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Anja Jeitner

Sich nass machen

oder: Abschied an den blauen Regenmantel

Die Sonne geht schon unter, als du an meiner Tür klingelst. Mein Fenster im ersten Stock steht bei den Temperaturen weit geöffnet, so kann ich heimlich auf dich hinunterspähen. Es ist das zweite Mal, dass du mich abholst. Ich bin immer noch aufgeregt, nachdem ich dich ein ganzes Semester lang in unserem Kurs zu Fiktionstheorie beobachtet habe, um dich dann kurz vor den Sommerferien abzufangen (du warst schon drei Schritte weitergelaufen) und nach deiner Nummer zu fragen.

Wir steigen auf unsere Fahrräder und fahren den Rhein flussabwärts. Das Schild vom Naturschutzgebiet ignorieren wir (so wie das hier alle machen) und wuchten uns über den buckligen Weg zum «Beach». Als wir ankommen, ist es bereits dunkel, der Sand feucht, aber noch so warm, dass du dich in einem Ruck entkleidest (wie immer) und ans Wasser trittst. Aus irgendeinem Grund lasse ich die Unterhose an und folge dir. Selbst hier am äussersten Rand spüren wir den Sog des Rheins, so stark, dass wir nur bis Hüfthöhe durch die wehenden Algen waten und dann mit dem ganzen Körper eintauchen. Wir lassen uns treiben, schwimmen immer wieder gegen den Strom, tauchen umeinander herum. Dann driftest du langsam auf mich zu und ziehst mich an den Beinen zu dir heran.

 

Ich sitze an meinem Schreibtisch in Zürich und versuche einen Essay über «nass» zu schreiben. Ich habe schon viel zu lange nachgedacht und viel zu viele Schubladen geöffnet. Stofffetzen liegen über den Boden verteilt um mich herum und ich starre ihnen missmutig entgegen. Irgendwann verfängt sich mein geistiges Auge am aufgerissenen Saum eines Regenmantels, den ich schon fast vergessen hatte. Ich ziehe ihn hervor und rieche an ihm, befühle ihn mit meinen Fingern, und auf einmal überkommt mich ein altes Gefühl. Es ist eine komische Mischung aus Faszination und Ekel. Ich schlüpfe in die Ärmel und betrachte mich im Spiegel. An den Schultern ist er viel zu breit, aber gerade dadurch fühle ich mich auf einmal mächtig. Ich hebe das Kinn und schaue mit gesenktem Blick an mir hinunter: unbezwingbar.

 

Seit ich denken kann, gibt es dieses Geheimnis. Ich sah es zum ersten Mal in den Augen meines Vaters auflodern, in einem Gespräch mit einem anderen Mann. Hinter vorgehaltenen Händen, so amüsiert, dass die beiden ihre Atmung kaum unter Kontrolle hatten, ja quiekend nach Luft schnappten, um sich am Ende die Tränen aus den Augen zu wischen. Ich sass daneben und wusste genau: Was auch immer dieses Geheimnis ist, ich werde es nie erfahren. Die Logik dieses Geheimnisses bestand gerade darin, dass ich nie dahinterkommen würde. Wie ein Geist schwebte es immer wieder durch den Raum und trennte mich von meinem Vater und von allen Männern auf dieser Welt.

Auf langen Autofahrten, für die meine Eltern Kisten voller Hörbücher aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hatten, drückte mich dieses Geheimnis wie ein gewaltiger Amboss in meinen Kindersitz. Wir lauschten stundenlang den Kriminalgeschichten von venezianischen, sizilianischen oder korsischen Kommissaren, die mit ihrem Job verheiratet waren, aus Prinzip zu viel tranken und in jeder neuen Folge mit einer anderen attraktiven und intelligenten Frau schliefen, obwohl sie tief in der Brust noch immer an ihren Ex-Frauen hingen, die sich ab und zu durch einen Anruf bemerkbar machten, aber eigentlich vor allem dann, wenn sie gerade wieder mal einen zu viel getrunken hatten und selbst zum Hörer griffen.

Vom Hinterkopf meines Vaters wanderte mein Blick zum Hinterkopf meiner Mutter. Manchmal lachte mein Vater laut auf, so heftig und gehässig, dass ich kurz zusammenfuhr und da wusste ich wieder, da, genau in diesem Lachen liegt das Geheimnis. Meine Mutter lachte nicht, sie hielt sich mit einer Hand am Haltegriff fest, weil mein Vater zu schnell fuhr. Auf diesen endlosen Fahrten hatte ich genug Zeit, um ihr markantes Profil immer wieder zu prüfen und kam zu dem Schluss: Meine Mutter hat das Zeug, eine dieser Frauen aus einer dieser Geschichten zu sein.

Ich war stolz auf ihr Talent zu kokettieren. Sich für Feiern mit schweren, stilvollen Ohrringen zu behängen und mit ihrem rotbemalten Mund kecke Bemerkungen in die Runde zu werfen, die den Männern imponierten. Sie war zwar vom Geheimnis genauso ausgeschlossen wie ich, aber sie wusste damit umzugehen. Sie fing es auf wie eine milchige Glaskugel, deren Inhalt sie nicht durchschaute, und balancierte es sachkundig von einem Arm zum anderen. Sie machte daraus selbst ein Geheimnis. Das war der nächste Punkt, um als Frau an dieses Geheimnis heranzukommen, dachte ich, und diesen Punkt, das wusste ich als offenkundig schüchternes Kind, würde ich niemals erreichen.

