«There’s an elephant in the room». Interview mit Paola De Martin
Was ist Diskriminierung? Wie lassen sich Diskriminierungserfahrungen vergleichen? Und wie lässt sich eine Sprache finden, um Unausgesprochenes zu benennen? Paola De Martin ist 1965 als Kind von italienischen Saisonniers nach damaligem Gesetz illegal in der Schweiz geboren, wo sie als «Italienerkind» verschiedene Formen der Diskriminierung erlebt hat. In einem offenen Brief, den sie am 21. September 2018 an Bundesrätin Simonetta Sommaruga geschrieben hat, fordert sie die offizielle Entschuldigung, die historische Aufarbeitung und die finanzielle Entschädigung für das, was den italienischen Saisonniers wiederfuhr: Die Verletzung ihres Menschenrechts auf Einheit der Familie. Das führte dazu, dass viele Kinder ungewollt von ihren Eltern getrennt aufwachsen mussten, versteckt wurden und teils an der Teilnahme am Schulunterricht gehindert wurden. De Martin fordert andererseits, dass sich diese Form der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung, die sich in anderen Zusammenhängen der Illegalisierung in der Schweiz bis heute wiederholt, endlich beendet wird.
EVA VÖGTLI: Deine eigenen Erfahrungen waren ausschlaggebend für dein Mitwirken bei INES (Institut Neue Schweiz), ein Think Tank, der die Menschen in der Schweiz sowie die Politik von Bund, Kantonen und Gemeinden auffordert, die Maximen der Humanität und Solidarität auch in der Ausländerpolitik der Schweiz zu verwirklichen. INES fordert eine Politik und Kultur, in der Ausländer*innen Menschen gleichen Rechts mit gleichen sozialen Ansprüchen wie Schweizer*innen sind. Wie kann man sich die Zusammensetzung und das Wirken von INES vorstellen?
PAOLA DE MARTIN: In den letzten zwei Jahren befand sich INES in der Aufbauphase. Wir suchten nach Verknüpfungen und nach dem, was uns trotz aller Unterschiede mit anderen diskriminierten Menschen verbindet. Das Netz ist sehr divers. Ich tauschte mich mit anderen Secondas aus, die keinen direkten biographischen Bezug zu Italien haben und merkte bald, dass sich gewisse Erfahrungen, die ich gemacht hatte, wiederholen. Darum ist es wichtig, zu überlegen, mit welchen Begriffen man gemeinsam die Situationen reflektiert, in denen man sich zunächst als Individuum ganz alleine auf der Welt und für alles selbst verantwortlich fühlt. Miteinander versuchen wir den Strukturen auf den Grund zu gehen, die sich zwar oberflächlich wandeln, in der Tiefe aber miteinander verbunden sind. Diskriminierung vollzieht sich reflexartig in so vielen alltäglichen, feinen, kleinen Entscheidungen, dass wir sie meistens gar nicht wahrnehmen. Ich selbst bin dagegen nicht immun. Rassismus, Sexismus und Klassendünkel sind dermassen verinnerlicht. Bei INES geht es darum, sensibel und offen zu sein in der Kritik wie auch in der Selbstkritik. Zum «Think» gehört aber auch ein «Act». Wir sind noch dabei, uns so zu organisieren, dass wir schlagkräftiger und sichtbarer werden können. Zu unserem Netzwerk gehören Leute aus der Kulturszene, aus der Politik, aus den Medien, aus dem Recht, aus der Bildung – verschiedene Berufsfelder also, die sich miteinander austauschen und nach aussen treten.
Du sagtest, es geht nicht nur um das Denken, also um Theorie und Reflexion, sondern auch um das Handeln. Gibt es bei INES Aktivist*innen ohne universitären Hintergrund?
Theoretisch schon. Ich selbst komme ursprünglich aus einer Arbeiterfamilie. Doch ich gehöre zu der Generation, welche es dank dem Opfer der Eltern geschafft hat, in diesem Land eine andere Position zu erreichen und eine Sprachgewalt zu erringen. Ich würde die Mitglieder nicht als ausschliesslich akademisch beschreiben, doch sie haben gelernt, sich auszudrücken. Wir haben gelernt, das Schweigen zu überwinden, treten raus aus einem Runterschlucken, Dankbarsein, Nichts-sagen, Anpassen an eine inferiorisierte Rolle. Wie Foucault sagte: «Macht ist produktiv» – und die Verantwortung, diese errungene Macht in einem guten Sinne zu nutzen, spüren wir alle. Wir wollen präsent sein, uns einmischen, Ungleichheiten und strukturellen Rassismus thematisieren. Handeln und nicht nur zu denken ist total wichtig. Aber es ist ebenfalls sehr wichtig, das Handeln zu reflektieren. Die Reflexion ist ein wichtiger Raum, um sich zu emanzipieren. Und das macht letztendlich ja auch richtig Spass.
