die sie den Lebensstilen, die uns der Kapitalismus aufzwingt, entgegensetzen.[1] «Ich habe auch an einem Zyklus von Ciclo Selvagem teilgenommen», erzählt Lia «er wurde von Ailton Krenak geleitet, eine für uns wichtige indigene Stimme. Dieser Zyklus gab mir die Möglichkeit, verschiedene Stimmen zu unterschiedlichen Themen zu hören und hat immer wieder die Proben zu Encantado befruchtet.» Der Ciclo Selvagem ist eine brasilianische Plattform, die Wissen aus indigener, akademischer, und traditioneller Perspektiven auf kostenloser Basis empfängt und weitergibt.[2]

Ich frage Lia Rodrigues, ob wir durch die Erfahrung der Verzauberung auch zu anderen Blicken kommen können. Sie bejaht und zitiert Luis Antonio Simas: «Não se faz festa porque a vida é boa, mas pela razão inversa.»[3] (Man feiert nicht, weil das Leben gut ist, sondern aus dem gegenteiligen Grund.) Im Wort encantado verberge sich auch eine festliche Seite, sagt Rodrigues. Freude und Vergnügen nehme dem Widerstand seine Kraft nicht weg.

 

Über das Anerkennen anderer Weltsichten

Das Echo eines Widerstandes wird in «Encantado» unmittelbar hörbar. Nach etwa zehn Minuten hören wir die Gesänge der Mbyá Guaraní, ein indigenes Volk aus dem Amazonasgebiet. Sie stammen von einer grossen Protestbewegung im August 2021 gegen die zunehmende Abholzung des Amazonas.[4] Lia Rodrigues erzählt, dass sie während des Ciclo Selvagem auf Gesänge von Frauen aus der indigenen Ethnie Huni Kuin gestossen ist. Diese habe sie während der Arbeit oft als Inspiration verwendet.

«Aber ich fand, dass sie das Stück nicht ausreichend unterstützten. Ich suchte etwas, das unter die Haut geht, etwas, das einen Rhythmus vorgibt.» Über eine Organisation für indigene Rechte auf Instagram stiess Rodrigues dann auf Filmaufnahmen der Proteste und verarbeitete einen kleinen Ausschnitt der Tonspur mit Hilfe eines Musikers zu einem repetitiven und kraftvollen Soundtrack. Sie stehe sowohl mit den Huni Kuin Frauen wie auch mit der Organisation in Verbindung, beide seien am Gewinn prozentual beteiligt.

Ich frage Lia nach dem Einfluss der politischen Situation auf den Entstehungsprozess von «Encantado». «Es gibt keine Arbeit ohne politischen Kontext.», antwortet Lia. «Ich denke, diese Frage sollte allen Kunstschaffenden gestellt werden. Es scheint, als wären Kunstschaffende aus der Schweiz, aus Frankreich, aus Europa, davon befreit, diese Frage zu beantworten. Also ich denke, dass alle, nicht nur wir, über die politische Situation sprechen sollten. Natürlich ist meine Arbeit in einen politischen Kontext eingebettet, aber gilt für jede andere Arbeit auch.»

Ich höre Lia Rodrigues zu und aus ihrer Antwort heraus starrt mir mein eigener Blick entgegen. Kurz denke ich an den Interview-Beginn zurück, als ich mich darüber geärgert habe, bei der abgemachten Uhrzeit nicht genau geklärt zu haben, von welcher Zeitzone wir sprechen. Der Bezugsmeridian 0°, nach dem sich die Zeitzonen richten, wurde 1884 so gelegt, dass ein europäisches Land den Mittelpunkt bildet.[5] Das Durchbrechen des Blickes, mit dem ich hier in der Schweiz sozialisiert worden bin, ist bei Weitem herausfordernder und komplexer als das Verständnis für die Existenz verschiedener parallellaufender Zeitrealitäten. Sich zu dezentralisieren, ist eine Arbeit, die nie aufhören kann.

Rodrigues und ich sprechen über Dekolonisation, über die Schweizer Banken und Verdingkinder und den Mantel des Schweigens, der darüber liegt. Darüber, dass in der Neugierde auch ein anklagender Tonfall sitzen kann. Darüber, dass Brasilien ein extrem homophobes, gewalttätiges und rassistisches Land ist und über die Aufklärungsarbeit, die Rodrigues dahingehend immer wieder leisten muss. Auch das sei eine politische Position: sich der Rolle bewusst zu sein, die man in einer Gesellschaft trägt, und diese wahrzunehmen.

Wir sprechen über die Starrheit in unseren Gesellschaften. Wie ein Gegensatz dazu wirkt die Gesellschaft, welche die Performer:innen in Encantado entstehen lassen; ihre Körper bleiben fluid und fähig zur stetigen Veränderung, ohne an Kraft zu verlieren. Sie machen den Vorstellungsraum für andere Perspektiven auf.

