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Lucia Salomé Gränicher

Sprich mit mir

Ehrlich und direkt zeigt die Performance «Roots» der kenianischen Theaterschaffenden Wanjikũ Mwawuganga die Wichtigkeit von Erinnerungsarbeit. Das Gebären, seine Bedingungen und seine Folgen werden zum Ausgangspunkt einer intergenerationalen Analyse des Mutterseins.

Ein Tisch, sechs Stühle und jede Menge Fotografien Schwarzer Frauen in den Händen der Zuschauenden. Wir befinden uns in einem dämmrig warmen Raum, aus dessen Schatten sich Wanjikũ Mwawuganga summend herauslöst. Eine junge Stimme fragt eine alte Stimme nach der Aussprache von Wörtern im Zusammenhang mit Mutterschaft, welche fremd scheinen. Das Bedürfnis, sich selbst und einander verstehen zu wollen, im buchstäblichen sowie im metaphorischen Sinne, wird hier als Untersuchungsgegenstand der Performance vorgestellt. Mwawuganga ist in Kenia aufgewachsen. In einem Land, in dem mehr als 40 Volksgruppen leben, die mehr als 50 Sprachen und Dialekte sprechen. Ein Umstand, der dazu führt, dass in ihrer Familie Themen der Politik gemieden werden und welcher das Verständnis zwischen den Familienmitgliedern über verschiedene Generationen hinweg kaum vereinfacht. Doch die Künstlerin will verstehen und versetzt sich dafür in die nicht anwesenden Körper ihrer Vorfahrinnen. Ausgangspunkt dieser Reise durch sedimentierte Erinnerungen bildet die Geburt ihrer ersten Tochter und die postnatale Depression, die darauf folgte. Mwawuganga beschreibt diese Phase als eine Zeit der Entfremdung und der Lähmung. Im Versuch, diese Krise zu überwinden und einen Zugang zu ihrer neu gewonnenen Mutterschaft zu finden, wendet sie sich an die Frauen, die vor ihr kamen.

Wanjikũ Mwawuganga manövriert sich ritualhaft in die Körper ihrer Vorfahrinnen. Sie tut dies in einer Präzision, welche uns die eigentliche Besitzerin dieses Körpers vergessen lässt. Stimme, Körperhaltung und Charakter verändern sich und zeigen ein Panoptikum der Mutterschaft. Zwischen den Verwandlungen, die unterschiedliche Zugänge zu Verantwortung, Verpflichtungen und schlussendlich auch zu Liebe aufscheinen lässt, interagiert Mwawuganga immer wieder mit dem Publikum. Sie schafft Verbindungen zwischen den gross projizierten Portraits ihrer Verwandten und den Fotografien in den Händen der Zuschauenden, indem sie diese bittet, das jeweilig entsprechende Bild zu beschreiben. Diese Beschreibungen offenbaren die subjektiven Wahrnehmungen und Vorstellungen der jeweiligen zuschauenden Person zu Mütterlichkeit. Die Frauen aus Mwawugangas Familie erzählen jedoch nicht nur von ihren Beziehungen, sondern auch von den gesellschaftspolitischen Ereignissen, die diese beeinflusst haben. Erst 1963 erreichte Kenia die Unabhängigkeit, ein Jahr später wurde Jomo Kenyatta der erste Staatspräsident nach der Erklärung Kenias zur Republik. Wanjikũs Grossmutter berichtet von der politisch feindlichen Stimmung ihrer Kindheit. Familien wurden gespalten; Brüder wurden entweder zu Kollaborateuren des Regimes oder zu verfolgten Freiheitskämpfern. Das verlorene Vertrauen sowie das Unvermögen, sich vergeben zu können, legte sich wie ein Schatten über Mwawugangas Familie. In Momenten wie diesen beginnt der Körper der Künstlerin als Medium zu bröckeln. Es scheint, als würde sie die Antworten auf ihre Entfremdung im Trauma ihrer Ahninnen finden. Denn es sind genau diese Erfahrungen, die sich in den Körpern derer zementieren, die nach uns kommen.

Wanjikũs Mwawugangas Beschreibung ihrer zweiten Geburt holt das Publikum zurück in die Gegenwart. Die beiden Geburten, die am Anfang und am Ende dieser Performance stehen, fungieren wie körperliche Portale in die psychisch sowie physisch abgelagerten Erinnerungen zwischen Müttern und Töchtern, in die man als Zuschauer:in eindringt. Ein Ab- und Auftauchen in eine fremde Familiengeschichte. Trotz der intimen Erzählweise schafft es Mwawuganga, dass sich das Publikum dabei nicht wie ein Fremdkörper fühlt. Die warme Dunkelheit des Raumes lullt es wie eine weiche Umarmung ein und fast scheint es, als hätte es die Fotografien erhalten, um sich während ihrer Verwandlungsreise daran festhalten zu können. Wanjikũ Mwawuganga Erinnerungsarbeit macht deutlich: wir sollen nicht schweigen, nichts konservieren – sondern über Dinge und Geschehnisse reden. Nur so können wir die Erb:innen unserer Erfahrungen nachhaltig für das, was kommen mag, wappnen.

 

 

Die kenianische Theatermacherin Wanjikũ Mwawuganga erforscht Traumata und Identitätssuche. Sie leistet Erinnerungsarbeit an ihrem eigenen Körper. «Roots» zeigt die weltweit geteilte Erfahrung der Mutterschaft innerhalb einer kenianischen Familie als individuelles und gesellschaftlich Erlebnis. Wanjikũ Mwawuganga ist Teil des kenianischen Maabara-Kollektivs, das sich zum Ziel setzt, einen sicheren Raum für künstlerische Arbeit zu bieten und insbesondere experimentelle Projekte fördert. «Roots» wird am Zürcher Theater Spektakel im Rahmen der Kategorie «Short Piece» gezeigt und ist für den ZKB Anerkennungspreis nominiert.