Was ist innerhalb von INES dein persönlicher Fokus?
Ich habe meinen Fokus auf die nicht vorhandene Aufarbeitung eines Teils der Schweizer Geschichte gelegt, nämlich die Verletzungen der Menschenrechte von italienischen Saisonniers und ihren Familien. Oft höre ich, dass dies nicht Teil der Schweizer Geschichte sei, weil es sich bei den Betroffenen ja «nur» um Ausländer handelt. Ich fordere eine andere Wahrnehmung ein, indem ich sage: Doch, das ist ganz und gar Schweizer Geschichte.
In deinem offenen Brief an Bundesrätin Sommaruga hast du geschrieben, dass selbst dein eigener Bekanntenkreis mit Unbehagen auf die Geschichte der illegalisierten «Italienerkinder» reagiert. Weshalb ist es so schwierig, diesen Teil der Schweizer Geschichte als solchen zu akzeptieren, zu reflektieren und aufzuarbeiten?
Im Englischen gibt es diese schöne Metapher: «There’s an elephant in the room». Ich glaube, man kann sich daran gewöhnen, etwas Gigantisches einfach zu ignorieren. Und sobald jemand das Thema dennoch anspricht, fällt die erste Reaktion sehr peinlich aus, weil man merkt, dass man selbst ignorant war gegenüber den Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen an Italiener*innen in der Schweiz. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit, als sich durch diese unangenehmen Gedanken und Empfindungen durchzuarbeiten, sich dem Elefanten zuzuwenden und beginnen, ihn zu beschreiben.
Das heisst, Freunde und Bekannte aus deiner Generation empfinden ein Schuldgefühl, damals nicht gehandelt und nichts angesprochen zu haben, während sich in den folgenden Generationen ein Unwissen über die Geschichte ausbreitet?
Ja. Irgendwann häuft sich Schuld und Unwissen und wird zu einem reflexartigen Ausblenden, was zu einer intellektuellen Blockade führt. Man betreibt keine Archivforschung mehr, schreibt nicht mehr darüber und verbreitet das Wissen nicht weiter. Der Elefant aber bleibt und nimmt viel Raum ein. Die Verletzungen von damals prägen Beziehungen, sowie die Art und Weise, wie man übereinander denkt und miteinander spricht, oder eben schweigt. Das Wissen wird durch die Verdrängung habituell, also körperlich. Es führt beispielsweise dazu, dass wenn ich rechtspopulistische Stimmen am Radio höre, rasendes Herzklopfen verspüre. Das Wissen über das erlittene Unrecht ist im Körper archiviert, aber es fehlen zunächst die Worte, um es zu fassen. Auf der anderen Seite führen solche körperlichen Reflexe zu struktureller Gewalt – zum Beispiel dazu, dass ein «Ausländerkind», das schweigt oder stottert, unterschätzt wird. Man schiebt das dann auf seine vermeintliche Kultur. Oder ein «Ausländerkind», das mit Wut auf Diskriminierung reagiert, wird schnell als gewalttätig abgestempelt. Deshalb muss man das körperliche Wissen zurückverwandeln in nützliche Kampfbegriffe, in sinnvolle Sprache, in heilsame Gedanken.
Du sagtest sinngemäss, dass zunächst jedes diskriminierte Individuum isoliert sei und sich schuldig fühle. Vielleicht gilt ja das Gleiche für die kollektiven Diskriminierungserfahrungen – in der Schweiz diejenigen der Menschen aus Italien, dann in späteren Jahrzehnten diejenigen aus Sri Lanka oder aus dem Balkan. Das erinnert ein bisschen an den Turmbau: Jeder ist in seiner Erfahrung eingesperrt. Kann man sich daraus befreien? Sind Diskriminierungserfahrungen überhaupt vergleichbar, gibt es eine gemeinsame Sprache?
