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Laura Sabel

Sie kamen zur Täuschung und besiegten alle Dinge

Über die Frage der Identität und wie diese Eigentum im globalen Kontext und Ausbeutung von Mensch und Natur legitimiert.

Globale Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse verstehen bedeutet auch, sich mit dem modernen/kolonialen Verständnis von Identität auseinanderzusetzen. Ausgehend vom Lied «Esta Tierra no es Mía» von Sexteto Tabalá werden historische und gegenwärtige Verstrickungen aufgezeigt und eine entgegengesetzte Perspektive in den Raum gestellt, wodurch eine Entkoppelung vom Mythos der europäischen Moderne möglich scheint.

 

Dieses Land gehört mir nicht / Dieses Land gehört mir nicht / Dieses Land gehört mir nicht / Dieses Land gehört der Nation (Refrain) // Die Zuckerrohrmühle von Santa Cruz, eine mächtige Sache / Sie kamen zur Täuschung und besiegten alle Dinge // Refrain // Ich ging jagen, was ich tötete, war ein Papagei / Der Untergang von Kolumbien seit INCORA kam // Refrain // Die Agrarreform kam mit einer unendlichen Sache / So schlecht waren sie, dass sie uns ohne Zucker liessen // Refrain // Die Incorneros sagten, jetzt haben wir Geld / Sie stehen an den Ecken und reden über Pferde und Kühe // Refrain // Palenqueros, ich sage es widerwillig / Die Einzigen, die profitiert haben, waren die Menschen aus Malagana // Refrain // Sie kamen zur Täuschung mit etwas Kriechendem / Doktor Cortázar sagte mir, Cassiani gehen Sie nach Hause // Refrain // Sie kamen zur Täuschung mit etwas Kriechendem / Cortázar Urdaneta sagte, Cassiani gehen Sie nach Hause // Refrain //

Liedtext «Esta Tierra no es Mía» von Sexteto Tabalá

 

Die Frage nach Identität ist heute noch dringlicher und problematischer als im Jahr 1996, als Stuart Hall seinen Aufsatz «Wer braucht Identität?» veröffentlichte. Hall beschreibt hier eine paradoxe Entwicklung, da die Diskussion um Identität einerseits einen Aufschwung erlebe und in ihr Fragen der Identitätspolitik und Handlungsfähigkeit besonderes Gewicht erhielten. Andererseits stehe der Begriff durch die Vorstellung einer ursprünglichen, unveränderbaren, homogenen Identität in der Kritik und befinde sich daher in einem Übergang, da er nicht mehr in seiner früheren Bedeutung, aber auch nicht abgelöst von dieser gedacht werden könne.[1]  Die Frage, die sich heute nicht wesentlich anders stellt, wird im Folgenden mit einer ebenso dringlichen Fragestellung verknüpft, nämlich wie Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse im globalen Kontext organisiert sind, wofür es notwendig sein wird, den epistemologischen Kontext zu betrachten, in dem Identitätspolitik gedacht wird.

 

