Stefan Zweifels
Dada-Afrika-Rezeptionsgeschichte I: Rimbaud
Ur-Jugendlicher, Antikünstler, Elfenbeinhändler
Arthur Rimbaud war als der pubertäre Dichter, der mit 18 oder 19 Jahren bereits Meisterwerke geschrieben hat, eine Projektionsfigur für jede nachkommende Jugend. Teil dieser Projektion war sein früher Bruch mit der Kunst und der Literatur, der auch von den Dadaisten gefordert wurde, wenn Tristan Tzara etwa sagte, die Kunst sei tot, und später erneut von den Situationisten in den 60er Jahren. Paradgimatisch war er auch als derjenige, der Frankreich den Rücken kehrte und sich auf eine Schiffsreise quer durch die Welt begab, in Zypern einen Steinbruch befehligte, dort möglicherweise jemanden erschoss oder auch nicht, barfuss über den Gotthard durch den Schnee stapfte, dieser ganzen abendländischen Kultur und Zivilisation nicht nur mit seinen Werken eine Verzückungsspitze aufsetzte, sondern ihr schliesslich den Rücken kehrte und sagte: “Das wahre Leben ist abwesend.“ Das bedeutet, das wahre Leben war unter den Pariser Literaten abwesend es war in Europa überhaupt abwesend. Dieses wahre Leben suchte Rimbaud deshalb an anderen Orten und landete so unter anderem in Äthiopien in den Hochebenen von Harar. Der Ausbruch aus der Kunstszene führte ihn dort in den Handel mit Waffen und mit Elefantenzähnen – etwas, was ihn noch in seinen letzten Äusserungen bewegte, als er sich fragte, wie viele Elefantenzähne er mit seinen abgestorbenen Beinen noch über das Meer würde schippern können. All das hat er selbst nicht als Kunst gesehen, aber es wurde von den Nachfolgegenerationen als künstlerische Revolte, als Abkehr von der Kunst zurück zum wahren Leben interpretiert. Der Ort des wahren Lebens war für ihn Afrika. Jener Kontinent, den auch Sigmund Freund als unser Unbewusstes bezeichnete, als das innere Afrika, das wir alle nicht kennen.
Briefschreiber, Ethnologe, Künstler-Kunstwerk
Rimbaud schrieb in Afrika Hunderte von Briefen ohne jeglichen literarischen Anspruch. Geschäftsbriefe, Abrechnungen, Eintreibungen von Schulden oder Verfluchungen von Handelspartnern, die ihn übers Ohr gehauen hatten. Darüber hinaus hat er die Orte, an denen er während seiner Zeit in Afrika lebte, in gewisser Weise durchaus ernsthaft ethnologisch erforscht. Er verfasste einen Bericht über die Ogaden und deren Riten sowie über eine weitere Gruppe, welche als ausgestossene Unterklasse zum Einnehmen verpönter, mit Tabus belegter Nahrungsmittel gezwungen wurde. Der Bericht ist relativ anspruchslos und nüchtern geschrieben. Er entstand, weil Rimbaud zufällig in der Gegend Handel betrieben und gewisse kartographische Routen als Erster beschritten hatte, was eine Kenntnis der lokalen sozialen Gegebenheiten und Herausforderungen bedingte. Zu Gunsten des reibungslosen Handels verzeichnete und kommunizierte er diese Informationen. Dieser Bericht wurde auch in Deutschland in einer ethnographischen Zeitschrift publiziert. Rimbaud empfand ihn als seriösen Forschungsbeitrag und nicht als künstlerischen Akt.
Aber im Rückblick wurde er von den Dadaisten und insbesondere von den Surrealisten dahingehend verklärt, dass die Abwendung von Europa und Hinwendung zu Afrika Teil eines künstlerischen Projektes gewesen sei. Dieses künstlerische Projekt bestand – seit Nietzsche und in abgewandelter Form seit Oscar Wilde – darin, dass sich der Künstler selber zum Kunstwerk macht, dass sein eigenes Leben zur Kunst wird. In dieser Position eines Lebens als Kunstwerk war für die Surrealisten neben dem Marquis de Sade Arthur Rimbaud das buchstäbliche Vorbild. André Bretons Anthologie de l’humour noir ist eine Art Ahnengalerie des Surrealismus und ein historischer Gegenkanon mit Figuren wie Rabelais, Jarry, Lautréamont, Nietzsche, Vaché und eben Rimbaud. Also allesamt Aussenseiter – gescheiterte, verkannte, verkrachte Existenzen, viele von ihnen früh verstorben, mit nur wenigen hinterlassenen Werken, die sich besonders gut als Projektionsflächen eignen.
Post-Künstler, Frührentner, Dada-Inspirator
Rimbaud selber war an dieser Verklärung überhaupt nicht beteiligt. Es sei denn, wir hätten es mit einer höchst raffinierten Inszenierung zu tun. Exemplare seines vielleicht wichtigsten Buches Une saison en enfer hat er in Brüssel in einer Druckerei liegen gelassen. Zwei, drei später wieder aufgetauchte Exemplare widmete er Freunden. Als man ihn anfragte, ob er bereit wäre, Beiträge für eine Literaturzeitschrift zu schreiben, entgegnete er, Literatur sei vollkommen überflüssig und seine Werke seien überhaupt nichts wert. Es interessierte ihn einfach nicht mehr.
Die Dadaisten erlebten Rimbaud vor allem als Gleichaltrigen. Er war in ihrem Alter – sie waren alle um die 20 – als er auf dem Höhepunkt seines Schaffens aufhörte Kunst zu machen. Und es wäre bei einigen vielleicht auch besser gewesen, wenn sie später nichts mehr publiziert und es bei dem reinen Mythos um ihre Auftritte belassen hätten. Im Cabaret Voltaire lasen sie wohl ein paar Gedichte von Rimbaud vor – etwa Voyelles über die Farbe der Vokale. Und sie stilisierten den jungen Friedrich Glauser zu einem neuen Rimbaud. Glauser sah ebenfalls etwas bübisch aus, stand bekanntlich auf Emmy Hennings und verbrachte mit ihr eine Zeit auf dem Monte Verità. Dass sie ihn immer wieder mit Rimbaud verglich, wissen wir aus dem Briefwechsel und den Tagebüchern. Weitere Parallelen sind die Drogensucht und Afrika – bei Glauser war es die Fremdenlegion. Interessant aber auch das Flugblatt, das man in der Dada Universal Ausstellung im Zürcher Landesmuseum sehen kann, welches dagegen protestiert, dass Rimbaud eine Statue in Charleville errichtet werden soll – in „dieser idiotischsten aller idiotischen Städte“ wie Rimbaud damals mit 17 Jahren einem seiner Lehrer geschrieben hatte, als er nach Paris abhaute.
Der Text ist das verdichtete Protokoll eines Gesprächs, das Franziska Meierhofer und Ruedi Widmer am 18. März 2016 mit Stefan Zweifel führten.