Die Erfahrungen der «Italienerkinder», sollte man mit anderen Diskriminierungen von Menschen vergleichen, die später in die Schweiz eingewandert sind. Das heisst aber nicht, dass sie gleich sind. Die grosse und auch sehr spannende Arbeit besteht darin, herauszufinden, wo es Ähnlichkeiten und wo es Unterschiede gibt. Das Interessante in Bezug auf den Turmbau zu Babel finde ich, die Geschichten zu erzählen, bei denen es Verbindungen gibt zwischen den sehr manifesten Makrostrukturen und den feinen, latenten Strukturen in den Emotionen, den Träumen und den Beziehungen, die wir leben.
Das erinnert mich an einen Gedanken von Judith Butler zum Slogan «Black lives matter!», welcher in Kalifornien momentan sehr verbreitet ist und auf den einige weisse Amerikaner mit der Aussage «All lives matter!» geantwortet haben. Butler kritisierte diese Reaktion und schrieb dazu, dass natürlich alle Leben gleichwertig sind, dass in der gelebten Realität aber nach wie vor Diskriminierung herrscht und deshalb zwischen «black lives» und «white lives» nicht einfach ein Gleichzeichen gesetzt werden kann.
Das ist sehr spannend, dass du das ansprichst. In der Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich ein Zitat herausgesucht, welches genau davon handelt. Ruth Klüger, eine Holocaust-Überlebende, schreibt in ihrer Autobiographie «weiter leben» über eine amerikanische Frau, welche ihr Schicksal mit dem von Klüger verglich: «Die scheute sich nicht, zu vergleichen. Nur wurden aus ihren Vergleichen gleich Gleichungen, und schlechte Rechnerin, die sie war, stimmten die Lösungen nicht. […] Wenn man andererseits gar nicht vergleicht, kommt man auf gar keine Gedanken und es bleibt beim Leerlauf der hohlen Phrasen, wie in den meisten Gedenkreden». Es geht also um ein Vergleichen von Erfahrungen, das nicht gleichsetzt. Ich habe im Blog auch ein Zitat von James Baldwin. Sinngemäss sagt er darin, dass Erfahrungen auf sehr unterschiedlichen Levels miteinander konfrontiert werden sollten. Wie erlebe ich dieses Land, wenn ich schwarz bin, oder wenn ich ein italienisches Arbeiter*innenkind bin? Wie erlebe ich es als weisse Schweizerin mit Bürgerrecht? Solche Fragen müssen gestellt und beantwortet werden.
Wie kann das gelingen?
Durch Achtung vor dem Unbekannten. Wenn ich etwa mit meinen syrischen Freund*innen spreche, merke ich, dass sie Erfahrungen in einer weitaus unheimlicheren Dimension gemacht haben, die ich nicht kenne. Ich kann ahnen, was sie erlebt haben aufgrund dessen, was meine Eltern mir vom Zweiten Weltkrieg erzählt haben, und aufgrund meiner eigenen Illegalisierung und dem existentiellen Stress, den meine Eltern damit hatten. Aber es wäre doch sehr anmassend zu sagen, ich wüsste, was ein*e Geflüchtete*r aus Syrien erfahren hat. Oder wenn mein Vater beispielsweise sagt, er habe während des Krieges Hunger gelitten, dann wäre es zynisch zu sagen, ich wisse, wie das ist, weil ich ja manchmal auch hungrig bin. Man kann stattdessen vorsichtig nachfragen, was dieses Leiden heute für die betroffene Person bedeutet. Oder Metaphern suchen. Jemanden anregen, Bilder und eine Sprache zu finden, das Unaussprechliche zu formen. Mitfühlen. Zuhören. Geduld haben. Anstatt die Sache abzuhaken. «All lives matter!» – das ist für mich ein Abhaken und Nichtanerkennen einer anderen Dimension.
Hast du jemals eine Antwort auf deinen Brief an Simonetta Sommaruga erhalten?
