Stefan Zweifels
Dada-Afrika-Rezeptionsgeschichte II: Das Afrika der Kunstwelt
Bewusstseinserweiterung, Anverwandlung, Sammeltrieb
Die Kunst-Moderne beginnt ja bereits mit Baudelaire. Es geht um Bewusstseinserweiterung. Wie Zeit und Raum sich weiten, wenn man Drogen einnimmt. Diese Bewusstseinserweiterung kommt aber eben nicht nur im Drogenrausch zustande, sondern auch, wenn man sich afrikanische oder ozeanische Skulpturen anschaut. In Carl Einsteins Buch Negerplastik von 1915 wird dies – auch für nicht-afrikanische Volksgruppen – veranschaulicht. Figuren der Hopi-Indianer aus Südamerika beispielsweise stellten Formationen des Wunderbaren dar, also dessen, was die Avantgarden suchten – denkt man etwa an die Pflanzenfotografien von Karl Blossfeldt oder an die Architektur Antonio Gaudís in Barcelona. Wo haben sich die Mineralien zu seltsamen Steinfiguren verformt? Wo haben sich die Pflanzen zu seltsamen Formen aufgebläht? Wo haben wir beim Einfluss von Drogen seltsame Bilder und Gewächse in unserem Kopf? Und wo gibt es Kunstwerke, die unsere Vorstellung von Kunst auf den Kopf stellen? Um die Jahrhundertwende tauchen Nagelfetisch-Statuen in Europa auf. In Galerien von Berlin und Paris wie jener von Paul Guillaume wurde zum ersten Mal mit aussereuropäischer Kunst gehandelt. Für Picasso und den Kubismus, auch für Vertreter des Expressionismus waren die Bestände des ethnographischen Museums Trocadéro in Paris wichtig. Die aussereuropäischen Kunstwerke erregten die Aufmerksamkeit dieser Bewegungen, die auf der Suche waren nach neuen Formen und Auswegen aus den Sackgassen des Impressionismus. Über gewisse Händler fanden sie ihren Weg auch zu Guillaume Apollinaire, dem Namensgeber des Kubismus und Erfinder des Begriffs surréalisme, der sie in seinen Schriften thematisierte. In Zürich war Han Coray einer der ersten Sammler und Verkäufer, der den Dadaisten die Sprüngli-Galerie zur Verfügung stellte. Dazu kam, dass der Wirt des Cabaret Voltaires Ephraim Lessing ein leidenschaftlicher Weltenbummler war, der im Cabaret Voltaire oft arabische Gedichte zum Besten gab. Auch Marcel Janco liess sich offenbar von Masken inspirieren – sei dies von Masken aus seiner rumänischen Heimat und Jugend oder von Schweizer Fasnachtsmasken – und benutzte die Figuren, um eine eigene Formensprache zu entwickeln.
Fetischisierung, Verklärung, Ästhetisierung
Hartmut Böhme hat aufgezeigt, dass gerade in der Zeit des ersten Weltkrieges, einer Zeit der aufkommenden Nationalismen und deren gegenseitigen Bekämpfung, Nagelfetisch-Figuren in Europa auftauchten und in bürgerlichen Wohnungen aufgestellt wurden. Alfred Métraux, Georges Bataille und andere begannen sich mit Voodoo und Mythen der Besessenheit auseinanderzusetzen. Denken wir an Pablo Picasso, ein totaler Egomane und Kolonialist. Für Picasso war alles kolonisierbar. Wenn er in das Atelier irgendeines Künstlers kam, musste dieser seine neuesten Erzeugnisse schliesslich sofort verstecken, weil Picasso sie am nächsten Tag besser gemacht hätte. Er war ein gefrässiges Monster und machte sich natürlich auch sofort die Formensprache der afrikanischen Kunst zu eigen. Ich glaube, dass die Avantgarde in diesem Sinne kein wirkliches Bewusstsein über den eigenen eurozentristischen Blick hatte. Ich glaube aber auch, dass es völlig idiotisch ist, ihr das im Nachhinein vorzuwerfen. Schliesslich ist das eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung. Unserem Gefühl nach haben die Avantgardisten, von denen ja die meisten politisch links standen, ein Bewusstsein dafür, dass sie in diesem Austausch von Ideen und künstlerischen Artefakten genau das kapitalistische Warenmuster wiederholen, das Marx in seinen Schriften angegriffen hat. In Wirklichkeit ging es recht lange, bis, etwa rund um die Zeitschrift documents mit Georges Batailles, Michel Leiris und Alfred Métraux, ein wirkliches Bewusstsein dafür entstand. Nichtsdestotrotz haben auch Bataille und seine Kollegen die Möglichkeit der Dogon oder anderer Besessener zu einer inneren Erfahrung immer sehr bewundert. Michel Leiris hat darüber geschrieben und geforscht, aber er hat auch bemerkt, dass er dort in Äthiopien, den besessenen Frauen zuschauend – mit einer von ihnen hatte er auch eine Art Affäre – immer Aussenseiter blieb. Dabei war er intelligent genug, sich keinen falschen Fantasien einer scheinbaren Zugehörigkeit hinzugeben.
