«They want nothing less than everything!»
Die Zuschauer:innen schauen vom Trockenen ins Wasser. Es schaukelt und es wird ihnen etwas schwindelig, während sie «Waterworks» folgen, das von der renommierten Choreografin Meg Stuart in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Kollektiv The Field für die Saffainsel entwickelt wurde. Ein gewagter Auftakt des Festivals.
Die Nacht bricht an und das Publikum lässt sich auf einer zweigeteilten, halbrunden Tribüne aus schwimmenden Pontons nieder. Mit Blick auf das Ufer der Saffainsel treibt es für die nächsten 90 Minuten auf dem Wasser. Die amerikanische Choreografin Meg Stuart fordert mit «Waterworks» die Vorstellungskraft des Publikums wie auch die Grenzen ihrer Performer:innen heraus, indem sie die steile Uferböschung zum Übergang zwischen Natur und Zivilisation und das flache Wasser zum Playground erklärt. Sie lässt uns daran teilhaben, wie die Performer:innen das Wasser liebkosen und sorgfältig abtasten, aber auch, wie Gewalt durch Aufschlagen von Körpern im Wasser evoziert werden kann. Ein stetiges Abtasten von Möglichkeiten und ausgelösten Gefühlen, ohne dabei einem einzigen oder klaren Erzählstrang zu folgen.
Die sieben Performer:innen in «Waterworks» lassen sich zu Beginn des Stücks Zeit, das Wasser mit ihrem Körper zu erkunden. In goldenes Licht getaucht suchen sie Widerstand, Öffnungen, tauchen ab und auf, wiederholen diese Bewegungen spielerisch, bevor sie sich langsam aus dem Wasser über die Böschung hinauswagen. Mit überspitzten animalischen und entdeckerischen Bewegungen – sie kriechen echsenhaft durch den aufwirbelnden Staub oder schauen demonstrativ in die Ferne – machen sie sich das Land zu eigen. Sichten und gesichtet werden. Die Darsteller:innen tragen über ihren Neoprenanzügen Kostüme von Jean-Paul Lespagnard – unter anderem urbane Streetwear in Tarnfarben, die sie nach der Eroberung des Lands nach und nach abwerfen und zum Ende hin gegen pompöse Kleidung oder nackte Haut eintauschen.
Verletzte Körper in Zeitraffer
Nach einer ersten Zuspitzung kehrt auf dem Wasser Ruhe ein. Sechs Performer:innen haben sich auf dem schwarzen Floss versammelt, das leicht schwankend vor dem Publikum treibt. Erschöpft legen oder setzen sie sich hin, decken sich mit silbern schimmernden Tüchern zu. Von melancholischer Musik und sanftem Licht untermalt ein beinahe liebliches Bild – wären da nicht Assoziationen zu europäischer Migrationspolitik und dem damit verbundenen Elend, die sich als Medienbilder in die Köpfe der Zuschauer:innen schleichen. Man hofft beinahe, dass es vorbei ist – und kann die Augen doch nicht abwenden. Zumal «Waterworks» von einer fast unheimlichen Ästhetik lebt: Wasserperlen glitzern auf der Haut, Staub wirbelt auf, Tücher fliessen durchs Wasser und Pailletten reflektieren das Licht. Letzteres ist von Nico de Rooij und Elodie Dauguet und trägt zusätzlich zum galaktisch-organischen Sound der Klangkünstlerin Mieko Suzuki dazu bei, dass Zuschauer:innen etwas Halt bekommen, wenn sie müde werden im Bemühen, die vielen angeschnittenen Diskurse zu entschlüsseln.
Das Stück bedient sich allgemein einer heftigen Symbolsprache, in der Hände zu Pistolen, Hälse abgetrennt oder Trauerweidenzweige ins Wasser getragen und Perlen in dieses hineingeworfen werden. Die Narrative im Stück spitzen sich immer weiter zu, es werden parallele Erzählstränge begonnen, wiederaufgenommen und verfolgt, die zum Schluss gebündelt wie auch zerstreut werden und verschwimmen, gar verwässern. «Waterworks» bietet einen grossen Resonanzraum für Assoziationen aus Geschichte, Gesellschaftspolitik, Kunst und Popkultur, wie zum Beispiel überraschende Bezüge zu Blockbustern wie «Titanic», «The Chronicles of Narnia» oder dem zweiten Teil der US-amerikanischen Science-Fiction Filmreihe «The Hunger Games». Dabei behält es genau in dieser Reizüberflutung seine Dringlichkeit in Bezug auf die aktuelle Situation der Welt, in der es von Machtmissbrauch, Krieg, Ressourcenknappheit und Klimakatastrophen erzählt. Das Spiel mit dem Wasser, dem Sand; der Natur als Werkzeugkasten und Kulisse – scheinbar nur dazu da, dem Menschen zur Verfügung zu stehen. So wie sich die Performer:innen vom Wasser langsam ans Ufer und immer weiter auf die Insel ausbreiten, hat es der Mensch sogar schon ins Weltall geschafft.
