Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Gianna Rovere

Tracked Goddess

Um die Grenzen des Feminismus zu verwischen, entschied sich Donna J. Haraway 1985 in ihrem berühmt gewordenen «Cyborg Manifesto» für die Figur der Cyborg und gegen diejenige der Göttin. Eine subjektive Gegenüberstellung der beiden Figuren und ein Nachempfinden der Frage, was die Göttin trotz allem zu einer Figur der Gegenwart und Zukunft werden lässt.

Body 2021

Es ist Sommer 2021 und ich sitze in einem Café an der Limmat. Die Serviceangestellte nimmt meine Bestellung entgegen und tippt den Wunsch nach Erbsenmilch in ihr Tablet. Gute Wahl, gesünder und mehr Protein als Kuhmilch. Ich nicke. Die Sonne scheint in meinen Laptop und anstatt die Werbung von Venus Gillette von 2002 – die mir mein Algorithmus auf Youtube vorgeschlagen hat – sehe ich mein Gesicht im Bildschirm. «Entdecke die Göttin in dir», schreibe ich in mein Notizbuch und setze ein Fragezeichen dahinter.

Ich nippe an meinem Erbsenmilcheiskaffee – 42kcal pro 100ml, 2g Protein, im Vergleich dazu hat Kuhmilch 65kcal und 3,3g Protein, wie mir Google sagt – und beobachte, wie Jogger:innen an mir vorbeiziehen. Grosse, kleine, alte, junge, trainierte, leidende, verbissene, mit oder ohne Kopfhörer. Es ist interessant, wie viele verschiedene Menschen rennend und schnaufend ihren Weg der Limmat entlang finden. Jede:r von ihnen optimiert sich dabei selbst: Body, Mind, Soul – in dieser Reihenfolge. Was die meisten verbindet: Eine Fitness-App, die ihnen durch einen kurzen Blick aufs Handgelenk, Handy oder über die Kopfhörer verrät, wie schnell sie rennen, wie viele Kilometer hinter oder vor ihnen liegen und wie viele Kalorien bisher verbrannt wurden. Eine Freundin erzählte mir letztens, dass sie niemals joggen gehen würde, wenn sie keinen Ansporn durch die in ihrer App festgehaltenen Statistiken, Resultate und Erfolge hätte. Ihr würde die Motivation fehlen, eine Routine zu manifestieren. Auch der japanische Autor Haruki Murakami verfolgt seine Laufziele diszipliniert: Er läuft 6 Meilen pro Stunde, 36 Meilen in der Woche, 156 im Monat. Er hat darüber sogar ein Buch geschrieben, was mich darüber nachdenken lässt, ob Leistung nur zählt, wenn sie festgehalten und kontrolliert wird. Ob sich Kilometer leichter und schneller erreichen lassen, wenn dir eine Stimme ins Ohr flüstert, dass du gerade fünf Minuten schneller als üblich unterwegs bist? Ich glaube eher, dass wir uns immer mehr daran gewöhnen, dass unsere elektronischen Geräte für uns mitdenken, unsere Gehirne und Netzwerke erweitern, unsere Leistung und Kommunikation dokumentieren und Aufgaben übernehmen. Wir sind nahezu eins mit Geräten und den dazugehörigen Apps geworden. «Ich denke, also bin ich» allein reicht nicht mehr aus. Vielmehr müsste es heissen: «Ich tracke, also bin ich.»

 

Mind 1985

Though both are bound in the spiral dance, I would rather be a cyborg than a goddess. [1]

Mit diesen Worten beendet Donna J. Haraway ihr «Cyborg Manifesto», einen Essay, der 1985 im Magazin The Socialist Review erschienen ist. Sie kritisiert darin traditionelle Vorstellungen eines Feminismus, der auf Identitätspolitik fokussiert und fabuliert einen Vorschlag zu mehr Zusammenhalt durch Wesensverwandtschaft. Im Hinblick auf den Übergang einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem stellt sie Gegenüberstellungen von Materiellem wie auch Ideologischem in einer Tabelle dar. Ihr Fazit daraus ist unter anderem, dass es kein Zurück zu den «bequemen, alten, hierarchischen Formen der Unterdrückung» gibt und auch, dass «nicht nur Gott tot [ist, sondern] auch die ‹Göttin›.»

