Typecasting ist immer und überall
Eine Einführung in die Vielschichtigkeit des Figurierens
Figurieren heisst, als dies oder das sichtbar werden für andere. Dies oder das: eine wirkliche oder vermeintliche, innere oder äussere Eigenschaft; eine Gruppenzuschreibung (zum Beispiel Herkunft oder Ethnie), eine Rolle, eine Funktion, eine Denk- oder Glaubensrichtung, eine Parteizugehörigkeit, eine Überzeugung. Oder etwas, was wir immer mal so über einander sagen (zum Beispiel «Du bist ein Spassvogel»; oder «Dein Vorname passt zu dir»). Ein Subjekt erweckt aktiv oder passiv den Eindruck, dies oder das zu sein, wird als dies oder das wahrgenommen (eingeordnet, abgestempelt, aufs Podest gehoben), beteiligt sich auch unter Umständen durchaus aktiv der Konstruktion etwa eines Looks, eines Styles, eines Mythos. All dieses Verbinden von Menschen mit Eigenschaften geschieht in der Form der Erzählung: Man erzählt sich und man wird erzählt. Nicht selten hat die Erzählung eine Dimension der Bewertung. Jemand macht, wie wir sagen, gute oder schlechte Figur, steht schlecht oder gut da. Es ist ein Suchen nach Anerkennung, das uns zu uns selber oder, oft genug, von uns wegführt. Der Kampf um eine entsprechende Position in der Gruppe hat immer schon begonnen und hört nie auf. Es beginnt mit dem Gefallen-Wollen-Müssen, dem Aufmerksamkeit finden-und-vermeiden. Es geht weiter mit dem Kampf/Spiel (dem Spiel-Ernst) um Beliebtheit. Es kann auch sein, dass jemand Ablehnung sucht, um sich selber als sich selber zu manifestieren. Untrennbar damit verbunden ist die Frage, welchem Ideal man sich verpflichtet, wofür man steht, welchem Lager man zugehört, welches Publikum einem applaudieren soll;und wie man es schafft, sich diesem Publikum nicht zu unterwerfen. Kein Mensch zu klein/zu gross, zu jung/zu alt, um an dem Spiel wohl-oder-übel teilzunehmen (und auch in der Tierwelt ist es weit verbreitet). Zu den Instanzen, vor denen ich gut oder schlecht dastehen kann, gehören nicht nur reale Menschen, auch kaum oder schwer fassbare wie «die Menschen», «dieÖffentlichkeit», «die Anderen», «das Internet»; oder, noch abstrakter, «das Gewissen», «die Menschlichkeit», «Gott». Niemand kann sich der Dynamik vollständig entziehen. Willig/unfreiwillig, aktiv/passiv, gelebt als Folter/als Sucht: Du stehst mal auf einem Podest, mal in einer Ecke, mal im Scheinwerferlicht, mal am Pranger. Auch sind bestimmte Stellen, die in der Castingshow des Lebens permanent vergeben werden (zum Beispiel der:die Chef:in oder der Bösewicht) offenbar als solche nicht aus der Welt zu schaffen. Und solange das so ist, werden sie auch besetzt. Die folgenden szenischen Kurzdialoge zwischen zwei aus dem Leben des Autors gegriffenen Kunstfiguren – Dieser und Einer – wollen aufzeigen, wie untrennbar die Dynamik des Figurierens, das Agieren im Alltag und die Sprache mit einander verbunden sind.
-fallen (auf-, ab-, aus-; ge-)
[Dieser und Einer an der Bushaltestelle, Einer macht Faxen.]
Dieser: Du fällst auf. Willst du es? Suchst du es? Kannst du etwas dagegen tun?
Einer: Jetzt will ich es.
Dieser: Was sollen die anderen denken?
Einer: Ist mir egal.
[Viele Gesichter, viele lachende Augen stehen am Eingang, sie begrüssen Eine:n. Einer stösst einen gellenden Schrei aus.]
Einer: Warum schaut ihr so? Warum starrt ihr so? Ihr findet mich süss? Ihr findet mich cool? Ich gefalle euch? Das will ich nicht, nicht so, nicht jetzt. Morgen sagt ihr mir, ich gehöre nicht dazu. Geht weg! Ihr macht mir Angst!
