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Valérie Hug, Annatina Nay, Eva Mackensen, Ruedi Widmer

Turmbau Rückblick III

Was geschieht, wenn Menschen mit einer gemeinsamen Sprache auf ein gemeinsames Projekt, hier die Spezialausgabe «Turmbau zu Babel» zum Zürcher Theaterspektakel zurückblicken? Was kommt dabei raus? Kommt es zum Turmbau, zum Nichtverstehen oder endet alles in einer Katastrophe? Teil III von III.

Die Projektion zeigt immer neue Anordnungen und Wiederholungen einzelner Wörter und Sätze. Anordnungen und Wiederholungen einzelner Sätze, Anordnungen und Wiederholungen einzelner Sätze, Anordnungen und Wiederholungen einzelner Sätze … aber Rückblicke sollen sich nicht in Anordnungen und Wiederholungen erschöpfen und so sind die Abkehr von der Routine und die Abweichung von der Regel ratsam, auch wenn beim Bau des Turmes eigentlich die Anordnung und die Wiederholung zu befolgen wäre, folgt doch Stockwerk auf Stockwerk auf Stockwerk und immer höher und höher und höher geht’s, bis eventuell nur noch ein Rückblick bleibt. Ein Rückblick, weiter nichts. Mit immer mehr Zeit werden wir auf immer mehr Dinge rückblicken, werden einige vergessen, sie zu Trümmern werden lassen, bis wir sie nicht mehr verstehen. Doch vor dem Nichtverstehen, am Anfang, stand da wirklich so etwas wie ein Verstehen? Oder war es nicht doch auch ein Nichtverstehen, dem man sich widmete, Zeit investierte und sich in einem langen Prozess des aufeinander Zugehens, miteinander Diskutierens und der Absicht, ein gemeinsames Etwas aufzubauen, einen gemeinsamen Turm zu bilden, das erst durch diese Tätigkeiten zum Verstehen wurde? So ging man nach oben, gemeinsam, Schritt um Schritt, Stufe um Stufe, bis man schliesslich, nach allerlei Mühen, Missverständnissen und Umwegen, Rückschritten auch, ganz oben angelangt war, an der Spitze des Turms, den man gemeinsam gebaut hatte, und vor einem lag das Nichts.

Was blieb: der Sprung. Weiter nach oben ging es ja nicht mehr, das war zu Ende, das Baumaterial erschöpft, der Willen sowieso, und überhaupt war die ganze Konstruktion sowieso schon etwas wacklig. An Rückzug war ebenfalls kaum zu denken. Das wäre doch Kapitulation, oder nicht? Also raus, runter, ins Gelände und Tat vor Plan. Teilweise zwar mit der Gewissheit in ein offenes Messer zu laufen, nicht ohne eine gewisse diebische Freude bei diesem Gedanken, aber dann immer mehr mit dem Gefühl, dass die ganze Sache doch mehr zusammenhält, als gedacht. Fäden wurden sichtbar, die zuvor nicht einmal erdacht waren. Risiken wurden zu Möglichkeiten wurden zu Vorteilen. Und je länger die Phase draussen auf dem offenen Meer andauerte, desto sicherer wurden die Handstreiche, wenn auch mit wackelndem Werkzeug. Der Plan wurde immer mehr zu einer Nebensache, an der man sich nicht mehr unbedingt halten musste. Auch verflog die Angst vor dem Scheitern. Es geht was geht, und das was geht wird gut gehen. Und das was nicht geht, geht nicht oder geht anders als erwartet? Es kann auch spannend sein, ins Blaue heraus zu bauen und die Erwartungen anzupassen, die Erwartungen an die anderen, welche am gemeinsamen Projekt bauen, müssen vielleicht sowieso angepasst werden, es soll ja ein gemeinsames Projekt sein: Nicht alle können die selbe Idee immer gut finden, nicht jeder kann im Stillen für sich arbeiten, sonst ist es kein gemeinsames Projekt mehr. Aber was ist der Kitt zwischen meinem Text und den anderen? Die gemeinsame Sprache oder die gemeinsame Idee vom Endprojekt, und dieses kann ja nicht wirklich scheitern, wenn die Idee gemeinsam ist, weil jeder kann ja irgendwie dazu schreiben, in seiner oder ihrer eigenen Sprache wie er oder sie möchte. Aber natürlich muss man die Texte der anderen auch lesen, sich nicht nur für das eigene Teilprojekt interessieren. Das Interesse an den anderen Sprachen. Ist eine Voraussetzung doch es geht nichts ohne die gemeinsame Idee, doch wie kommt man zu ihr, wenn man sie nicht hat? Heerscharen (!) von Teams und Organsiationen suchen sie und finden sie nicht, holen sich Mediatoren Moderatorinnen haben sie nicht, finden sie nicht, nach aussen irgendwie schon, nach innen nicht. Kurse, Ratgeber, Expertinnen, Lehrstühle für die gemeinsame Idee, sie ist da oder nicht. Dann reden reden reden reden, Flipcharts füllen, Flipcharts fotografieren, Momente der Hoffnung, dann der Alltag, mein Garten Dein Garten, so tun als ob, reproduzieren was schon da war, Gebäude sind eine Funktion des Leerlaufs. Ich will zurück zum Garten, zum Garten Eden. Da wo alles noch einfach war, im Moment vor der Vertreibung aus dem Paradies. Nach dem Paradies kamen dan die Türme. Dann kam das Paradies zurück, danach die Flugzeuge. Die Türme gab es dann nicht mehr. Aber das war kein Problem, man konnte wieder neue bauen. Nach jedem Turmfall kam ein Neubau. Und auch heute neigen sich manche Türme gen Boden. In Venedig sind z.B. alle Türme schief und sie scheinen immer schiefer. Ob man da auch wieder neue baut, wenn sie irgendwann einmal in den Kanal stürzen. Sozusagen ist der Turmbau ein nie endendes Projekt, weil immer neue Türme entstehen, wenn einer wieder zerfällt. Der Turmkreislauf scheint nicht zu enden.

 

Dieser Text ist einer von dreien, welche das Projekt «Turmbau zu Babel» abschliessen. Vor dem Hintergrund der biblischen Erzählung um den Turmbau zu Babel (Gen 11, 1-9) setzte es sich kritisch mit den Themen des Theaterfestivals auseinander und führte den Diskurs zu Fragen des Aufführens, Vorführens und der Bürgerschaft in einer globalen Welt weiter. Rückblickend lässt sich auch die Zollfreilager-Spezialausgabe selber als eine Art von Turmbau verstehen. Die Idee zum Projekt war ein Fundament, die Konzeption ein Bauplan, in der Realisierung wuchs die Publikation Ziegel um Ziegel, Stockwerk um Stockwerk, Beitrag um Beitrag wie ein Turm in die Höhe. Oder in die Breite? Ist es überhaupt ein Turm? Wird er Bestand haben oder zerfallen? Haben wir eine Sprache gefunden, um über das Nichtverstehen zu reden? An der Stelle eines Rückblicks steht ein Experiment kollektiven Schreibens, das am 12. September 2019 im Alpenhof in Oberegg AI von der erweiterten Turmbau-Redaktion (Valérie Hug, Eva Mackensen, Annatina Nay, Patrick Tschirky, Eva Vögtli, Deborah von Wartburg, Ruedi Widmer) durchgeführt wurde und das nun in den letzten drei Beiträgen dokumentiert ist.