Ja! Es dauerte nicht lange, da bekam ich einen ganzseitigen Brief retour. Interessant fand ich, dass ihre Antwort nicht öffentlich, sondern an mich persönlich gerichtet war. Sie ist zwar empathisch, doch es bleibt dabei, dass sie mich als Einzelperson sieht. Ich fand schön, dass sie schrieb, es müsse auch für meine Eltern ganz schrecklich gewesen sein. Sie sei aber als Bundesrätin in der Exekutive, und der Weg, meine Forderungen zu stellen, führe nicht über sie, sondern über das Parlament. Ich hatte mir erhofft, dass sie zum Beispiel zu einem runden Tisch einlädt, oder dass sie ins Patronat unserer Bewegung tritt… Ihre Reaktion ist ambivalent: Sie findet es gut, dass es mittlerweile mehrere solche Stimmen gibt. Der Subtext lautet aber: Das ist «euer» Thema, nicht «unseres». Und doch ist ihr Brief nicht wenig. Ich antwortete ihr, dass das Publizieren des offenen Briefes auf meinem Blog ein Meilenstein gewesen sei, und dass ich finde, ihre Antwort sei eine bedeutende Referenz, er gehöre ebenfalls auf die Homepage als eine der vielen Reaktionen auf meinen Brief. Keine zwei Tage später erhielt ich das okay dazu. Es wird vermutlich Jahrzehnte dauern, bis die Forderungen meines Blogs erfüllt werden. Der Weg ist Teil des Ziels. Für mich war es auch wichtig, Geister zu bannen und zu benennen, die mich Jahrzehnte lang geplagt haben. Und ich hoffe, dass ich mit dem Mut, den ich aufgebracht habe, auch anderen Mut mache, sich zu äussern.
Welche Rolle spielt Sprache in Diskriminierungsprozessen?
In einem engeren Sinn verstanden kann Sprache als Marker von Differenz gesehen werden. Interessant ist, welche Sprachen in der Schweiz automatisch als cool empfunden werden und welche als unpassend. Beispielsweise Englisch versus Arabisch. Sprache kann aber auch in einem weiteren Sinne verstanden werden: Körpersprache oder visuelle Sprache – Sprache, als eine kodifizierte Art, sich auszudrücken. Vorurteile gibt es auch betreffend Sprachfärbung, Soziolekt, Dialekt oder davon abhängig, ob jemand vom Land kommt oder aus der Stadt. Jemand mit einer nonchalanten, von Kind auf erlernten, kulturell hoch bewerteten Sprache kann sich über Regeln hinwegsetzen im Unterschied zu jemandem, der immer krampfhaft versuchen muss, nicht ausgegrenzt zu werden. Das alles drückt sich in der Sprache aus. Wem schenke ich Aufmerksamkeit? Wer darf sprachlich oder auch körperlich viel Raum einnehmen? Wer darf welche Emotionen ausdrücken? Und wer eben nicht?
Hast du selbst als Kind italienischer Eltern eine offensichtliche Ausgrenzung aufgrund der Sprache wahrgenommen, oder geschah dies eher auf einer unterschwelligen und symbolischen Ebene?
Als Kind habe ich den diskriminierenden Diskurs nicht bewusst wahrgenommen und hätte nicht die Begriffe gehabt, ihn als solchen zu benennen. Bei mir entstand das Gefühl, «fremd» zu sein zum Beispiel, wenn wir in der Schule ein italienisches Lied gesungen haben und der Lehrer zu mir sagte: «Du verstehst das doch! Du weisst doch, was das heisst!» – worauf ich stets verneinte. Ich wollte nicht als «Italienerkind» identifiziert werden, habe mich geschämt. Meine ganzen Bemühungen drehten sich darum, die Marker unsichtbar zu machen. Dieses Versteckspiel dauerte bei mir bis anfangs 80er Jahre. Darauf gab es eine erstaunliche Wende: Plötzlich teilten mir Freund*innen mit, ich sei gar keine «richtige» Italienerin, ich sähe nicht aus wie eine. Nun wurde gefordert, die Andersartigkeit müsse sichtbar sein. Aber was wollte man denn sehen? Sicher nicht die Geschichte mit der Menschenrechtsverletzung, sondern man interessierte sich eher für gutes Essen, Espresso, Mode… im Prinzip war es ein positiver Konsumrassismus.
Wie kann man aber das Konzept von Integration und Sprachhegemonie überwinden, ohne dass Zusammengehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl verloren gehen? Bietet für dich in dieser Beziehung das Konzept der «Interkulturalität» etwas Brauchbares?
