The Eastern Dada Orbit II: Dada als Alien
Auch wenn Japan die künstlerischen Strömungen der westlichen Avantgarde in rasend schnellem Tempo adaptierte und in einer – vielleicht für die japanische Kunstgeschichte typischen Bewegung – absorbierte, so blieb der Dadaismus seltsam außen vor. Expressionismus, Konstruktivismus und Futurismus, später der Surrealismus, fanden schnell Apologeten und Nacheiferer, die sich in Gruppierungen wie der „Miraiha Bijutsu Kyôkai“ (Futuristische Kunst-Vereinigung), der „Sôsaku Hanga Undô“ (Kreative Druck-Bewegung) oder „Mavo“ zusammen fanden und die westliche Moderne in einem Japanischen Kontext zu denken suchten.
Figuren wie Jun Tsuji (1884–1944) und der von ihm geförderte Takahashi Shinkichi (1901–1987), der 1924 einen Gedichtband mit dem Titel „Dada“ herausgab, blieben sehr einsame Einzelgänger, die erst durch die rebellischen Künstler der späten 1960er wiederentdeckt wurden und so ihre Wirkung erst nachträglich entfalten konnten. Nachträglich könnte man vielleicht den Einfluss des russischen Futuristen David Burliuk (1882–1967) auf Shuichiro Kinoshita (1896–1991), einem Gründungmitglied der „Miraiha Bijutsu Kyôkai“ und der „Mavo“, zu einem dadaistsichen Impetus umerklären, beide hätten sich jedoch nie als Dadaisten bezeichnet (oder bezeichnen lassen), auch wenn Kinoshita 1925 in Tôkyô einen Theater-Abend organisierte, der mit seinen Kostümen, Lautgedichten und Trommeln stark an eine Dada-Soirée erinnerte und über den ein zeitgenössischer Theaterkritiker schrieb, dass er nur aus „sinnentleertem Geschrei“ bestand. Die Absetzungs- und Abgrenzungsbewegungen, die für die europäische Avantgarde in den 1920er Jahren prägend waren, existierten in Japan nicht. Der Dadaismus blieb in Japan auch deshalb ein singuläres und isoliertes Phänomen, weil der Rest der Avantgarden amalgamiert und japanisiert wurde. Der normative Druck der japanischen Ideale von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, die Idee einer homogenen japanischen Kultur und die Tendenz, noch viel stärker als in der westlichen Kunstgeschichte in Schulen zu denken führten dazu, dass sich ein radikal individualistisches und anarchistisches Kunstdenken, wie es Jun Tsuji verkörperte, nicht durchsetzen konnte.
Auch war dem starken Staat nicht daran gelegen, eine solch radikale Haltung zu tolerieren oder gar zu fördern, was er für die übrigen „westlichen Strömungen“ in der japanischen Kunst durchaus tat. Shûsui Kôtoku (1871–1911), zuerst Sozialist und 1901 Mitbegründer der „Shakai Minshutô“ (Sozialistische Volkspartei), die im gleichen Jahr verboten wurde, Co-Übersetzer des Kommunistischen Manifestes ins Japanische und nach einer Haftstrafe für pazifistische Agitation gegen den Japanisch-Russischen Krieg (1904/1905) und der Lektüre von Pjotr Kropotkins (1842–1921) Werk „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ einer der wenigen anarchistischen Denker und Publizisten, wurde am 24. Januar 1911 zusammen mit 10 „Mitverschwörern“ gehängt. Dass er einerseits ein wichtiger Einfluss für Jun Tsuji darstellte und andererseits zur anti-anarchistischen Haltung in der japanischen Gesellschaft stark beitrug, scheint aus heutiger Perspektive nachvollziehbar.
Das Wiederaufleben anarchistischer Tendenzen in der Politik und Kunst in den späten 1960er Jahren zeitigte höchst widersprüchliche Reaktionen. Yukio Mishima ( 1925–1970), der als Schriftsteller so grossartige Werke wie „Geständnis einer Maske“ (1949) oder „Der Tempelbrand“ (1961) schrieb, dreimal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde und fliessend Deutsch las und schrieb, wandte sich unter dem Eindruck dieser neuen anarchistischen Strömungen einem paranoiden, homophilen Faschismus zu, der 1968 in seinem Aufsatz „Bunka Bôeiron“ (Verteidigung der Kultur) seinen Anfang nahm und am 25. November 1970 in einem operettenhaften Putschversuch, der Geiselnahme des Oberkommandierenden der Streitkräfte und einem konsequent inszeniertem Doppelselbstmord vor den Augen der Öffentlichkeit endete. Der Verehrer von Oscar Wilde, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann war ins Denken von Gabriele d’Anunzio und Filippo Tommaso Marinetti abgeglitten wie in einen dunklen Teich. Gleich den beiden Letztgenannten wird Mishima von den wieder erstarkten Nationalisten und Neofaschisten seines Landes heute wie ein Heiliger verehrt.
Eine ungleich populärere Reaktion auf das anarchistische und zerstörerische Potential des Dadaismus repräsentierte die beliebte Science Fiction-TV-Serie „Ultraman“. In der 28ten Episode, die 1967 ausgestrahlt wurde, taucht ein ausserirdisches Wesen auf, dessen Auftrag es ist, ausgewählte Menschen auf seinen Heimatplaneten zu entführen und alle, die sich ihm in den Weg stellen umstandslos mit seiner Strahlenwaffe zu töten. Welcher Name diese nihilistische, mörderische Figur trägt? „Dada“!
Literatur
Gennifer Weisenfeld: „Mavo – Japanese Artists and the Avant-Garde 1905–1931“. Berkeley, Los Angeles und London, 2002.
Thomas Hackner: „Performing the avant-garde: the adaptation of Dadaism in Japan“. In: Asiatische Studien: Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft, Nr. 58, S. 687–700, 2004.
Maik Hendrik Sprotte: „Konfliktaustragung in autoritären Herrschaftssystemen. Eine historische Fallstudie zur frühsozialistischen Bewegung im Japan der Meiji-Zeit“. Marburg, 2001.
Spezialausgabe
Dada Afrika
Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.