Im Lied «Esta Tierra no es Mía» von Sexteto Tabalá heisst es «Dieses Land gehört mir nicht / Dieses Land gehört der Nation», angesprochen werden hier Enteignung nutzbarer Ländereien sowie die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts durch die Monopolisierung der Rohstoffproduktion durch grössere Unternehmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich einerseits die Frage nach Eigentum (von Land) und Ausbeutung von Mensch und Natur und andererseits inwiefern diese durch Identität im globalen Kontext legitimiert werden. Das Lied setzt der kolonial und kapitalistisch geprägten Erzählung von Fortschritt und Wachstum im globalen Kontext eine andere und nicht-eurozentristische Erzählung und Perspektive gegenüber. Das Konzept Eigentum steht in der Kritik, da es auf Ausschluss und Macht beruht. Ein Land oder Territorium zu besitzen, bedeutet, es zu haben und zu vergrössern, nicht aber, zu beleben und zu pflegen. Diese Beziehung zum Land, zur Natur oder zu dem was unser Eigen ist, hängt mit der okzidentalen Seins- und Denkweise zusammen und resultiert aus den Prinzipien der westlichen Moderne[2] wie Individualität, Freiheit, Souveränität, Fortschritt, Nationalstaatlichkeit, woraus sich eine globale Katastrophe ergeben hat. Gleichermassen verhält es sich mit dem Konzept Identität, das weniger auf Diversität, Einschluss und Gleichberechtigung als auf Homogenität, Ausschluss und Hierarchie basiert. Sie konstituiert sich in Differenz zu einem konstitutiven Aussen und somit immer in Beziehung und Abgrenzung zum Anderen oder zu den Anderen, also «zu dem, was sie nicht ist»[3]. Doch darüber hinaus ist Identität auf struktureller Ebene auch mit Ausschluss sowie Machthandlungen und -verhältnissen verbunden, da in jener Abgrenzung auch Hierarchien installiert werden. Vor diesem Hintergrund dienen überholte Vorstellungen von Einheit und Homogenität der Schliessung und Ausgrenzung, die jeder Identität als scheinbar unüberwindbare Notwendigkeit zugeschrieben wird. Die Frage nach Eigentum im globalen Kontext ist mit Identität insofern verknüpft, als dass sie (quasi natürlich) Eigentum organisiert, wobei gewisse (kollektive) Identitäten – die sich entlang von Differenzkategorien wie beispielsweise Geschlecht, Rasse, Klasse etablieren – mit Diskriminierung und Ausbeutung konfrontiert sind. Dies hat die Geschichte (die in der Gegenwart präsent ist) immer wieder gezeigt.

 

Die im Lied «Esta Tierra no es Mía» thematisierte Täuschung bezieht sich auf die Zuckerfabrik Santa Cruz sowie auf die Landreformen in Kolumbien durch das Kolumbianische Institut für Agrarreform INCORA und verweist somit auf lokalpolitische Zusammenhänge. Sie kann aber auch als Resultat globaler sowie kolonialer Verstrickungen und deshalb in einem grösseren Kontext gesehen und verstanden werden. San Basilio de Palenque gilt als erstes Palenque (freies Dorf) in Kolumbien, das von entkommenen (afrikanische) Sklav*innen hauptsächlich aus dem nahegelegenen Cartagena im Zeitraum zwischen 1655 und 1674 gegründet wurde und als Einziges noch heute besteht.[4] Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lebten seine Bewohner*innen – überwiegend Afrokolumbianer*innen – weitestgehend isoliert und entwickelten, basierend auf Landwirtschaft, einen in sich geschlossenen Wirtschaftskreis, wodurch sie autonom leben konnten. Doch mit der Kultivierung von Zuckerrohr traten sie in Kolumbiens nationale Ökonomie ein und erlebten durch die gewinnorientierte Monopolisierung der Zuckerrohrproduktion seit 1907 quasi eine erneute Kolonisierung, da sie ihre Territorien – ihr Eigentum – an Grossgrundbesitzer*innen und Siedler*innen verloren. Mit der Befreiung von den Kolonialmächten (ab 1810) änderten sich demnach nicht auch automatisch die Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse sowie Identitätspolitiken; vielmehr prägen moderne Identitätskonstruktionen die Zugehörigkeits- und Eigentumsverhältnisse des Landes nachhaltig. Die sozio-ökonomische Spaltung zwischen Grossgrundbesitzer*innen und Kleinbäuer*innen und (landlosen) Landarbeiter*innen sowie die rassistische Diskriminierung der Bewohner*innen von San Basilio de Palenque – ebenso wie der indigenen Bevölkerung – bestehen bis heute.[5]