Ich fand diesbezüglich das Buch «Desintegriert euch!» von Max Czollek inspirierend. Darin geht es um Antisemitismus in Deutschland und darum, dass man diskursiv sehr brav, sauber und analytisch auseinanderhalten kann, was mit Assimilation, oder Integration oder eben Interkulturalität gemeint ist. Doch in der Realität vermischt sich das sehr stark. Es wird immer noch viel mehr Assimilation gefordert und von den Betroffenen produziert, als man unter dem Deckmantel der Integration meint. Wie bereits erwähnt ist es wichtig, dass Theorie und Aktivismus Hand in Hand gehen. Diskurse dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, was in Wirklichkeit geschieht. Trotz diesem Vorbehalt: Der Impuls der Interkulturalität ist ein anderer als bei der Integration mit der einen Leitkultur und ihren bunten Varianten, die der Leitkultur genehm sein müssen. Was der Begriff «Interkulturalität» inhaltlich meint, ist das gemeinsame Bauen an etwas Neuem, von Menschen auf Augenhöhe und die gegenseitige Anerkennung ihrer diversen Leistungen. Dieser konstruktive, inklusive Impuls ist zentral. Man muss im Ganzen aber auch einen konstruktiven Pragmatismus finden. Vier offizielle Landessprachen in der Schweiz zu haben, die man gemeinsam als Brücke nutzt, um sich zu verständigen, ist eine solche pragmatische und nicht ideologische Lösung.
Die ETH, wo du deine Doktorarbeit schreibst, ist ja eine vielsprachige Umgebung. Ist das Bauen an etwas Gemeinsamem in diesem Kontext möglich?
Als Tochter von Gastarbeitern hörte ich oft, ich würde ohne perfektes Deutsch nie integriert sein, sondern immer unten bleiben. Nun habe ich es nach oben geschafft, an die ETH – wo wir in allen möglichen Sprachen miteinander reden. Die meisten sprechen kein perfektes Deutsch oder Englisch, aber wir wollen alle dasselbe erreichen. Das «Italienerkind» in mir fragt sich dann plötzlich: Warum darf man hier so frei Fehler machen, während ich mich damals so sehr anpassen und so viel bessere Leistungen erbringen musste, um anerkannt zu werden? Ohne aussergewöhnlichen Effort wäre immer der Verdacht dagewesen, ich wolle mich nicht integrieren, ich sei eine Gefahr, ich verschmutze die saubere Schweiz mit meinem komischen, nicht richtigen Deutsch… Ich nenne das eine selektive Toleranz – je ärmer Ausländer sind, desto mehr fordert man Anpassung von ihnen. Je reicher, desto weniger. Das ist sehr ungerecht. Je weiter ich aufsteige, desto mehr erfahre ich gelebte Diversität, mobile Eliten – man hindert niemanden daran, von einer Uni zur anderen zu springen und wieder zurück – während meine Eltern ihr Recht, in der Schweiz zu leben, verwirkt haben, als sie nach ein paar Jahren zurück nach Italien reisten. Ich habe versucht, meine Mutter in einem Schweizer Altersheim unterzubringen. Doch alle Rechte, welche Schweizer haben, gelten für sie nicht. Als hätte sie nie Beiträge hier einbezahlt und nie hier gelebt. Das ist eine sehr schmerzhafte Erfahrung für mich.
Das bedeutet, dass es innerhalb deiner «Kernfamilie» inzwischen so etwas wie eine «Zweiklassengesellschaft» gibt. Welche Möglichkeiten eröffnet dir dein Blick, der sowohl die Perspektive «von unten» als inzwischen auch «von oben» kennt, an der ETH und an der ZHdK, wo du ja auch lehrst und wo ich dich als Dozentin im Seminar «Interkulturalität» kennengelernt habe?
Anfangs hatte ich das Gefühl, mich im Hochschulumfeld dauernd entschuldigen zu müssen, wenn ich den Mund öffnete, während alle anderen einfach redeten. Für mich ist ja auch der Bildungsweg Gymnasium und Universität alles andere als selbstverständlich gewesen. Es gibt einen Habitus, den man immer mitnimmt. Auch die ästhetische Wahrnehmung, die damit verbundenen Urteile sind andere – man empfindet andere Sachen als schön, gibt für andere Sachen Geld aus, hat einen anderen Lebensstil. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ich mich an der ETH mit Designgeschichte und Designsoziologie beschäftige, die selbst auch Randdisziplinen sind, ohne das schützende Dach einer eigenen Professur. Für das Milieu an der ETH ist mein Blick neu und es interessiert die Kolleg*innen, meine andere Sichtweise kennenzulernen. Das kennt man aus der Postkolonialen Theorie: Der Blick der Peripherie aufs Zentrum. Aber auch dieses wohlwollende Interesse ist letztlich Teil des legitimen Habitus der kulturellen Eliten, denn wer gut gebildet und sicher im Sattel sitzt, der ist satt und braucht keine Angst vor dem Neuen zu haben, auch keine vor neuartiger Kritik.