Anhand der Figur der Cyborg argumentiert sie weiter ihre Ablehnung starrer Oppositionen vom traditionell verstandenen Geschlecht, im Feminismus und in der Politik. Die Dichotomien und Grenzen zwischen «Mann» und «Frau», «Mensch» und «Tier» oder «Mensch» und «Maschine» will sie spielerisch verwischen. Cyborg setzt sich aus den Begriffen Kybernetik  und Organismus zusammen. Ein Mischwesen aus Mensch und Maschine, das einerseits im eingeschränkten Sinne «Technik unter der Haut» meint, wie im Beispiel eines Herzschrittmachers oder einer Insulinpumpe. Anderseits können Cyborgs in einem erweiterten Sinn als Diskurs begriffen werden, der die zunehmende Relevanz von Technologie in, an und mit Körpern beobachtet und die damit verbundene Vermischung von sogenannt «Künstlichem» und «Natürlichem» thematisiert – was gegen die gängige Meinung spricht, dass Natur nie menschlich und Technik nie natürlich sein kann. Haraway geht noch einen Schritt weiter und stellte sich eine digitale Zukunft vor, in der uns das Virtuelle von den patriarchalen Codes unserer gesellschaftlich verankerten Ordnung befreit und sich dadurch Chancen zur Emanzipation und Gleichberechtigung ergeben. Als Hybridwesen würden wir gleichzeitig in der Realität und im Cyberspace leben und agieren. Denn, wenn alle Avatare aus Nullen und Einsen bestehen würden, wäre es egal, welche Stellung jemand im «echten» Leben hätte.

Wenn die damalige Zukunft das heutige Jetzt ist, dann muss ich Haraway enttäuschen: Ich lebe zwar eng mit den Möglichkeiten des Internets und seinen Endgeräten verbunden und theoretisch haben alle mit Internetzugang im Netz eine gleichlaute, körperlose Stimme. Algorithmen wie auch Soziale Medien sorgen aber dafür, dass dieser Cyberspace lediglich eine Verschiebung der physischen Welt ins Digitale bedeutet und überhaupt nicht frei von den bekannten Formen wie zum Beispiel religiöser, kapitalistischer, sexistischer oder rassistischer Unterdrückung ist. Mir selber bescherte mein Netlog-Account mit Zwölf schon schlaflose Nächte und ein angeknackstes Selbstbewusstsein, weil meine Flamme mich als dick und meine beste Freundin als heiss kommentierte. Und auch heute spüre ich mehr denn je unerreichbare Erwartungen an mich als junge Frau. Social Media, Memes und Medien zeigen mir, wie ich auszusehen habe, wie erfolgreich, wie achtsam, wie fit, wie feministisch, wie «woke» ich sein soll. Ich bin, ohne mich dafür entschieden zu haben, automatisch und ohne implantiert zu sein, eine Cyborg geworden; dabei wollte ich doch so lange dringend eine Göttin sein – ein natürlich schönes und angepasstes Wesen nämlich, das zudem nicht permanent mit techno-medialen Einflussnahmen konfrontiert ist. Heute sehe ich das anders.

 

Soul, gestern

Würde Haraway auch heute noch die Figur der Cyborg mit der der Göttin vergleichen und sich für Erstere entscheiden? Vom Text ausgehend erscheint mir ihre damalige Entscheidung sehr plausibel: Die Cyborg verkörpert als unbeschriebener Mythos die Zukunft und mit ihr die Freiheit von Zwängen, während die Göttin schwer aus ihren Fesseln der Vergangenheit, der Religion und den damit zusammenhängenden Ursprungsmythen herausgelöst werden kann.

Die Idee des Cyborgs wurden 1960 von der NASA inmitten des amerikanisch-sowjetischen Wettlaufs um die Eroberung des Weltraums als Lösungsvorschlag für das Problem der Überlebensfähigkeit von Menschen in die Welt gesetzt. Zwei Berater schlugen in ihrem Paper «Cyborgs and Space» vor, nicht zu versuchen, erdenähnliche Umgebungen im Weltraum zu schaffen, sondern Menschen mit einem selbstregulierenden System auszustatten, das «sich um die lästigen Probleme der Atmung, des Stoffwechsels, des Schlafs, des Kreislaufs und anderer biologischer Notwendigkeiten kümmert und dem Menschen die Freiheit lässt, zu erforschen, zu erschaffen, zu denken und zu fühlen».[2] Während zu Cyborgs als Hoffnungsträger:innen aufgeschaut wurde, hatten es Göttinnen immer schon schwer. Sie hatten zwar vor langer langer Zeit mal die Hoheit über die Fruchtbarkeit, wurden dann aber in der Gött:innenwelt Griechenlands in getrennte Zuständigkeitsbereiche verdonnert: Aphrodite für die Erotik, Demeter für die Fruchtbarkeit der Pflanzen und Hera für die Fruchtbarkeit der Frauen. Mit dem Monotheismus im Juden- und Christentum war dann komplett Schluss für weibliche Göttlichkeit und die männliche rückte ins Zentrum. Die Schöpfer:innenkraft und Fruchtbarkeit wurden nach dem sündigen Apfelbiss der Eva im Paradies einem allmächtigen Gott zugeschrieben. Damit wurde weibliche Sexualität zur Sünde und zu einem Übel. So war die Unterordnung der Frau und ihre Degradierung zur Gebär-Maschine als etwas Quasi-Natürliches manifest. Durch dieses Gedankenerbe sehen sich viele Frauen auch heute noch selbst als von Natur aus minderwertige Wesen, die sie nur durch männliche Wertschätzung – «She’s got it, Yeah, baby, she’s got it. Well, I’m your Venus, I’m your fire at your desire»[3] – aufwerten können. Ein raffinierter Trick, der dazu führt, dass viele Frauen denken, allein dem Vergnügen von Männern zu dienen und zur Erledigung von wenig attraktiven Arbeiten da zu sein. Der Mann als Oberhaupt wurde durch die Erfindung dieser unanfechtbaren Autorität legitimiert: Der Mann ist gottgleich, also ist Gott doch auch manngleich.

