Turmbau Rückblick II
Was geschieht, wenn Menschen mit einer gemeinsamen Sprache auf ein gemeinsames Projekt, hier die Spezialausgabe «Turmbau zu Babel» zum Zürcher Theaterspektakel zurückblicken? Was kommt dabei raus? Kommt es zum Turmbau, zum Nichtverstehen oder endet alles in einer Katastrophe? Teil II von III.
Wenn einer nach rechts rückt, löst sich eine Kettenreaktion aus. Ich weiss nicht, aus welchem Text dieser Satz stammt. Leider. Ich werde alle Texte im Nachhinein noch lesen. Ich war etwas weiter entfernt von diesem Projekt, als die anderen Turmbauer. Ich hoffte, dass ich trotzdem den Faden nicht verliere und das Thema weiterhin richtig verstehe, auch wenn ich beim Entstehungsprozess nicht dabei bin. War unsere Kommunikation im Vorfeld ausreichend? Oder wurde ich vom losgelösten Baustein vom ganzen Projekt. Und doch sollte er ins Projekt reinpassen und man sollte ihn nicht als aus der Fassade herausfallenden Baustein betrachten. Ich bin gespannt, die übrigen Texte zu lesen und mir den Turm im Nachhinein zu erschliessen und zu sehen, ob er mit meinen Anfangserwartungen übereinstimmt. Wenn nicht, ist das vielleicht noch viel spannender. Für mich war das Turmbauprojekt wie dieser Text hier: Ich schreibe irgendwas, und habe dabei keine Ahnung, was die andern schreiben und hoffe aber, dass es irgendwie zusammenpasst und ein verständliches Gesamtwerk gibt. Dann ist jedes Menschenwerk eines, wo alle etwas machen und hoffen, dass es irgendwie zusammenpasst. Und wenn es dann doch erkennbar nicht zusammenpassen würde, könnte man fragen, was würden die Leute dann tun? Sie würden fragen nach einem Plan («kein Plan»), nach einem Film («im falschen Film»), nach einer starken Hand («starke Hand»), dann würden andere sagen nicht mit mir usw. usf. Eine Stimme schreit «Order!», «Order!», «Order!» und der Zeitpunkt naht, wo man mit oder ohne Plan («without a deal») in etwas rein muss, aus etwas rausmuss, durch etwas durch muss wie das Volk Israel im Alten Testament, z.B. durch das Rote Meer. Wir hatten es in diesem Projekt schöner als das Volk Israel. Wie hatte es das Volk in Israel denn? Das weiss ich nicht. Und war das Volk in Israel da schon zweigeteilt, das rechte und das linke, das israelische, das palästinenische? Das weiss ich nicht. Diesen Konflikt verstehen? Nichtverstehen? Nichts verstehen? Verstehen als Grauzone zwischen links und rechts, zwischen Publikum und Schauspieler*innen, zwischen dem Ich und dem Du? Ich rücke nach rechts und du rückst mit. Wenn du rückst, werde ich da wieder weiterrücken? Wenn Israel rückt, rückt Palästina auch und umgekehrt? Ketten. Davon muss man sich unbedingt befreien, wenn man sich bewegen und entfalten möchte. Ketten sprengen und in die Freiheit hinauslaufen und spüren, dass das gar nicht so einfach ist, auch gedanklich nicht. Das haben die Laienschauspieler*innen aus Kuba auch gespürt und erfahren. Freiheit hat ja nicht nur eine physische und eine psychische Komponente, sondern auch eine geistige, intellektuelle, kognitive. Das wurde sichtbar und hörbar. Irritationen auf der Bühne und im Zuschauer*innenraum. Und wurde medial aufgegriffen und mit einem gewissen Unverständnis quittiert, obwohl es doch auf der Hand liegt. Aber vielleicht war man hier geistig auch in Ketten gelegt. Und wen dem wirklich so sei, so soll immer auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass Menschen auch im Stande sind, diese Ketten zu sprengen. Andererseits