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Patrick Tschirky

Talking about a Revolution

Der einfachste Teil einer Revolution ist der Umsturz. Schon schwieriger ist die Etablierung neuer Verhältnisse. Und gar unmöglich erscheinen die Einlösung aller Versprechen und die Realisierung einer idealen Gesellschaft. Nicht zuletzt auch deshalb gleichen Revolutionen dem Mythos vom Turmbau zu Babel.

Die kubanische Revolution feiert dieses Jahr ihren 60. Geburtstag. Wie erinnert man sich in Kuba an eine Revolution, die rasch mythisiert und später musealisiert wurde, aber bis heute den Alltag auf der Karibikinsel massgeblich prägt? Wie spricht man über ein Phänomen, das in vielen westlichen Köpfen lange romantisiert und irgendwann ad acta gelegt wurde, aber allen Widersprüchen und Untergangsszenarien zum Trotz noch immer existiert? Das Theaterprojekt Rimini Protokoll unter der Regie von Stefan Kaegi gibt darauf mit seinem Stück Granma. Posaunen aus Havanna eine überzeugende Antwort.

Die kubanische Revolution meint dreierlei: den Sturz der Batista-Diktatur, die radikale Umgestaltung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie das Festhalten an diesem revolutionären Fundament. Ziel war die Erschaffung eines «neuen Menschen», der Voraussetzung für eine klassenlose Gesellschaft sein sollte. Diese Vision, dieses Grossprojekt erinnert an den gescheiterten Turmbau zu Babel. Auch die Realisierung in Kuba scheitert(e) grandios, aber die Ursache liegt nicht (allein) in einer Sprachverwirrung und die Emigration wird nicht vom HERRN ausgelöst wie im alttestamentarischen Mythos (vgl. Genesis 11, 1-9). Vielmehr liegt der Grund in der menschlichen Natur und divergierenden Interessen und Positionen.

Zurück zum Stück und hin zur Antwort des Rimini Protokolls: Um den Stoff vom archivarisch-dokumentarischen Staub zu befreien, treten vier Enkel*innen der Revolutionsgeneration auf. Milagro (Historikerin), Diana (Posaunistin), Christian (Informatiker) und Daniel (Animationsfilmer) erzählen vom Leben ihrer Grosseltern. Erzählen davon, wie sie alle von der Revolution überzeugt waren und sich für sie engagierten – als Kampfpilot, als Näherin, als «Minister für die Rückgewinnung von veruntreuten Gütern» bzw. Enteignungsminister oder als Musiker, der die kubanischen Soldaten bei ihren Einsätzen im Ausland moralisch unterstützte. Die Enkel*innen erzählen aber auch aus dem eigenen Leben – ihren Erinnerungen, Entbehrungen, Wünschen und Träumen.

Dabei kommt es zu einem vielschichtigen und vielstimmigen Dialog – zwischen den Generationen, aber auch zwischen den Enkel*innen selbst. Darin äussern sich Verständnis für die Revolution und ihre Akteur*innen, aber auch Distanzierung, Widerspruch und offene Zurückweisung. Diese Reibung schafft Authentizität und damit Intensität. Die Historikerin glaubt an den politischen Kampf für die soziale Gerechtigkeit. Der Informatiker erhofft sich soziale Gerechtigkeit allein noch von künstlicher Intelligenz. Und der Animationsfilmer erhofft sich von der Zukunft, dass er einmal das sagen kann, was ihm jetzt auf dieser Bühne noch nicht möglich ist. Zur Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit des Dialogs trägt auch die Multimedialität bei: Filmische Archivaufnahmen und Animationssequenzen als Bühnenhintergrund, Screens mit eingespielten Videointerviews mit einer Grossmutter und einem Grossvater verdichten das Bühnengeschehen .

Das Stück ist geschrieben für ein westliches Publikum und spricht dieses auch direkt an: «Warum lächelt ihr so glückselig, wenn von Kuba die Rede ist?» Schauspieler*innen und Publikum wissen: Kuba ist weiterhin Projektionsraum – für politische Aktivist*innen genauso wie für Nostalgiker*innen und Tourist*innen. Auch die Schweiz spielt(e) eine Rolle: als diplomatische und wirtschaftliche Akteurin – zum Beispiel als diplomatische Vertreterin der US-Interessen in Kuba von 1961 bis 2015 oder als Fluchtgeldhafen für afrikanische Potentaten, gegen die Kuba aus internationaler Solidarität kämpfte.

Die Vieldeutigkeit des Stücks und der Aufführung steckt schon im Titel. Granma. Posaunen aus Havanna. Granma ist der Name der Yacht, auf der 1956 die ersten 82 Revolutionäre von Mexiko nach Kuba übersetzten – der Anfang der grossen Revolutionserzählung. Den gleichen Namen trägt aber auch die kommunistische Partei- und Regierungszeitung, die offizielle Stimme Kubas. Schliesslich ist Granma auch die Koseform von Grandmother und nimmt Bezug auf die Grosseltern-Enkelkinder-Konstellation. Die Posaunen aus Havanna wiederum lassen nur selten Fanfaren und Revolutionslieder erklingen, sondern geben dem Lauf der Geschichte wechselnde Rhythmen. Und sie imitieren auch – im filmischen Hintergrund das offene Meer – melancholisch den Wind, wenn die Enkel*innen eine schier endlose Liste von Namen emigrierter Freundinnen und Freunde aufzählen. So wie hier nimmt das Stück die Revolution als Faktum und die realen Zustände ernst, nennt zentrale Ereignisse und sammelt Stimmen, entzieht sich aber bewusst einer klaren Deutung und Wertung.

Die Aufführung einer solcherart inszenierten Auseinandersetzung mit der kubanischen Revolution beeindruckte und berührte das Publikum gleichermassen. Es hatte nicht alles bereits gewusst oder schubladisiert und liess sich zum Nachdenken, Hinterfragen und Vergleichen anregen. Beispielsweise mit dem Turmbau zu Babel.