Walter D. Mignolo beschreibt, dass es «keine Moderne ohne Kolonialität» geben kann, weshalb die Errungenschaften der Moderne mit Kolonialisierungsprozessen wie beispielsweise Sklaverei, Ausbeutung oder Landenteignung unweigerlich verknüpft sind und somit nicht blosse Nebeneffekte, sondern integraler Bestandteil des Fortschritts der Moderne sind.[6] In Südamerika zeigen sich jene kolonialen Strukturen heute im Entwicklungsmodell des Neo-Extraktivismus, das seit 20 Jahren praktiziert wird und auf der Förderung, Produktion und dem Export unverarbeiteter Rohstoffe basiert. Das Modell erfordert und stützt die Interessen und Investitionen lokaler und internationalen Akteur*innen in die Erkundung von Ressourcen, die Industrialisierung der Landwirtschaft und in infrastrukturelle Massnahmen, bringt jedoch der Mehrheit der Bevölkerung keine Vorteile, sondern verschlechtert in den An- und Abbaugebieten durch die Zerstörung der Natur und die Enteignung ihrer Territorien ihre Lebensgrundlage. Der Neo-Extraktivismus bringt nicht nur enorme sozio-ökonomische, politische und ökologische Probleme mit sich, sondern führt insgesamt auch zu geringer Wertschöpfung und hält die südamerikanischen Länder – und damit ihre Subjekte – weiterhin in Abhängigkeit vom Weltmarkt sowie von Industrieimporten fest. Viele der Länder stecken in einer fortwährenden wirtschaftlichen Krise. Trotzdem kommt das Modell nicht zum Ende und es werden keine Produktionsstrukturen zu eigenen Gunsten geschaffen. Stattdessen wird auf die scheinbare Alternativlosigkeit mit noch mehr Extraktivismus reagiert und die Wirtschaftspolitik fortgesetzt, die auf Wachstum, Konsum, Export, Freihandel und attraktiven Angeboten für Investoren setzt.[7] Oder wie es Eduardo Galeano erst im Jahr 2008 in einem Vorwort zur Neuauflage seines Buchs «Die offenen Adern Lateinamerikas» (1971) beschreibt: «Laut denen, die das Sagen haben, müssen die Länder der südlichen Halbkugel an die Handelsfreiheit glauben (auch wenn es diese nicht gibt), ihren Schulden nachkommen (auch wenn diese unsittlich sind), Investitionenanziehen (auch wenn diese unwürdig sind) und Zugang zur Welt finden (und sei es durch die Hintertür). Zugang zur Welt finden: Die Welt ist der Handel. […] Lateinamerika wurde geboren, um ihm zu gehorchen».[8] Das Zusammengehen von Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus frisst einfach alles. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Es bilden sich kollektive Identitäten heraus, denen entweder alles oder nichts gehört.

 

Die Moderne ist als radikale Wende des Denkens und Seins zu verstehen, da sich mit ihr beispielsweise nicht nur der Übergang von einer präglobalen in eine globale Welt oder von eingeschränkter Handlungsfreiheit zu subjektiver Freiheit abzeichnet, sondern auch von einem quasi primitiven Denken zu einem quasi vernunftbasierten Denken.[9] Mit diesem Mythos kündigt sich auch das Problem der Rhetorik der Moderne an, da in ihr eine alles ausschliessende und zugleich vereinnahmende Totalität steckt, die insbesondere in der «Komplizenschaft zwischen Moderne und Rationalität»[10] zum Ausdruck kommt. Denn jene Dominanz und Universalisierung der okzidentalen Wissensordnung bedeutet eben auch die Verdrängung und systematische Negierung anderer Lebens- und Denkweisen, Sprachen, Wissensformen sowie ökonomischen und politischen Systeme. Die Moderne entfaltet ihre Wirkung gerade auf der Ebene der Epistemologie, da sie sich als europäische Erzählung «imperialer sprachmächtiger Subjekte»[11], deren geographische Zugehörigkeit verschleiert ist, ins kollektive Gedächtnis einpflanzt. Jene Rhetorik, innerhalb derer die Moderne als universaler, globaler und zielgerichteter Prozess naturalisiert wird, bedeutet gleichermassen eine permanente «Reproduktion der Kolonialität»[12]. Dem entgegengesetzt sollte die Moderne vielmehr als etwas gelesen werden, das in unauflöslicher Verbindung zur Kolonisierung der sogenannten neuen Welt steht.[13] Aníbal Quijano entwickelte ein Verständnis von Kolonialität als unsichtbaren und konstitutiven Teil der Moderne, wobei die Auslassung des Kolonialismus innerhalb der Moderne als Logik der Kolonialität benannt werden kann. Die Forschungsgruppe Modernidad/Colonialidad (Moderne/Kolonialität) zeigte Ende der 90er Jahre auf, dass in der Kolonialität unterschiedliche Formen der Kontrolle auf Ebenen wie Ökonomie, Autorität, Natur und Ressourcen, des Geschlechts und der Sexualität, der Subjektivität und Erkenntnis wirken. Innerhalb dieser kolonialen Matrix der Macht werden Handlungen und Aussagen rationalisiert und fortwährend weitergetragen. Auf dieser Grundlage strebt die Gruppe die Dekolonisierung von Sein und Erkenntnis an.[14]

