Über entscheidende Augen-Blicke
Wem der Name Steve McCurry nichts sagt, kennt ihn vielleicht doch: als den Fotografen, der das afghanische Mädchen mit den grünen Augen fotografiert hat. Auf McCurrys Homepage ist unter dem Titel Eloquence of the Eye eine ganze Sammlung von Portraits zu finden, deren Mittelpunkt die Augen der Porträtierten sind: Von glänzend bis glasig, schwarz ummalt oder hinter Brillengläsern, alle intensiv und eindringlich. Doch was unterscheidet die Augen vom blossen Blick in die Kamera?
Indem er den Augen eine erzählerische Fähigkeit zuschreibt, verweist McCurry auf eine lange und interdisziplinäre Aphorismen- und Sprichwort-Tradition: „Ein Blick sagt mehr als tausend Worte“, glauben Psychologie und Partnerforschung, wodurch die Liebe auf den ersten Blick plötzlich plausibel wird. Die Augen gelten als „Spiegel zur Seele“, lügen als solche nicht, und mit seinem Sehvermögen wird aus dem wahrnehmenden Auge gerne ein reflektierendes Organ. Steve McCurry sammelt auf seiner Homepage weitere Beispiele von Henry David Thoreau und Marcel Proust, zitiert aus der norwegischen Poesie und aus der Bibel, paraphrasiert Cicero und Shakespeare. „Eyes speak a universal language, and no interpreter is needed”, meint der Fotograf dazu, und beschreibt damit seinen Ansatz als humanistischer Fotograf: Wenn wir die Augen sprechen lassen, verstehen wir uns ohne Worte, sind wir uns alle ein bisschen näher. Die Kamera des Fotografen wird zum Auge, dessen Blick sich mit denen der Porträtierten kreuzt.
Den Topos des entscheidenden Augenblicks kennt man im fotografiehistorischen Kontext von Henri Cartier-Bresson, der 1947 mit drei Mitstreitern die Agentur Magnum Photos gründete. Das Erkennen und Festhalten von ebendiesem entscheidenden Moment benannte Bresson als zentrales Anliegen des Fotografen mit seiner Kamera. McCurry beschreibt sein Vorgehen etwas passiver: „It’s amazing how things just magically happen and pictures ‘reveal themselves’.” Entscheidend ist aber auch bei ihm ein Momentum:
„We connect with one another via eye contact, and there is a real power in that shared moment of attention, in which you can occasionally catch a glimpse of what it must be like to be in another’s shoes. I think this is one of the most powerful things about a photograph.”
Diese connection wird als Akt der Begegnung gefeiert – auch wenn zu bezweifeln ist, ob sich der humanistische Fotograf und das afghanische Mädchen unter diesen Umständen auf Augenhöhe begegnen.
Steht man vor McCurrys grossformatigen Porträts, fragt man sich, was denn die Geschichte ist, die uns die afghanischen, indischen, italienischen oder tibetischen Augen erzählen. Zweifelsfrei sind McCurrys auserwählte Augen ausdrucksstark – jedoch eher im Verständnis eines klassischen Schönheitsideals und weniger als Teil einer humanistischen Auseinandersetzung. Ob bergseeblau oder stechend grün, ob starrend oder fragend: McCurry unterstreicht die intensiven Blicke durch ein gezieltes Nachbearbeiten seiner Fotografien. Die für ihn charakteristische Verwendung der Tiefenschärfe lässt die Augen hervortreten und den Bildhintergrund in Unschärfe verschwinden. Im fotojournalistischen Kontext ist Unschärfe kein seltenes Phänomen: Sie deutet entweder auf die schwierigen Verhältnisse für Fotografen vor Ort hin (bei konfliktreichen Ereignissen fehlt mitunter die Zeit zur ausgeklügelten Bildkomposition) oder aber ist der fehlenden Berichterstattung professioneller Fotografen geschuldet, weshalb auf verwackelte Amateurfotografien und Handybilder zurückgegriffen wird.
Davon ist Steve McCurrys gezieltes Un-/Schärfen als Gestaltungsmöglichkeit abzugrenzen. Was für McCurry eine Fokussierung auf den entscheidenden Blick ist, kann gerade so gut als Reduktion verstanden werden: Das Betonen schöner Augen geht mit dem Wegschälen von Umgebung einher, die potentiell ebenso erzählkräftig ist wie Gesicht und Augen im Bildvordergrund. Während andere Bilder aus seinem Œuvre zeigen, welche Herausforderungen Menschen am anderen Ende der Welt in ihrem Alltag zu bewältigen haben, woran es ihnen fehlt, wie sie miteinander umgehen oder welche Rituale sie pflegen, verweisen die Augen auf nicht mehr als das, was sie sind: schöne Augen.
Diese Reduktion erinnert stark an Kulleraugen und vereinnahmende Blicke, wie man sie als Passant von Spendenplakaten diverser Hilfsorganisationen kennt: Caritas, Amnesty und Unicef profitieren allesamt vom Kindchenschema, und Studien belegen, dass die Spendeneinnahmen markant sinken, wenn mit anderen Motiven experimentiert wird. Aus den Knopfaugen armutsbetroffener Kinder kommt hier ein auf existenzielle Art und Weise entscheidender Augen-Blick.
Die Eloquenz von McCurrys Augen darf spätestens dann in Frage gestellt werden, aus einem Nebeneinander von Einzelbildern vor lauter Pupillen und Pastell-Iriden eine Gleichschaltung resultiert: Menschen unterschiedlichster Herkunft, fotografiert während einer bisher über dreissig Jahre andauernden Fotografen-Karriere, sehen gleich aus – ob sie für den Pirelli-Kalender posieren oder in einem afghanischen Flüchtlingslager auf humanitäre Hilfe warten, verrät nur noch die Bildlegende. Der französische Soziologe Bruno Latour unterscheidet matters of facts (Tatsachen) und matters of concern (Dinge von Belang) und vergleicht deren Beziehung mit einer Theaterszenerie, in der man den Blick entweder nur auf die Bühne (auf eine Tatsache) richten oder aber die gesamte Theatermaschinerie (als ein Ding von Belang, von dem die Tatsache nur eine Teilmenge ist) darum herum mit einbeziehen kann.
Eine solche Analogie liesse sich auch für das Genre der humanitären Fotografie denken: Fokussiert man auf ein Gesicht mit seinen Augen oder behält man den situativen Kontext in Blick- und Kamerawinkel? Auf seinem Instagram-Account berichtet Steve McCurry regelmässig vom Kontext, aus dem heraus ein Bild entstanden ist:
„Moments before I took this photograph, this farmer was working his field, (…). The details in the strands of the fabric in his turban and the similar pattern in his vest caught my eye.“
Die Tätigkeit des pakistanischen Farmers spielt eine Rolle, allerdings eine sekundäre – ins Auge fallen Textil und Ausstrahlung. Bei diesem Beispiel und im Kontext einer humanistisch motivierten Fotografie stellt sich die Frage: Würde eine fotografierte Handlung oder ein sichtbar gemachter Lebensumstand vielleicht mehr sagen als tausend Blicke?
Quellen:
instagram.com/stevemccurryofficial
Bruno Latour, Elend der Kritik – Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. In: Critical Enquiry, Winter 2014
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Daniela Bär, *1989, ist Kulturpublizistik-Absolventin und Zollfreilager-Mitgründerin.