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Valeria Mazzeo

To fall out of love

Dekonstruktion einer imaginierten Liebesgeschichte.

Grande Bar, 17.23, Freitag. Das Wetter lädt zum Draussensitzen ein. Es ist einer der ersten warmen Tage, der Frühling klopft an. Wohl neben Freitagabend einer der Gründe für die ausgelassene Stimmung in der Bar an der Limmat. Draussen ist kein Platz, also setze ich mich hinein auf die Bank am Fenster und bestelle eine Cola Zero, obwohl mir ein gut gemischter Aperol Spritz lieber wär – zu wässrig aber im Grossen, das weiss ich bereits. Drinnen hat es weniger Leute, nur die, die sich zu spät zum Feierabendbier verabredet haben. Mir gegenüber sitzen zwei Personen Anfang Dreissig. Die eine Person trinkt einen Schluck vom Bier, während die andere von Freund*innen erzählt. Man hört sich aufmerksam zu, in der Art von Aufmerksamkeit, die man zeigt, wenn man einen guten Eindruck machen möchte. Die beiden wirken vertraut, aber nicht wie gute Freund*innen. Eher wirkt es wie ein Date, nicht das erste, das zweite vielleicht. Person Nummer zwei schwenkt den Aperol Spritz, der aufgrund seines H2O-Gehalts wohl nicht beim Abbau von Hemmschwellen beim Kennenlernen hilft. Geschweige denn für das Aufbauen von Mut für einen One-Night-Stand. Obwohl, wenn ich mir die zwei genauer anschaue, scheinen sie dies gar nicht zu benötigen. Die beiden vis à vis scheinen sich sehr gut zu verstehen.

Ich stelle mir vor.

M und J. Sie haben sich über Tinder gefunden.

M und J. M erzählt etwas und J lacht laut. M zeigt J etwas an der Hand, woraufhin J diese berührt. Beim Sprechen schauen sie sich in die Augen, kein Blick nach links oder rechts und schon gar keiner aufs Handy, vollkommen vertieft ineinander. Langsam scheint sich eine Blase um sie zu bilden, in der nur sie beide existieren. Jedes Lächeln, jede Geste, jedes Wort scheint von einem unsichtbaren Band der Anziehungskraft begleitet, das sie unaufhaltsam näher zueinander zieht.

Meine zucker- und alkoholfreie Cola kommt. Gleichzeitig steht J auf, geht auf die Toilette und M gräbt das Handy aus der Jackentasche hervor.

Einige Zeit vergeht, beide halten sich an die Drei-Tage-Regel. J fragt sich, warum M sich noch nicht gemeldet hat. Soll J schreiben? J möchte aber nicht zu aufdringlich wirken. Bloss nicht needy rüberkommen. J schreibt: «Hey, ich has mega nice gfunde leschte Fritig. Hettisch Luscht, die Wuche öppis z mache?», und legt das Handy weg. J wartet. Es kommt nichts, auch nach drei Stunden nicht. J ist verunsichert. J versucht, nicht auf die Antwort zu warten, aber tut es eben doch. J lenkt sich ab, schreibt ein paar Mails, geht einkaufen und schaut eine neue Episode «Better Call Saul». Bei jeder Pushbenachrichtigung schwenkt der Blick hoffnungsvoll auf den iPhone Screen. Email: «Ihre Netflix-Mitgliedschaft läuft bald ab, bitte aktualisieren Sie Ihre Zahlungsinformationen.» Während Jimmy McGill und Kim Wexler über ihre neue Kanzlei diskutieren, leuchtet schliesslich das Display auf: «Mitteilung von M». «Hoi J, ich has au nice gfunde. Ha aber gmerkt, dasses für mich eher fründschaftlich isch.» Ein kaltes Gefühl macht sich breit. J starrt auf die Nachricht. J versteht nicht. J fällt.