Vor diesem Hintergrund wird San Basilio de Palenque hier innerhalb globaler Macht- und Ausbeutungsverhältnisse verortet. Denn die Ausbeutung jener Menschen sowie der natürlichen Ressourcen, die sie umgeben, ermöglicht das vergleichsweise angenehme und überprivilegierte Leben in Europa. Das ökonomische System, welches Ausbeutung in diesem Ausmass ermöglicht, gründet auf dem epistemologischen Rahmen der Moderne – mit einer Idee von Identität – die sich in Differenz zu einem konstitutiven Aussen etabliert.  Diese binäre Denkweise brachte auch die Idee von Europa als Zentrum und Nicht-Europa als Peripherie hervor und kultivierte nicht weniger systemtragende Dualismen wie primitiv-zivilisiert, irrational-rational, mythisch-wissenschaftlich, traditionell-modern, Mensch-Natur.[15] Innerhalb dieser Form der Erkenntnis war es überhaupt nur möglich, beispielsweise Handel mit Menschen zu betreiben und sie zu enteignen, sich als Nutzer*in der Natur zu verstehen, ohne dieser etwas zurückzugeben, oder aber auch, sich nicht mit den Problemen der sogenannten Dritten Welt zu beschäftigen oder nicht verstehen zu wollen, dass die Grundlage des Reichtums der sogenannten Ersten Welt ihre Ausbeutung bedeutet. Dementsprechend legitimiert die strukturelle Eigenschaft des bestehenden globalen Systems die Unterdrückung vielfältiger Subjektivitäten, soziale Ungleichheit, ökonomische Ungerechtigkeit, kulturelle Deutungshoheit und Subalterniserung. Mit der Eroberung des globalen Südens gewann also die okzidentale Wissensproduktion  geopolitische Bedeutung, weshalb europäische Logiken und Denkmodelle sowie imperiale Strukturen nachhaltig Eigentums- und Zugehörigkeitsverhältnisse prägen. Gleichzeitig hat sich das moderne/koloniale Konzept von Denken und Sein, das auf Differenz und Macht gestützt ist, in unsere Identitäten eingeschrieben und steuert nicht nur Identitätspolitik, sondern auch Subjektivierungsprozesse. Demzufolge sind unsere Erfahrungen und Erinnerungen von raum-zeitlichen und imperial-kolonialen Differenzen gezeichnet, und es gilt sich bewusst zu machen, dass diese insofern miteinander verknüpft, als Ausbeuten und Ausgebeutet-werden zwei Seiten derselben Medaille sind. Zu Recht fragt Silvia Rivera Cusicanqui daher, wie wir das exklusive Wir zu einem inklusiven Wir verschieben können.[16] Es scheint, als sei das rationalisierte Subjekt nicht in der Lage, ein inklusives Wir zu denken, weshalb diese Form des Seins und Denkens verlernt werden sollte. Mit Stuart Hall kann zudem der Blick in Bezug auf Identitätspolitik verschoben werden. Denn er beschreibt Identität als Konstrukt, das in unterschiedlichen, sich entgegenstehenden oder ineinandergreifenden Diskursen und Praktiken entsteht und somit als Ergebnis der Verknüpfung zwischen Subjekt und Subjektposition zu verstehen ist, das innerhalb spezifischer historischer und institutioneller Orte produziert wird. Identität stellt sich deshalb als Position dar, die zwar Wissen voraussetzt, jedoch auch aktiv vom Subjekt ergriffen werden muss und kann.[17] Jene «Narrativierung des Selbst»[18] und somit die Konstruktion von Identität situiert Hall damit in einem phantasmatischen Feld, wobei gleichzeitig die politische und diskursive Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als möglich, überholte Identitätskonstruktionen zu destabilieren und neue zu entwerfen. In diesem Sinne wird Identität auch entgegen einer essentialistischen Betrachtung hier als etwas verstanden, das im Prozess der Differenzmarkierung gerade nicht fixiert, sondern kontinuierlich destabilisiert werden kann, weshalb sich das Subjekt in einem ständigen Transformationsprozess befindet.