Würde man die Schweiz mit einem Turmbau-Projekt vergleichen: Wie nimmst du mit deinem Aussenblick und deinen Erfahrungen die Chancen und Risiken wahr?
Ich nehme wahr, dass der Schweizer Babel-Turm unter grossem Druck steht und massiven Bedrohungen ausgesetzt ist. Als ich den Brief an Bundesrätin Sommaruga geschrieben habe, ging es mir um die brennende Frage der Masseneinwanderungsinitiative, dann ging es aber gleich weiter mit der ECO-Pop-Initiative, der Durchsetzungsinitiative, der Selbstbestimmungsinitiative, den Asylverschärfungen… Es geht in die gefährliche Richtung eines neuen Faschismus, dem man Widerstand leisten muss, statt Sündenböcke zu suchen. Die Schweiz ist damit nicht alleine, in Italien etwa gibt es viel massivere Entwicklungen in diese Richtung.
Als deine Eltern in die Schweiz migrierten, waren Italiener stark in der Sündenbockfalle gefangen. Heute gelten sie als Paradebeispiel für gelungene Integration, wie du in deinem Blog schreibst. Wurden sie in Wahrheit abgelöst?
Ich finde schon, dass ein Sündenbock den nächsten ablöst. Das ist eine Art Vampirismus, in dem immer neue Gruppen und Milieus verbraucht werden. Andererseits gibt es in der Schweiz auch das berühmte Rüebli vor der Nase des Esels, der hart arbeitet. Unterschwellig wird auf einer individuellen Ebene vermittelt, dass man es durch Anstrengung nach oben schaffen kann. Die, die es schaffen, sind die «Paradeausländer*innen». Doch es wird heute selten thematisiert, wie viele dieser Vorzeige-Italiener*innen es nicht geschafft haben, psychisch krank sind und wie viele heute mit Sucht und Kriminalität zu kämpfen haben. Ich habe im eigenen Umfeld erlebt, wie manche zusammenbrachen. Dauerhafte Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen gehen unter die Oberfläche des erreichten Wohlstands und bohren sich tief ins eigene Selbstverständnis und Selbstwertgefühl eines Menschen. Es zerstört ganze Familien, wenn die Menschenrechte einzelner Mitglieder verletzt werden. Man zerfleischt sich gegenseitig, wird neurotisch oder paranoid, was wiederum an der eigenen Würde nagt. Die Verweigerung grundlegender Bürgerrechte bringt die gesamte Lebensplanung durcheinander. Ich denke dabei wiederum an meine Eltern: Wenn man ihnen während ihrer 30 Jahren Arbeit und Leben in der Schweiz das Bürgerrecht zugestanden hätte, dann wären sie im Alter wohl kaum zurück nach Italien gegangen. Die ganze Perspektive, ihre Orientierung auf die Rückkehr, führte auch zu einem Spalt zwischen ihnen, mir und meiner Schwester, also der nächsten Generation, die diese Orientierung nicht hat. Was von «Aussen» nach etwas Kleinem aussieht, richtet ganze Existenzen anders aus.
Paola De Martin (1965) ist Primarlehrerin, Textildesignerin und Historikerin. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Philip Ursprung am Institut gta für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich, wo sie auch ihre Dissertation schreibt. Darin untersucht sie die Ästhetik der sozialen Ungleichheit in Zürich anhand der Lebensgeschichten von Arbeiterkindern, die Designer*innen wurden. Sie ist aktives Mitglied bei INES, beim Schweizer Netzwerks Designgeschichte und der Design History Society. Sie lehrt Designgeschichte und Interkulturalität an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK.
Das Telefoninterview mit Paola De Martin wurde von Eva Vögtli am 25. Juli 2019 zwischen Berkeley (USA) und Zürich geführt.
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