Natürlich unterschied diese frühen Ethnologen nicht so viel von heutigen Sextouristen und -touristinnen. Natürlich kann man über sie, die Sammlungen und Museen herfallen und fragen: Wo haben sie die Artefakte her? Was haben sie dafür bezahlt? Wen haben sie dafür ausgenützt? Das kann man alles aufklären, und das Bild, das entstehen wird, wird kein ehrenhaftes sein. Ich fände es jedoch interessanter zu überlegen, was dies für unser heutiges Bewusstsein in der Ausstellungspraxis bedeutet. Mich interessiert weniger die Frage nach der Rückerstattung oder Rückzahlung als vielmehr die Frage, wie man die Artefakte heute ausstellen soll, so dass unser Bewusstsein dafür erweitert wird. Es folgt die Frage, ob nicht eine politisch-historische Darstellung erforderlich wäre: Was bedeuteten diese Figuren? Wie wurden sie in Ritualen eingesetzt? Was bedeuteten diese Rituale? Und so weiter. Das kann ein Museum aber offensichtlich nicht leisten und so könnte man sagen, man belässt es dabei: Es sind schöne Skulpturen, die durch ihre Formensprache unser Herz und Hirn in irgendeiner Weise berühren können. Und wenn sie das tun, wenn sie also so ausgestellt werden, dass sie uns ästhetisch etwas sagen, dann lebt in ihnen ein Echo ihrer magischen, inkantatorischen Kraft weiter. Und wenn wir daraus eine Energie beziehen, dann kann es zwar sein, dass wir die Orte und Menschen ihrer Herstellung ausnützen, aber wenigstens nützen wir sie auf positive Weise aus.
Vitrinisierung, Auratisierung, Musealisierung
Klar, die Ausstellungsmacher müssen um die grundlegenden historischen Fakten und das koloniale Machtgefälle wissen und dieses mitvermitteln. In unserer Ausstellung im Landesmuseum Zürich über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stand eine grosse Tafel mit allen ethnographischen Objekten, die das Museum der Kulturen in Basel im Jahre 1913 gesammelt hat. Man sieht jeweils eine Fotografie, eine Beschreibung der Objektherkunft und zum Teil eine Einschätzung des Kunstwertes. Auf einen Blick sieht man dort, dass die Sammlung dieser Objekte einen massiven Eingriff in diese Welten darstellte. Andererseits kann man sich überlegen, ob nicht diese Artefakte durch den Wert, welchen ihnen die Sammler gaben, davor bewahrt wurden, zu zerfallen und von Termiten gefressen zu werden. Ich glaube, die Eingriffe und Angriffe, die auf anderen Ebenen erfolgten, waren weit brutaler und massiver. Und da liegt schliesslich noch einmal die Frage, ob man die Verheerungen, die der abendländische Kapitalismus in die von ihm kolonisierten Gebiete getragen hat – von den ansteckenden Krankheiten bis hin zur Sklaverei – in den Ausstellungsräumen thematisieren und aufzeigen soll. Das wäre natürlich sinnvoll. Damals in jener Ausstellung haben wir auch Elefantenzähne ausgestellt, weil sie ästhetisch interessant sind, dazu die Karteikarten der Ankäufe sowie einen Film, der zeigt wie eine Basler Mission, umgeben von ihren Dienern, mit Servietten im Dschungel speist und ab und zu einen Elefanten niedermäht, dessen Stosszähne abbricht und die Eingeborenen dazu anhält, in die Bauchhöhle des Tieres zu steigen, um dort Essbares für ihre Familien herauszutragen. Und es fragt sich, warum man solche Filme, die es ja gibt, nicht in der Nähe der betreffenden Artefakte zeigen sollte. Ohne dabei besonders moralisch-anklägerisch zu verfahren, sondern einfach um interessante Tatsachen zu veranschaulichen und diese beispielsweise mit Fragen nach den Zusammenhängen zwischen Gewalt, Exzess und Ekstase – im Bataille’schen Sinne – in einem Spannungsfeld zusammenzuführen. Wenn man diese Zusammenhänge aufzeigt, läuft man allerdings schnell Gefahr, in einen netten Humanismus hineinzugeraten, der einerseits den Eurozentrismus von damals anklagt, andererseits selbst wieder eurozentristisch vorgeht, denn die ganze aufklärerische Vernunft ist ein europäisches Projekt und wenn man Menschenrechte weltweit propagiert, heisst das, dass man die Vernunft als universal gleich bezeichnet. Ob aussereuropäische Gesellschaften unser Konzept von Vernunft wirklich teilen, hat man sie aber nie gefragt. Es sind komplexe Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Der Text ist das verdichtete Protokoll eines Gesprächs, das Franziska Meierhofer und Ruedi Widmer am 18. März 2016 mit Stefan Zweifel führten.