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Susanna Bosch

Über die Wertigkeit der Zeit

«Denken Sie einfach an etwas Schönes», meint die Zahnärztin und mein Mund füllt sich mit Flüssigkeit, die von einem Schlauch regelmässig abgepumpt wird. Als ich die Vibration des Bohrers spüre, sich ein Druck über Kiefer und Schädel ausbreitet, schliesse ich die Augen und denke an den Sommer: Wie ich auf dem Holzsteg am Ufer liege, aufs vorbeiziehende Wasser blicke und plötzlich so viel Zeit habe. Die Äste des Baumes über mir biegen sich im Wind, seine Blätter werden vom Fluss davongetragen und ich liege einfach so da – muss mich nicht bewegen.

Als mein Mund von einem kurzen Schmerz erfasst wird – der Bohrer muss sich dem Zahnmark genähert haben –, schrecke ich auf. Aus den Augenwinkeln sehe ich das sterile, silbrige Besteck auf dem verstellbaren Beistelltisch neben mir, und als ich aufblicke das Gemälde an der Wand vor mir. Das Bild setzt sich aus abstrakten Formen zusammen und hängt in einem schmalen Rahmen, der ebenfalls silbrig ist. Auf einmal wirken die gesamten Praxisräumlichkeiten wie eine Art Gesamtkunstwerk. Ein kahler White Cube, der sich jedoch nicht neutral bespielen lässt, sondern eben gerade in einer konzeptuellen Beziehung zu dem steht, was ihn ausfüllt: dem Geruch nach Desinfektionsmittel, den modernen Sesseln mit Chromstahlbeinen und dem glatten Fussboden, über den Menschen in weissen Kostümen sausen. Das Lichtkonzept ist neutral, jedoch hell genug, um Schläfrigkeit zu minimieren. Aus den Lautsprechern tönt das Programm von Radio FM1 («Die FM1 Wachmacher bringen dich mit allem, was du brauchst, in den Tag: mit viel Hits, guter Laune, allem was, für dich wichtig ist.») und John Lennons Stimme breitet sich im Raum aus:

 

People say I’m crazy
Doing what I’m doing []
People say I’m lazy
Dreaming my life away []
I tell them there’s no hurry, I’m just sitting here doing time
I’m just sitting here watching the wheels go round and round
I really love to watch them roll

 

Seine Zeilen wirken wie ein Verfremdungseffekt, der mit dem geschäftigen Treiben um mich herum brechen soll, während es mir, der Zuschauerin auf der verstellbaren Liege, aber an kritischer Distanz fehlt – ich kann mich dem Geschehen nicht entziehen. Mich überkommt ein Gefühl der Eile. Die Praxis, in der alles seinen Platz und seine Aufgabe zu haben scheint, soll jetzt das Loch in meinem Zahn ausfüllen, meinen defekten Zahn mit einer Füllung restaurieren. Mich also gewissermassen reparieren durch Bohren, Füllen, Schleifen. Damit ich meinen Alltag möglichst bald schmerzfrei fortsetzen und wieder voll und ganz funktionieren kann.

 

An die Notwendigkeit der Behandlung meiner Karies wurde ich einige Wochen zuvor durch die Werbeplakate in den Zürcher Trams erinnert. Ich fuhr mit der Nummer 13 durch die Bahnhofstrasse bis zum Paradeplatz, weil ich mir am Grill der Bürkli-Beiz eine Bürkli-Wurst im Baguette kaufen wollte. Dabei schweifte mein Blick über die Poster an den Innenwänden des Trams, die für günstige Wurzelbehandlungen warben, ein makelloses Lächeln ab 80 Franken pro Monat versprachen und Nachhilfekurse anpriesen («Achtung, fertig, Gymi!»). Alle verhiessen sie Erfolg durch Gesundheit, Schönheit und akademische Leistung.

Leicht angewidert – unter anderem von mir selbst, die sich oft genug nach der Maxime ebendieser Ideale richtet –, stolperte ich aus dem Tram, um das letzte Stück zu Fuss zu gehen. Dabei verlangsamte ich bewusst meinen Schritt, liess die Menschen rechts und links von mir passieren, vorbeifliessen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich erhaben, wie die Protagonistin eines Musikvideos, die inmitten einer bewegten Menschenmasse stehenbleibt: Heute würde ich mich treiben lassen, Bürkli-Wurst essen und dann nach Hause treiben, zu Hause bleiben, nichts tun. Aus meinen Kopfhörern sang Angèle: Who the hell do you think you are? Stayin‚ in bed instead of going out? (…) Je reste avec moimême et j’ai la flemme.