Am Boden aufgeprallt, zerspringt Js Herz wie eine gläserne Weihnachtskugel. Js Brust schmerzt, Js Herz schmerzt. J fühlt das tausendfache Liebesleid, das schon seit Jahrhunderten beschrieben wird, und fühlt sich doch unendlich allein. So fühlt sich der Entzug der Verliebtheitsdroge an. Dopamin ade. J fühlt sich zerbrochen, unvollständig. Noch unvollständiger als zuvor. Dabei hatte J gehofft, nicht mehr nur als Halbes durch die Welt zu gehen, sondern endlich die bessere Hälfte zu finden. Ganz sein. J fragt sich, ob die richtige Reaktion nun wäre, sich einen traurigen Film anzusehen und einen ganzen Kübel Eis zu essen. Oder sich komplett wegzuballern und in die Zuki an der Langstrasse zu gehen. Oder Js Situationship zu texten. So hat J es zumindest in den zahlreichen 2000er Romcoms gesehen – zufälliges Treffen im Supermarkt, Essen gehen, happy End. Davor vielleicht noch ein Kuss im Regen. Und natürlich verliebt am nächsten Tag. Danach Krise. Er hat eine andere, sie tröstet sich mit einem Topf Ben & Jerry’s. Natürlich bis sie bemerkt, dass sie eigentlich in ihren unscheinbaren Arbeitskollegen verliebt ist. Happily ever after. Dass toxische Liebesverhältnisse so normalisiert, wie auch romantisiert werden, merkt J nicht. J geht ins Bett.

Am nächsten Morgen merkt J, dass kein Kaffee mehr da ist. Falls Js Herz noch nicht ganz unten angekommen ist, sackt es nun noch einen Stock tiefer. Also Einkaufen. Natürlich zieht es die Verliebten bei diesem Frühlingswetter aus ihren Löchern auf die Strassen. Sie versprühen ihren Verliebtheitsduft. J will kotzen und setzt sich Kopfhörer auf, Jeremias säuselt J ins Ohr: «Wieso hat jedes Kennzeichen dieser fucking Stadt die Anfangsbuchstaben unserer Namen?» Die Paare fangen an, J nachzustarren während J die Strasse runterläuft. Sie tuscheln, zeigen mit dem Finger auf J. J setzt die Kopfhörer wieder ab: «So alleine … hat einen Korb gekriegt …» Die Verliebten drehen sich in Js Richtung. J beginnt schneller zu gehen, rasch in den Laden.

Drinnen bahnt sich J den Weg durch die Menschenmenge zum Kaffeeregal. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wird J dabei nicht los. J schiebt es auf Einbildung und darauf, noch keinen morgendlichen Kaffee getrunken zu haben, da kann man schon mal neben der Spur sein. Beim Greifen der Packung fallen J zwei küssende Menschen am Ende des Ganges auf. Die haben es heute wohl darauf angelegt … J biegt ums Eck und stösst vor der Käseabteilung beinahe mit einem weiteren knutschendem Paar zusammen. «Schuldigung …», murmelt J und schlängelt sich an ihnen vorbei. Die beiden sagen nichts und bewegen sich in Js Richtung.

J versucht schneller zu gehen, aber der Weg wird J vom Kaffeeregal-Paar abgeschnitten. Von allen Seiten torkeln die händchenhaltende Gestalten nun auf J. «Unvollständig… wertlos…», murmeln die Liebeszombies mit angewiderten Gesichtern. Plötzlich legen sich zwei Hände auf J Schultern: «Wie willst du denn diesen Kaffee trinken? Ganz alleine?» J schüttelt die Hände ab, schubst die Paare weg und rennt zur

Kasse. Die Kassiererin schaut J tief in die Augen. «Armes Kind.» Ihre Augen formen sich zu Herzen und beginnen zu flackern. J kann sich vom Blick der Frau nicht losreissen. Die Zombies strömen nun von allen Seiten auf J zu und bilden einen Kreis um J. «Armes Kind, armes Kind, armes Kind», flüstern sie kakophonisch durcheinander. J bricht zusammen und fällt.

Mit dem Strohhalm komme ich am Boden meiner Cola an.

J kommt von der Toilette zurück. Zurück am Tisch wartet die Rechnung, die M bestellt hatte. Sie teilen. Eigentlich würden sie sich beide gerne fragen, ob die andere Person gerne zu sich nachhause kommen würde. Aber dafür ist es noch zu früh und der Alkoholpegel zu niedrig. Verabschiedung also. «Villicht bis bald?» – «Ja, villicht bis bald.»