Die Begegnung, die ich in meinem Leben mit der Figur der Göttin hatte, haben viel mit langen, glatten Beinen zu tun. Wenn ich an «Göttin» denke, denke ich neben Nike und Beyoncé schnell an die Werbungen von Gillette Venus. Die Werbung für Frauenrasierer säuselte mir bereits 2000 ins Ohr: «Zeit, um sich wie eine Göttin zu fühlen. (…) So gründlich, dass die Haut länger glatt bleibt – so wie es Göttinnen gebührt.» Damals spielte ich noch neben dem Fernseher mit glatten Barbies – als ich wenige Jahre später das Spielzeug weglegte: «Erwecke die Göttin in dir». Ich sah Frauen am Strand ihre glatten, leicht gebräunten, narbenlosen, langen Beine synchron übereinanderschlagen. Mein eigener, 7-jähriger Mädchenkörper wurde leise zum Feind. Er wollte einfach nicht wie eine Göttin aussehen. Und auch wenn die Marke seit 2011 mehr Diversität predigt, indem sie sagt «Jede Frau kann eine Göttin sein», dabei aber die immer gleichen stereotypen und definierten Frauen über den Bildschirm schreiten lässt, fand ich meine innere Göttin trotzdem nicht. Heute bin ich auch lieber eine Cyborg als eine Göttin. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist – oder ob meine Vorurteile gegenüber dem Bild dieser Figur aus mir sprechen.

 

Göttin, morgen

Haben die Göttin und die Cyborg je in einem gemeinsamen Ritual getanzt? Das Gemeinsame der beiden Figuren sehe ich im Nicht-Menschlichen – und das ist vielleicht auch die ausschlaggebende Eigenschaft, warum Haraway sie eng umschlungen einen «Spiral Dance» – einen neopaganistischer Gruppentanz für Gemeinschaft und Wiedergeburt – praktizieren liess. Denn Göttinnen sind heilig, unerreichbar; Cyborgs sind Maschinen, technisch. Beide entziehen sich der Körperlichkeit, was sich gerade in den Versuchen zeigt, sie als Bilder antastbar zu machen. Während Cyborgs als Erweiterungstools unserer Körper und Gehirne begriffen und mit grösster Neugier ausgelotet und weiterentwickelt werden, sind Göttinnen in meinem Verständnis ziemlich festgefahren. Aber das Alte ist nicht automatisch schlecht und Neues glänzend: Wir sollten damit beginnen, die Figur der Göttin aufzuwerten, ihr ein Update zu verpassen und aufhören, sie als Feindin zu sehen. Ich wünsche mir starke und relevante Göttinnenfiguren, zu denen ich aufschauen kann, die keine Feindinnen, sondern meine Gefährtinnen sind. Die mir auch in der physischen Welt den Rücken stärken und im Gegensatz zur technischen Geschlechtslosigkeit die natur-gegebene Gleichberechtigung von Frauen* manifestiert. Es ist höchste Zeit, diese Figur aus dem festen Griff der Schönheits- und Unterhaltungsindustrie zu befreien, sie neu zu besetzen und umzuschreiben.

[1] «Cyborg Manifesto» in: Socialist Review, No. 80, 1985: S. 65–108. (Dt. «Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin.»)

[2] Andy Clark «A History of Cyborgs», 2020 (maggieappleton.com/cyborg-history, 9.8.2021)

[3] Die Originalversion von «Venus» wurde 1969 von der Niederländischen Band Shocking Blue veröffentlicht. Die Coverversion von Bananarama ist vor allem als Musik in den Werbungen von Venus Gillette bekannt.