 

Wenn das moderne Identitätskonzept die Ausbeutung von Mensch und Natur legitimiert sowie Zugehörigkeit und Eigentum machtbasiert strukturiert, gilt es ein alternatives Verständnis von Identität zu entwerfen und alternative Identitätskonzepte, Lebensformen, Denkweisen zu anerkennen. Mit diesem Ziel drängt sich im Sinne Mignolos eine epistemische Entkoppelung auf, die mit der Dekolonisierung der Erkenntnis und damit des Denkens beginnt.[19] Wobei gleichermassen auch eine «Verkoppelung mit anderen Artikulationsformen, Erkenntnisweisen und Wissensanordnungen»[20] angestrebt wird. Jenen Prozess bezeichnet Mignolo als dekolonialen Umsturz, der bereits im Gang und mit der «Überwindung der von der Moderne/Kolonialität eingenommenen Sichtweise auf das menschliche Leben» eng verbunden ist.[21] Mignolo zeigt auf, dass innerhalb des von der Moderne geschaffenen Rahmens keine Alternativen zur Moderne möglich sind und beschreibt dies wie folgt: «Wer vom Berggipfel Ausschau hält, erblickt See und Horizont, wer jedoch den See befährt, sieht Wasser, Fische und von den Bergen umgebene Wellen, aber keinen Horizont.»[22] Demzufolge unterscheidet sich Sein und Wissen des kolonialen Subjekts von dem des imperialen Subjekts, da beide Körper von «unterschiedlichen Lokalgeschichten gefärbt»[23] sind. Obwohl es sich um die Dekolonisierung des Denkens beider Subjekte handelt, denkt Mignolo diese ausgehend von lokalen Geschichten, jener «die aufgrund der kolonialen raum/zeitlichen Differenzen marginalisiert worden sind»[24]. Die Erzählung von Sexteto Tabalá ist notwendig, weil sie den europäischen Mythos von Fortschritt und Verbesserung unterbricht und durch eine andere Perspektive ergänzt. Der okzidentale Anspruch auf Universalität kann durch eine Perspektive der Pluriversalität ersetzt werden und zu Interkulturalität oder zu neuen Formen der Erkenntnis und des Seins führen.[25] Dekolonialität darf allerdings nicht nur ein akademisches sein, sondern soll im Sinne der Forderung von Rivera Cusicanqui mit einem compromiso (vital) einhergehen, einer lebensnotwendige «Selbstverpflichtung», die in der eigenen Lebensrealität verortet ist: «eine Wissenschaft des Lebens […], die über die oberflächliche und akademisierte Verbindung zwischen Theorie und Praxis hinausgeht […], nicht den Geist vom Körper, die Ethik von der Politik und das Handeln vom Denken trennt, sondern es erlaubt, sich der Ausbeutung der Natur, der Menschen und der materiellen Ressourcen entgegenzustellen und sich der totalisierenden Kraft des Staates zu entziehen».[26] Mit Blick auf den Entwurf alternativer Identitätspolitiken sowie Seins- und Lebensformen stelle ich mir eine Wiederherstellung des Gleichgewichts (Recuperación del Equilibrio[27]) zwischen Eigentums- und Besitzverhältnissen, Denkkonzepten, binären Vorstellungen, Menschen und ihrer Beziehung zur Natur vor. Wir sollten Kompliz*innen geteilter und interkultureller Geschichten werden, unterschiedliche Erzählungen zulassen und einander zuhören. Mit der Wiederherstellung des Gleichgewichts ist allerdings kein Rückschritt im Sinne der Suche eines ursprünglichen Zustandes gemeint. Vielmehr geht es um eine Erneuerung und gegenstrebige Entwicklung zu dem, was ist. Gleichzeitig handelt es sich auch nicht um die Suche eines endgültigen Zustandes, sondern vielmehr um einen Prozess, der innerhalb jener instabilen Balance stetig in Bewegung ist. Es wäre wünschenswert, wenn die Verhältnisse zuliessen, dass wir anstatt «mein Land, mein Eigentum, mein Territorium, meine Identität» vielmehr in Austauschprozessen denken würden. Anstatt auf dem Eigenen sitzen zu bleiben und sich somit vom Anderen abzugrenzen, könnte man es teilen, ohne es aufgeben zu müssen. Doch dies setzt das Wissen um Austauschbeziehungen voraus: Ich bin nichts ohne mein Gegenüber, ich bin nichts ohne das, was die Natur mir gibt.