Auch in diesem Zustand der Erhabenheit war ich mir im Klaren darüber, dass es sich um ein kurzes, wenn nicht vermeintliches Treibenlassen handeln würde. Ein gänzliches oder zumindest gänzlich zufriedenstellendes Heraustreten aus der fortwährenden Getriebenheit, die mich umkreiste, war mir verunmöglicht. Ich merkte, dass es mir allgemein schwerfällt, meine Zeit nicht zu ökonomisieren: Ein Besuch bei der Zahnärztin würde mir zwar dabei helfen, meinen Körper zu optimieren, beanspruchte aber auch Zeit, die ich genauso gut für meine sozialen oder beruflichen Verpflichtungen aufwenden könnte. Wenn ich letzteren nicht nachkomme, fühle ich mich in meinem Selbstwert herabgesetzt und bestrafe mich mit einem selbst auferlegten Schuldgefühl. All dies generiert einen körperlich spürbaren Druck, der nie ganz nachlässt.

 

In meinem Tagebuch steht: «Dicker Kloss im Hals rutscht die Kehle herab, um den ganzen Druck vom Gaumen in den Magen zu verschieben. Jetzt kann ich ihn nicht mal mehr ausspucken. Höchstens bis zur Brust krieg ich ihn wieder rauf. Dort drückt er dann gegens Brustbein und bleibt mittig zwischen dem linken und dem rechten Brustballen wie ein Mehlknödel stecken.»

 

Wenn ich nach einem längeren Ausbleiben von Druck in meinem Leben suche, erinnere ich mich an die Sommer, die ich als Kind Jahr für Jahr bei meinen Grosseltern am See verbrachte. Wie ich am Wasser lag und dem regelmässigen Brechen der Wellen lauschte. Die Sonne berührte meinen Bauch, auf dem glitzernde Seewassertropfen ruhten. Ich sah ihnen dabei zu, wie sie immer kleiner wurden, schliesslich ganz verschwanden. Sobald sich Schweissperlen auf meiner Haut breitmachten und Bremsen anlockten, eilte ich ins Wasser, um mich wenig später wieder tropfnass ans Ufer zu legen. Das Ganze würde ich stundenlang wiederholen, begleitet von einer angenehm süssen Langeweile.

Es waren diese langen Sommer, in denen niemand etwas von mir wollte. Den ganzen Tag schlich ich im halbnassen Badeanzug ums Haus, wich den Erwachsenen aus und ging meiner Hauptaufgabe nach: meine grossen Cousinen zu imitieren. Ich trug ihre Kleidung (hauptsächlich von New Yorker), in die sie selbst nicht mehr hineinpassten, erforschte heimlich die Hygiene- und Beauty-Artikel in ihren Toilettentaschen und stopfte meine flache Brust mit Klopapier aus. An guten Nachmittagen flochten sie mir farbige Plastikperlen ins Haar oder stritten um meine Erziehung in Rollenspielen, in denen ich das Kind darstellte. Ab und an ruderten wir ins Dorf auf der anderen Seeseite, um einzukaufen und einen Geheimstopp beim Kiosk einzulegen: Eine Bravo für mich und, wenn es klappte, ein Päckchen Camel Blue für meine Cousinen.

Irgendwann gingen die endlosen Sommer zu Ende und wir fuhren wieder heim. Ich hockte im Nachtzug, früher gemeinsam in einer Liege mit meinem Bruder, später hatte ich eine für mich alleine und wusste, dass die entschleunigende Wirkung des Sees bald nachlassen würde. Ein paar Septemberwochen lang erzählte ich noch allen stolz von den Gilmore Girls, die ich mir mit meinen Cousinen im TV angeschaut, oder von den «grossen» Fischen, die ich mit Ködern aus Teig und Würmern aus dem Wasser gezogen hatte. Bald aber waren der See und mit ihm auch das Geräusch seiner regelmässig brechenden Wellen in den Hintergrund meiner Gedanken gerückt und blieben drei Jahreszeiten lang vergessen. Im Herbst, im Winter und im Frühling floss alles schnell. Zeit meinte dann nicht mehr das zähe Fliessen einer scheinbar endlosen, in Sirup getränkten Gegenwart (von der jüngsten Vergangenheit kommend und zu einer unbedeutenden Zukunft hinführend), sondern das schnelle Rattern aneinandergereihter Wochen, das unablässige Alternieren von fünf Schul- und zwei Wochenendtagen.

Der Sonntag wurde irgendwann zum Drucktag: Ein limbusartiges Wartehäuschen, an dem mich der Wochenstart regelmässig und pünktlich abholen würde. Dieses Gefühl entstand mit vielleicht 13 Jahren. Zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich damals den Übertritt ins Gymnasium geschafft und es begann eine Zeit unentschuldigter Absenzen, kellertiefer Noten und Lehrpersonen-Eltern-Gespräche. Obwohl ich glaubte, dass mir die Schule egal sei, war da in meiner selbst kreierten Freizeit oft ein Gefühl des Drucks und des schlechten Gewissens, dessen logische Folge Schuldgefühle waren. Fluchtort blieb nach wie vor das Gewässer: Am Fluss sitzen, in die Tiefen des Sees blicken, sich an Beckenrändern in der Sonne räkeln.