-ecken (an-)
-heben (ab- I, ab- II)
-stehen (auf-, ein-, wider-, zurück-)
-steigen (auf-, ab-)
-tauchen (auf-, ab-, weg-)
-laufen (mit-, über-, weg-)
[Einer steht auf einer Rampe, Dieser unten auf dem Boden.]
Einer: Ich bin grösser als du.
Dieser: Dein Kopf ist höher als meiner, aber mein Körper ist länger. Noch.
Einer: Ich bin grösser, jetzt.
Dieser: Und wenn ich mich auf die Rampe stelle?
Einer: Dann baue ich noch mal eine. Eine, auf der du nicht stehen kannst.
-stossen (ab-, weg-)
[Dieser in der Wohnung, Einer in der Tür]
Einer: Ich gehe jetzt weg. Du folgst mir nicht. Du siehst mich nicht.
Dieser [dreht sich weg]: Ich sehe dich nicht. Du bist nicht da.
Einer: Hör auf mit dem Theater.
-machen (vor-, nach-)
führen
folgen
[Einer und Dieser springen an Ort auf einem öffentlichen Platz.]
Einer: Mach mir etwas vor.
Dieser: Und du machst es mir nach?
Einer: Das Spiel heisst «Du machst mir etwas vor». Du machst mir etwas vor im Spiel, das du mir nachmachst.
vorkommen
-wählen (aus-, ab-)
-optieren (ad-)
[Dieser und Einer auf dem Spielfeld von Himmel-und-Hölle]
Einer: Schau mal, wie ich durch die Felder springen kann.
[springt schnell durch alle Felder, bleibt im letzten stehen.]
Dieser: Weisst du, dass du jetzt im Himmel bist?
Einer: Im Himmel möchte ich sein. Ganz alleine.
sein
spielen (etwas, jemanden)
verlieren (sich)
verwandeln (sich)
[Dieser und Einer in der Garderobe des Hallenbads.]
Einer: Woher kommen die Flecken auf deiner Haut?
Dieser: Ich habe gelebt. Ich war auf der Welt, als du noch nicht auf der Welt warst.
Einer: Vielleicht bekomme ich diese Flecken auch? Vielleicht die selben? Vielleicht war ich einmal Dieser, und du warst einmal Einer?
Einer: Wer nicht geliebt wird, verschwindet. Möchtest du, dass ich nicht verschwinde?
-mischen (mit-; sich ein-)
protestieren
geben (sich, jemanden; etwas vor-)
-treten (auf-, ab-, weg-)
besetzen (casten)
[Am Tor]
Einer [innen]: Stell dich vor das Tor. [Schliesst das Tor.] Jetzt muss du weinen.
[Dieser weint]
Einer: Was hast du? Möchtest du rein? Du kannst nicht rein.
markieren
manifestieren (sich)
blockieren
[Einer und Dieser unterwegs, Jener kommt entgegen, Dieser grüsst.]
Einer: Sag nicht «Hallo» zu Jenem.
Dieser: Warum, ich will nur freundlich sein.
Einer: Wenn du mit irgendeinem Jenem freundlich bist, dann bin ich nicht mehr dein Einer, und dann bist du nicht mehr mein Dieser.
-ziehen (an-; in Bann-)
anfeuern
formieren (sich)
verehren
mobilisieren
-vertreten (stell-)
[Einer und Dieser in einem Saal, wo Pokale vergeben werden]
Einer: Weisst du, warum ich nicht applaudiere?
Dieser: Warum?
Einer: Weil ich es nicht bin, der den Pokal bekommt.
Dieser: Du müsstest ein Werk präsentieren, damit würdest du für den Pokal in Frage kommen.
Einer: Dann möchte ich aber nicht vor all die Leute.
Dieser: Ich könnte den Pokal an deiner Stelle entgegennehmen. Ginge es so?
Einer: Ok, du kannst den Pokal für mich abholen.
[Epilog im Himmel, oder in der Hölle]
Einer: I put a spell on you, because you’re mine.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Ruedi Widmer, *1959, ist Kulturwissenschaftler und Kulturpublizist. Er leitet den Master Kulturpublizistik an der ZHdK und ist verantwortlich für die Plattform Kulturpublizistik.