Die Arbeit von Meg Stuart dreht sich oft um einen verletzlichen Körper, der sich selbst in Frage stellt. Handelt es sich hier vielleicht um Europa? Denn vor den Augen des Publikums hat sich gerade ein diskursgeschwängertes und wildes Spektakel abgespielt, das als von Europa heraus gesehene Geschichte der Menschheit und Zivilisation gelesen werden kann – und zwar in Zeitraffer. Meg Stuart & The Field gelingt ein choreografisches wie auch künstlerisches Experiment, das sie kompromisslos durchziehen und das den Zuschauer:innen einiges an Ausdauer abverlangt. Gleichzeitig liefert es Diskussionsstoff. Und auch wenn sie schreien: «They want nothing less than everything!», bleibt aufgrund der visueller Überforderung vor allem ein Bild hängen, das man auf der Saffainsel schon zur Genüge kennt: Zwei Typen in Badehosen und Kühlbox, die sich einen Platz zum Sonnenbaden suchen. Wir sind wieder im Jetzt angekommen.
Die Choreografin, Regisseurin und Tänzerin Meg Stuart wurde 1965 in New Orleans in eine Familie von Theatermacher:innen geboren. Ihre ersten Tanzstudien machte sie als Teenager mit Fokus auf einfache Bewegungsaktionen. Heute ist sie für ihre kompromisslosen künstlerischen Recherchen in der Tanz- und Theaterszene bekannt. In Europa hat sie sich in den 1990er Jahren vor allem durch die Gründung der Kompanie «Damaged Goods» in Brüssel einen Namen gemacht, wo sie neben Berlin heute lebt und arbeitet. In transdisziplinären Kollaborationen mit Künstler:innen entwickelt sie Projekte in ihrer eigens entworfenen Arbeitsstruktur und sucht für jedes Stück eine neue Sprache. Von 2000 bis 2005 war sie mit «Damaged Goods» Artist in Residence am Schauspielhaus Zürich und forderte das Publikum mit «quälerischen Recherchen zum Zustand des Körpers in unserer gesellschaftlichen Realität» heraus, wie in den Medien geschrieben wurde.
The Field ist ein junges Kollektiv, das 2019 am Tanzhaus Zürich gegründet wurde. Lucia Gugerli, Pierre Piton, Declan Whitaker, Mirjam Jamuna Zweifel, Marisa Godoy und Romain Guion wollen Bezeichnungen entkommen und sehen sich selbst als Hybrid. Das Kollektiv baut auf einer offenen Struktur auf und gibt dabei unterschiedlichsten Arten von Kollaborationen im Bereich Tanz und Performance Raum. Aus diesen schöpferischen Prozessen entstehen Interventionen und Bühnenwerke, die weit über das hinausgehen, was wir unter Tanz verstehen.
Choreografie & Regie: Meg Stuart
Von & mit: Kristof Van Boven, Isabela Fernandes Santana, Lucia Gugerli, Pierre Piton, Maria Scaroni, Declan Whitaker, Mirjam Jamuna Zweifel
Dramaturgie: Bart Van den Eynde
Livemusik: Mieko Suzuki
Szenografie: Elodie Dauguet / Vivarium Studio
Lichtdesign: Nico de Rooij, Elodie Dauguet
Kostümdesign: Jean-Paul Lespagnard
Spezialausgabe
Andere Augen
Gianna Rovere (*1995) lebt in Zürich und ist Absolventin des Masters Kulturpublizistik an der ZHdK. Sie forscht zum Verbundensein von Elefant*innen und Frauen und arbeitet als freischaffende Autorin, Kuratorin und Kulturjournalistin.