«Wir müssen auf Stimmen hören, die nicht gehört werden.», sagt Rodrigues. «Eine andere Bibliografie lesen. Sich von der Vorstellung lösen, dass Europa das Zentrum der Welt ist. Die Geschichte Europas kennen und wissen, wie es in der Lage war, diese Gesellschaft voller Privilegien aufzubauen. Andere Geschichten lesen als die, von denen man in der Schule hört. Wir müssen uns von uns selbst dezentralisieren. Ich frage mich zum Beispiel, wie es sein kann, dass unter all den Menschen, die mit Ökologie zu tun haben, vor allem die Stimme eines jungen Mädchens aus Schweden gehört wird. So viele indigenen Stimmen warnen schon seit Jahren, aber sie wurden nicht gehört. Es ist sehr gut, was sie tut, aber ich muss lächeln, wenn ich daran denke, dass eine so viel gehörte Stimme ausgerechnet von einer weissen Person aus Schweden kommt. Dies ist ein kleines Beispiel dafür, wie die Dinge in der Nord-Süd-Beziehung laufen. Wir müssen uns weiterbilden. Ich höre auf andere Stimmen, um aus diesem privilegierten Raum herauszutreten und zu verstehen, wie wir wirklich handeln können. Es geht nicht darum, antirassistisch zu sein, sondern darum, antirassistisch zu handeln. Welche konkreten Aktionen gibt es, um eine neue Welt zu schaffen, neue Beziehungen? Was ich vorschlage, ist eine Beziehung im Dialog. Wir müssen unseren Blick dekolonialisieren, und heute ist alles da, um das zu tun. Das ist es, was ich auch in meiner Arbeit versuche: die Dinge, die ich denke, mit meinen Handlungen im Alltag in Einklang zu bringen. Das deckt sich mit der Arbeit, die ich mit der Organisation Redes da Maré in der Favela von Maré mache, mit unserem Kunstzentrum, mit unserer Tanzschule. Alles ist miteinander verbunden, keine Sache ist von der anderen getrennt.»

 

Verzauberung als Widerstandsakt

Unser Gespräch neigt sich dem Ende zu. Ich habe kurz mein Zeitgefühl verloren und mich von meiner Gesprächspartnerin verzaubern lassen. Luis Antonio Simas und Luiz Rufino benutzen in ihrem Buch den Begriff der Verzauberung als politischen und poetischen Angelpunkt, um über verschiedene Arten des Existierens und Weitergebens von Wissen zu sprechen. Die verzauberte Person sei die, welche die Erfahrung gemacht hat, die Zeit zu durchqueren und sich in andere Menschen und Ausdrucksformen der Natur zu verwandeln.[6] Am Ende von «Encantado» verzaubert das fliessende Wesen auf der Bühne. Es verwandelt sich ständig weiter, ohne die Verbindungen zwischen seinen einzelnen Gliedern zu verlieren: In einer nicht endenden Arbeit werden die Stoffe in die Mitte getragen, in die Luft geworfen und zu einer lebendigen Landschaft geformt.

Verzauberung, vielleicht als utopischer Moment? Encantado sei eine Fiktion und nur eine der Möglichkeiten, entgegnet Lia Rodrigues. Doch das Schlummern eines utopischen Moments gefällt ihr. Die Tatsache, dass die Stoffe zusammengetragen werden müssen, schafft eine Herausforderung, die gemeinsam gelöst werden muss. Es erinnert sie an jene Menschenreihen, die Dinge weitergeben, um etwas aufzubauen; Steine, Wasser. «Wir können gemeinsam etwas bauen und müssen wirklich auf die anderen achten. Das ist der dritte Teil von Encantado: Alle sind voneinander abhängig. Manchmal musst du Dinge nicht für dich selbst, sondern für den anderen tun. Das ist eine Art Utopie.»

 

In Brasilien geboren, studierte Lia Rodrigues klassisches Ballett und Geschichte an der Universität von Saõ Paulo, bevor sie einige Zeit in Frankreich verbrachte, u.a. als Teil der Tanzkompanie von Maguy Marin. Zurück in Brasilien gründete sie 1990 die Companhia de Danças in Rio de Janeiro. Seit 2004 arbeitet die Gruppe mit der NGO Redes da Maré zusammen und entwickelt künstlerische und Bildungsaktivitäten in der Favela Maré. Aus der Kooperation entstand 2009 das Centro de Artes da Maré. Fortan wurde das Zentrum zu ihrem Hauptarbeitsort. Sie ist sowohl Leiterin der Tanzschule Escola Livre de Danças da Maré als auch in der Organisation des Zentrums als sozialem Begegnungsort tätig.

Encantado» wird am Theater Spektakel 2022 aufgeführt. Das Interview wurde am 7. Juli 2022 geführt.

[1] Vgl.: Luiz Rufino / Luis Antonio Simas: Encantamento: sobre política de vida. Mórula Editorial (11. Mai 2020)

[2] Vgl.: Ciclo Selvagem. Zugriff am 12. Juli 2022

[3] Vgl.: Twitterbeitrag von Luis Antonio Simas am 25. November 2019

[4] Vgl.: The Intercept. Zugriff am 14. Juli 2022

[5] Vgl.: Prime meridian (Greenwich). Zugriff am 14. Juli 2022

[6] Vgl.: L. Rufino / L.A. Simas: Encantamento: sobre política de vida. Mórula Editorial (11 maio 2020). S.7.