[1]       Vgl. Stuart Hall, «Wer braucht Identität?», in: Ideologie, Identität, Repräsentation [2004], Ausgewählte Schriften 4, übersetzt aus dem Englischen von Victor Rego-Diaz, 6. Auflage, herausgegeben von Juha Koivisto und Andreas Merkens, Hamburg,  Argument Verlag, 2018, S. 167–168

[2]              Die Moderne ist weniger als Epoche, sondern vielmehr als eine Art des sozialen Lebens und der sozialen Organisation zu verstehen, die sich seit dem 15. Jahrhundert entwickelte und mit bestimmten historischen sowie philosophischen Ereignissen verbunden ist: Der Renaissance und der Entdeckung der neuen Welt ab Anfang des 15. Jahrhundert, der Reformation ab Anfang des 16. Jahrhundert, der Aufklärung ab Anfang und der Französischen Revolution ab Ende des 18. Jahrhundert (sowie der industriellen Revolution seit Mitte des 18. Jahrhunderts und verstärkt im 19. Jahrhundert).

[3]       Hall 2018, S. 171

[4]       Vgl. Armin Schwegler, «On African origin(s)», in: Orality, Identity and Resistance in Palenque (Colombia) – An interdisciplinary approach, herausgegeben von Armin Schwegler, Bryan Kirschen, Gracia Maglia, Amsterdam/Phiadelphia, John Benjamins B.V., 2017, S. 63

[5]      Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/kolumbien-eine-lateinamerikanische-geschichte.976.de.html?dram:article_id=349111 (19.07.2020)

[6]      Vgl. Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität [2012], übersetzt aus dem Spanischen von Jens Kastner und Tom Waibel, Wien, Turia und Kant, 2019, S. 103–104

[7]      Vgl. Ulrich Brand, «Neo-Extraktivismus – Aufstieg und Krise eines Entwicklungsmodells», in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Zeitwende in Lateinamerika?, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung, 2016, S. 22–23

[8]      Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas [1971], übersetzt aus dem Spanischen von Angelica Ammar, 5. Auflage der Neuausgabe von 2009, Wuppertal, Peter Hammer Verlag, 2015, S. 9

[9]      Vgl. Mignolo 2019, S.106ff

[10]      Ebd., S. 51

[11]      Ebd., S. 112–113

[12]      Ebd., S. 46

[13]      Vgl. Ebd., S. 112–113

[14]      Vgl. Ebd., S. 48–50

[15]      Vgl. Ebd., S. 93

[16]      Vgl. Silvia Rivera Cusicanqui, «Ch´ixinakax utxiwa – Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung», 1. Auflage, herausgegeben von Sebastian Garbe, María Cárdenas und Andrea Sempéregui, Münstler, Unrast-Verlag, 2010, S. 77

[17]      Vgl. Hall 2018, S. 172–173

[18]      Ebd., S. 171

[19]      Vgl. Mignolo 2019, S. 54

[20]      Ebd., S. 24

[21]      Vgl. Ebd., S. 79

[22]      Ebd., S.104

[23]      Ebd., S.99

[24]      Ebd., S. 190

[25]      Vgl. Ebd., S.57

[26]      Rivera Cusicanqui 2010, S.12–13

[27]      Aus einem Gespräch mit einem Vertreter der Kogis der Sierra Nevada de Santa Marta am 11. Januar 2020.