Mein neuer Lieblingsort wurde das städtische Freibad. Ich liebte das stechend blaue Wasser, den leicht abgeschrägten Holzsteg und den Kiosk im Betonquader am Beckenende. Sobald ich mit meinen Freundinnen das Eingangstor passierte und mich in das mauerumfriedete Freibadareal begab, erfasste mich ein anderes Zeitgefühl. Möglichst lässig schlenderten wir in Bikini und Sonnenbrille aus den schattigen Umkleidekabinen, schnappten uns einen rostroten, trichterförmigen Aschenbecher und steckten ihn neben unseren Strandtüchern in die Liegewiese, wo er sich langsam füllte. Dösend lauschten wir Lordes Stimme, die in schlechter Qualität aus unseren Musikboxen rieselte: Don’t you think that it’s boring how people talk? Makin‚ smart with their words again, well, I’m bored. Dort zu liegen, fühlte sich ein bisschen an wie verliebt sein. Ein Zustand, der es zuliess, sorglos in den Moment einzutauchen, und der bisherige Prioritäten auflöste.

Im Freibad war die Zeit ausnahmsweise kein Wertgegenstand. Und dennoch war der Raum nicht ganz schuldbefreit: Mit meinen 14 Jahren hatte mir mein (schulisches) Umfeld viele Dinge vermittelt, die ich damals noch nicht ausformulieren oder in grössere Zusammenhänge setzen konnte, die sich aber dennoch tief in mein Denken eingenistet hatten. So auch die Annahme, dass es auf der Welt wohl zwei Arten von Mädchen geben musste: die fleissigen, tüchtigen, die später einmal – ganz nach der protestantischer Leistungsethik – anerkennend mit Gold übergossen werden würden. Und die faulen, arbeitsscheuen, deren Scheitern aufgrund fehlender Tugendhaftigkeit selbstverschuldet war. Und weil Goldmarie nicht nur fleissig, sondern auch schön ist, wuchs in mir die Überzeugung, dass ich nicht nur dumm, sondern auch hässlich sein musste. Das öffentlich Baden wurde zum Raum, in welchem die nackte Wahrheit – der (un)veränderte Körper – regelmässig registriert, verglichen und bewertet wurde. Das Verdikt blieb negativ.

Das Rezept zum Erfolg in unserer Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt festgeschrieben und verlangte eine grosse Prise von allem: akademische Höchstleistung, betörende Schönheit, unwiderstehlicher Charme. Und ich nahm mir vor: Sobald ich meine Zahnspange loswürde, wollte ich hörig sein und lächeln. Nach der Pubertät floss ein grosser Teil des Drucks ab, als würde man den Stöpsel in der Badewanne ziehen. Und trotzdem blieben Gefühlsreste der vergangenen Jahre bestehen. Prägungen, die alles Folgende verändern. So zum Beispiel die (kollektive) Erfahrung der Essstörung. Egal wie lange überwunden und bewältigt sie auch sein mag: Sie erlaubt es einem nie wieder, komplett schuldbefreit zu leben.

Was den Leistungsdruck betrifft, sah ich mich nach der Mittelschulzeit einem System ausgesetzt, in dem es nicht mehr um reinen Fleiss oder Arbeitseifer ging. Viel wichtiger war nun, dass ich an meiner Individualität, spontanen Art und kreativen Ader feilte. Grosse Aufgaben, die mir viel abverlangten. Doch bevor ich daran verzweifeln oder aufgeben konnte, präsentierte mir die Werbeindustrie munter Lösungen für Probleme und Bedürfnisse, die sie selbst erst geschaffen hatte. Ich bewegte mich also noch immer zwischen Druck, Schuld und Trost.

 

Als ich den Grill am Bürkliplatz erreichte, rief ich als erstes bei meiner Zahnärztin an und vereinbarte den Termin. Bald würde das Loch in meinem Zahn wieder gefüllt sein. Danach kaufte ich mir eine Bürkli-Wurst im Baguette und setzte mich ans Flussufer, dort wo die Limmat den Zürichsee verlässt. Ich sah unzählbar vielen Wassertropfen dabei zu, wie sie sich zum Ganzen formten und in eine unbedeutende Zukunft flossen. Mit dem Wasser verströmte nutzlose Zeit, die für mich von grösster Bedeutung war.

 

Illustration: Taddeo Lorenzo Motta