würde ein solches Denken, eines, dass sich in rechts und links, schwarz und weiss teilt, schnell an seine selbst auferlegten Grenzen stossen. Grenzen. Auch davon soll man sich unbedingt befreien, wen man sich bewegen und entfalten möchte, einander verstehen möchte. Oder vielmehr, Grenzen überwinden. Die eigenen, wie auch diejenigen der Anderen. Wer einen Turm bauen will, der wird oft und an viele Grenzen stossen. Welche Grenzen das sind? Das weiss ich nicht. Ich habe noch nie einen Turm gebaut. Und habe es, offen gestanden, auch nicht vor. Ich bleibe lieber hier, auf dem Boden, mische mich unter die Leute, nehme im Vorübergehen wahr, was sie sagen. Das verstehe ich dann mehr oder weniger. Oder zumindest habe ich das Gefühl, es zu verstehen. Denn es baut nicht auf Luftschlössern auf, sondern auf dem Leben, das alle führen, auf realen Akten, für deren Verständnis es die Sprache nicht braucht. Vielleicht sind sie deshalb auch ehrlicher. Viellicht ist die Sprache der Feind des Verständnisses und Menschen die mit Sprache arbeiten bringen nicht Verständnis, sondern Unverständnis in die Welt. Vielleicht tun sie das auch ohne es zu wollen. Ich jedenfalls beobachte lieber das Nicht-Sprachliche und kommuniziere lieber mit Blicken, Nicken und Taten. Wer so kommuniziert, nimmt weniger Grenzen wahr in der Welt. Es erscheint alles ein bisschen einfacher, und das Gefühl des Selbstbetrugs, das bei einfachen Sätzen manchmal mitschwingt, bleibt aus. Aber was ist, wenn etwas nicht so einfach ist, wenn es das Luftschloss braucht, die Sprache, um etwas auszudrücken? Soll man dann darauf verzichten? Oder das Risiko des Unverständnisses wählen? Dieses Risiko ist nämlich unabschätzbar. Es kann zu realen Konflikten in TATEN führen.
Dieser Text ist einer von dreien, welche das Projekt «Turmbau zu Babel» abschliessen. Vor dem Hintergrund der biblischen Erzählung um den Turmbau zu Babel (Gen 11, 1-9) setzte es sich kritisch mit den Themen des Theaterfestivals auseinander und führte den Diskurs zu Fragen des Aufführens, Vorführens und der Bürgerschaft in einer globalen Welt weiter. Rückblickend lässt sich auch die Zollfreilager-Spezialausgabe selber als eine Art von Turmbau verstehen. Die Idee zum Projekt war ein Fundament, die Konzeption ein Bauplan, in der Realisierung wuchs die Publikation Ziegel um Ziegel, Stockwerk um Stockwerk, Beitrag um Beitrag wie ein Turm in die Höhe. Oder in die Breite? Ist es überhaupt ein Turm? Wird er Bestand haben oder zerfallen? Haben wir eine Sprache gefunden, um über das Nichtverstehen zu reden? An der Stelle eines Rückblicks steht ein Experiment kollektiven Schreibens, das am 12. September 2019 im Alpenhof in Oberegg AI von der erweiterten Turmbau-Redaktion (Valérie Hug, Eva Mackensen, Annatina Nay, Patrick Tschirky, Eva Vögtli, Deborah von Wartburg, Ruedi Widmer) durchgeführt wurde und das nun in den letzten drei Beiträgen dokumentiert ist.
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Valérie Hug, *1993, ist Studentin im Master Kulturpublizistik. Annatina Nay ist Visuelle Gestalterin und studiert im MA Kulturpublizistik. Eva Mackensen (*1986) studierte Philosophie und Kulturkritik in München. Sie ist Dozentin im Master Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste. Ruedi Widmer, *1959, ist Kulturwissenschaftler und Kulturpublizist. Er leitet den Master Kulturpublizistik an der ZHdK und ist verantwortlich für die Plattform Kulturpublizistik.