Über (Wieder-)Aneignung und Fressen und gefressen Werden
Frühkommentar zu «The History of Korean Western Theatre» von Jaha Koo
Ich hätte ihrem Lächeln, als sie mir die «Ramen» überreichte, nicht trauen sollen. Das Essen auf der Landiwiese schmeckte wie «Fondue Chinoise». Womit wir wieder am Anfang wären. Um aneignen und wiederaneignen, vergessen und wiedererinnern, kolonialisieren und kolonialisiert, ja fressen und gefressen werden, ging es im Stück «The History of Korean Western Theatre» von Jaha Koo.
Die Geschichte hat keinen Anfang. Sie hat immer schon angefangen. Während Zuschauer:innen ihre Ränge einnehmen, sitzt Koo auf dem Boden und faltet einen Origami-Frosch. Das Licht, geworfen auf Wand und Boden, definiert die imaginäre Raum-Zeit. Wie Walter Benjamins «Engel der Geschichte», dessen Antlitz der Vergangenheit zugewendet ist, sehen auch wir «eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft».
Weisses Quadrat vor weissem Rauschen. Dazu Clicks’n’Cuts und polarisierte Bewegtbilder in S/W: Wurzeln, Bienen, Brandung, Autos, Tanz und Ritual. Die Beats werden härter. Theaterszenen mit koreanischen Schauspieler:innen. Es werde nur noch Shakespeare & Co. gespielt, sagt eine Frau. Blonde Perücken, weisse Masken.
Der sprechende Reiskocher Cuckoo führt uns ein. In Zeiten der Krise sei er als Druckkochtopf der richtige «Aktant». Was bei jenen, die niemals modern waren, mit dem Neuen Materialismus entdeckt wird, war im Animismus, Shintoismus und Daoismus immer schon Tradition: Steine, Pflanzen, Tiere und andere Dinge sind «beseelt» und nicht blosse, passive Objekte.
Koo sitzt auf der Bank. Bilder aus einem Fotoalbum. Sein Vater wollte, dass er in den Theaterclub geht. Der Verlust seines ländlichen Dialektes durch die Übernahme des Seoul-Dialektes. Kolonialisierung der Peripherie durch das Zentrum. Dann an der Theaterhochschule der schockierende Festakt: 100 Jahre koreanisches Theater. Wie kann das sein? Die Zäsur kam mit der Erbauung des kaiserlichen Theaters. Das Theater des Volkes war kein Theater mehr. Doch die Frage, die Koo heimsucht ist: Was ist Theater?
Cuckoo singt. Autotune im Stile eines Kinder- oder Volksliedes. Alle können Theater spielen. Doch wenn alle alles spielen können, warum spielt niemand fremde Objekt wie Cuckoo oder objektivierte Fremde wie Koo?
Verstehen, um zu überleben. Wie übernahm der westliche Kanon die kulturelle Vorherrschaft? Das Britische Empire war zugleich Anziehungspunkt und Angstquelle. Um nicht zurückzufallen und kolonisiert zu werden, musste Japan selbst zum Kolonist werden und sich modernisieren. Damit auch das Protektorat Korea, für das Verwestlichung und Japanisierung, Modernisierung und Kolonialisierung ununterscheidbar geworden ist.
Cuckoo fragt, was Koos früheste Erinnerung sei. Landschaft und Grossmutter. Kacke und Kröte. Doch nun hat sie Alzheimer. Geschichten gehen vergessen. Der Wunsch, nicht vergessen zu werden. Eine dämonische Fratze erscheint – Bibisae, halb Drache, halb Vogel, frisst alle Erinnerungen. Vergessen als Freiheit von unglücklichen Erinnerungen. Fressen, Zerkleinerung, Verdauung und Auflösung bis nur noch die Exkremente übrigblieben. Dünger für die Erde, damit Neues wächst. Es gilt das universale Gesetz: Fressen oder gefressen werden. Bilder und Geräusche von Babys. Koo knüpft ein weisses Tuch.
Die Origami-Kröte beginnt zu sprechen. Warum ist es schlecht zu vergessen? Vergessene Vergangenheiten suchen uns heim. Auf den Verlust des kollektiven Gedächtnisses folgt Entfremdung, folgt Gewalt.
Cuckoos Song über das Origami-Baby. Falten, Entfalten, Ausfalten, Einfalten: Alles hinterlässt Spuren. Der kindliche Wunsch durch Zurückfalten zur ursprünglichen glatten Oberfläche zurückzugelangen. Koo erinnert sich, wie er sich mit einem Topf heisser Nudeln verbrannte. Narben sind Beweise, dass die Vergangenheit real war.
Ein alter Tape Recorder, damit Erinnerungen nicht vergessen gehen. Grossmutter erinnert sich an den Besuch eines Totenrituals mit dem kleinen Koo: Singen ist Weinen, ist Klagen, ist Trösten der Geister. Dass sie die Lebenden nicht heimsuchen und fressen. Grossmutters Song, der den schlaflosen Koo in den Schlaf wiegt. Er singt mit, knüpft ein zweites, weisses Tuch und fragt: Welches Theater würde ich machen, hätte es die Kulturkolonialisierung nicht gegeben?
Harte Elektrobeats. In Ekstase vollführt Koo einen Tanz mit den Tüchern. Im Hintergrund Bilder traditioneller Theater und Rituale. Er knüpft sie an den Boden und an die Wand. Und hisst sie – so dass sie diagonal durch die imaginäre Raum-Zeit gehen und Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen.
|
Jaha Koo (*1984) wurde in Südkorea geboren. Ländlich aufgewachsen, zog er mit seiner Familie nach Seoul. Zurzeit arbeitet er in Belgien als Theatermacher, Performer und Musikproduzent. In seinen poetisch-essayistischen Theaterarbeiten verbindet er historische Fakten mit Geschichten aus seiner Biografie. «The History of Korean Western Theatre», das er mit dem Art Centre CAMPO in Gent produzierte, ist der dritte und letzte Teil seiner Hamartia Trilogy. Nach «Lolling and Rolling», das er 2015 auch am Theaterspektakel aufführte, und «Cuckoo», wo drei Reiskocher über die inneren Widersprüche der Globalisierung diskutieren, steht auch in seiner neusten Arbeit das Prinzip im Zentrum, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart unentrinnbar auf tragische Art und Weise bewegt. Mit der (Wieder-)Aneignung der vergessenen oder verdrängten Geschichte möchte Koo andere Zukünfte (wieder-)gewinnen.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Michel Rebosura (*1983) ist Philosoph, Kunstkritiker und Kulturjournalist. Seit Juni arbeitet er in der Kommunikation des Theater Neumarkt.