The Eastern Dada Orbit: Turmbauten und Turmzerstörungen
Für Jun Tsuji (1884–1944, später bekannt als Ryûkitsu Mizushima), selbsternannter erster Dadaist Japans, Vagabund, Übersetzer, Shakuhachi-Spieler und Poet, ist das Japan der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein kultureller Komplex, der jeglicher Kreativität im Weg steht. Die durch das Erdbeben 1923 ausgelöste Zerstörung der modernen Grosstadt Tôkyô sieht er als eine Verwandlung in ein „kubistisches Gemälde“ und somit eine poetische Möglichkeit der Neuerung.
Kaum ein Gebäude war Jun Tsuji so sehr ein Dorn im Auge wie der Ryôunkaku (dtsch. „Turm der die Wolken durchstösst“). Dieser galt als das Symbol der japanischen Moderne und als Wahrzeichen Tôkyôs. Damals wie heute sind seine Form und Funktion, wie beim Fernsehturm in Tôkyô in der Gegenwart, geradezu emblematisch für die Errungenschaften und Problematiken der japanischen Moderne. Die aufstrebende Form, zurückgebunden durch den Rückgriff auf die Form der Pagode, die Verschmelzung von westlichen und neu erfundenen japanischen „Traditionen“ und die Einbindung in ein kapitalistisches, jedoch staatlich kontrolliertes System der Nutzung, waren für einen Freigeist wie Jun Tsuji, bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, Zeichen eines drohenden Unheils.
Gebaut wurde er 1890 vom schottischen Architekten W.K. Burton (1856–1899), der nach Japan berufen worden war, um der grassierenden Cholera mit Hilfe von Abwassersystemen Herr zu werden; und der, sozusagen nebenbei, die Photographische Gesellschaft Japan mitbegründete und eben jenen Turm schuf, der wie kein anderes Gebäude die zeitgenössische japanische Phantasie beflügelte.
Der 12-stöckige, 69m hohe, oktogonale Bau, vereint Stil-Elemente des englischen Renaissance Revival mit Grundzügen einer chinesisch geprägten Pagode und beherbergte die ersten elektrischen Aufzüge Japans. Vor dem Turm stand eine riesige Werbetafel für Jintan- Minzepastillen, eine Marke, die bis heute produziert wird. Die Tafel war so postiert, das sie im Bild stand, wenn die zahlreichen Besucher den Turm mit dem malerisch angelegten Teich im Vordergrund fotografieren wollten. Der Turm, von der Bevölkerung liebevoll Asakusa Junikai („Zwölfstöcker in Asukusa“) genannt, versinnbildlichte den technologischen Anschluss Japans an die westlichen Mächte und beruhigte die kollektive Angst, zum kolonialen Opfer wie China zu werden oder gar von den USA annektiert zu werden (was Hawaii 1898 erlebte). Der Sieg Japans über Russland im Russo-Japanischen Krieg 1905 wurde im ganzen Land gefeiert, war es doch das erste Mal, dass eine asiatische Nation einem Westlichen „Aggressor“ erfolgreich die Stirn geboten hatte. Die Heldentaten der kaiserlichen Armee, wurden auf Geschirr, Unterkimono, Gedenk-Holzschnitten und ähnlichen Gegenständen abgebildet und in den Läden des Ryôunkaku eifrig verkauft.
Aus dem ersten Weltkrieges hielt sich das Inselreich in kluger Voraussicht heraus. Die gesellschaftlichen Probleme, mit denen sich progressive Künstler konfrontiert sahen, ähnelten denen in Europa jedoch auf auffällige Weise. Blinder Patriotismus, Militarismus, Zensur und ein an allen Fronten geführter Kampf gegen die kommunistische Gefahr dominierten einen Alltag zwischen technischem Fortschritt und voranschreitender Industrialisierung. Meiji-Japan ermutigte seine Bürger, in den Westen zu reisen und dort zu lernen, was auch viele japanische Künstler taten. Epigonen, der japanischen bildnerischen Moderne, wie Murayama Tomoyoshi (1901–1977), der während seinem Studium in Berlin ins Kraftfeld der Galerie „Der Sturm“ geriet und nach seiner Rückkehr in Japan zum gefeierten Apologeten eines japanischen Futurismus wurde, sind heute aus der Kunstgeschichte nicht mehr wegzudenken.
1923 wird Tôkyô vom grossen Kantô-Beben nahezu ganz zerstört und auch der Ryôunkaku wird derart beschädigt, dass er abgerissen werden muss. Jun Tsuji schreibt dazu in seinem Tod eines Epikureers:
Der Turm von Asakusa brannte in Säulen aus Feuer und aus seiner Asche stieg das Varieté des Epikur. Unter dem Joch der Trauer wegen der Idee, dass alles im Fluss sei, spielen Kinder, die Wangen gepudert und gerötet, ihre Kastagnetten und Trommeln. Ruft „Panta Rhei“ und segnet die Lippen und Oberschenkel junger Männer.
Zitat Jun Tsuji aus: Stephen C. Foster, Hrsg.: The History of Dada, Bd. 4, The Eastern Dada Orbit: Russia, Georgia, Ukraine, Central Europe and Japan, S.237
Spezialausgabe
Dada Afrika
Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.