Auch Jahre später, als ich längst nicht mehr mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr und mich im Studium mit weit «gehaltvollerer» Literatur beschäftigte, übte das Geheimnis seine Wirkung weiter auf mich aus. Die Schüchternheit hatte ich längst überwunden, die Kniffe meiner Mutter mehr als kopiert (meinte ich jedenfalls), aber das führte nur zum Gegenteil: Das Geheimnis wurde noch geheimer. In den Max Frischs und Milan Kunderas fand ich es wieder und es zog mich mehr denn je an, denn in der Welt, in der ich leben wollte, waren sie die Heiligen. Wenn ich nur genug von ihnen läse, genug ihrer Referenzen verstünde, würde ich ihrem Geheimnis irgendwann doch noch auf die Schliche kommen.

 

Ich höre jetzt auf, in Metaphern zu schreiben. Der Mantel, um den es hier geht, ist Teil eines Songs von Leonard Cohen. Er heisst «Famous Blue Raincoat» und befindet sich auf seinem dritten Album «Songs of Love and Hate» von 1971. In diesem Lied thematisiert Cohen eine komplizierte Dreiecksbeziehung und verfasst den Text in Briefform. Der Adressat dieses Briefs ist ein namenloser Mann, der ein Verhältnis mit Jane, der Frau des Schreibenden, begonnen hat (und dessen «Famous Blue Raincoat» mit der Zeit an der einen Schulter aufreisst).

Der betrogene Autor ist dabei nicht nur betrübt oder bitter, sondern auch tief bewegt von Versöhnung und Dankbarkeit. Denn ohne die ganze Begebenheit hätte er nicht bemerkt, wie zerrüttet seine Ehe mit Jane eigentlich schon lange ist (er hatte sich bereits mit den «troubles in her eyes» abgefunden). Am Ende gibt er Jane «frei» und erklärt sie zu «nobody’s wife».

Melancholisch verklingt der Song und Cohens sanfte, leicht krächzende Stimme setzt noch ein «Sincerely, L. Cohen» ans Ende. Der titelgebende Regenmantel ist komplett nebensächlich, denke ich zuerst enttäuscht. Am ehesten soll das Aufreissen die Belastung durch dieses Liebesdrama zum Ausdruck bringen, die auch den namenlosen Widersacher nicht verschonte, mutmasse ich. Der Stoff bekommt dann doch eine neue Ebene, als ich lese, dass Leonard Cohen selbst einen blauen Regenmantel besessen haben soll. Ich grabe mich tiefer ins Internet. Irgendwann finde ich endlich eine Fotografie des ominösen Regenmantels und traue meinen Augen kaum.

Ich habe mir diesen Mantel immer ziemlich abgewetzt vorgestellt, wie diese badeentengelben Helly Hansen-Regenjacken, nur eben in Azurblau: weit geschnitten, aus Plastik und mit Kapuze. Der Mantel, der den schnauzbärtigen Mittzwanziger hier ziert, ist ein dunkelblauer Trenchcoat von Burberry und, wie ich lese, das erste, was er sich bei einem Aufenthalt im verregneten London Ende der 50er zulegt (neben einer Olivetti-Schreibmaschine). Als Sohn einer wohlhabenden und angesehenen jüdischen Familie aus Montreal stand Leonard Cohen wohl der Sinn nach etwas Stilvollem. Er schreibt damals noch keine Songs, sondern in erster Linie Gedichte, die er veröffentlicht und die in der Montrealer Literaturszene bereits Anklang finden. Bis er sich der Musik zuwendet, werden noch einige Jahre vergehen.

Eine konkrete Vorstellung seines Künstler-Ichs hatte er allerdings von Anfang an: «[…] raincoated, battered hat pulled low above intense eyes, a history of injustice in his heart, a face too noble for revenge, walking the night along some wet boulevard, followed by the sympathy of countless audiences . . . loved by two or three beautiful women who could never have him.», imaginiert er den Protagonisten Leonard Cohen in einer seiner Kurzgeschichte mit dem Untertitel «Journal»– nicht ohne eine Portion Selbstironie.(1) Am Ende helfen jedoch weder Schreibmaschine noch Regenmantel gegen den grauen Himmel Londons. Im Frühjahr 1960 flüchtet er sich auf die griechische Insel Hydra, wo er die Norwegerin Marianne Ihlen kennenlernt, die Cohen später zu seinen bekanntesten Songs inspirieren wird. So long, Marianne…

 

Auf dem alten Perserteppich im Wohnzimmer meiner Grosseltern, ich bin acht Jahre alt. Mein Opa hat ein Album von Simon & Garfunkel aufgelegt und setzt sich zu meiner Oma an den Kaffeetisch. Meine Cousinen und ich liegen vor dem gewaltigen Bücherregal, hauen uns bei jedem Schlagzeughieb von «The Boxer» auf den Hintern und können uns vor Lachen kaum halten. Später legt mein Opa das Rote Album der Beatles auf und meine Grosseltern können sich wiederum vor Lachen kaum halten, als wir ihnen, in die Seidentücher meiner Oma gehüllt, eine Tanzperformance zu «She Loves You» und «I Want To Hold Your Hand» liefern. Beim Kartenspielen hören wird das Blaue Album rauf und runter.

Das «Ob-La-Di-Ob-La-Da» begleitet uns auch durch einen Familienurlaub in Dänemark in dem Jahr, in dem ich 16 werde. An einem verregneten Nachmittag finde ich in einem Antiquariat drei Fotobände zu den 50er, 60er und 70erJahren und es überkommt mich wie eine Welle. Ich bin hypnotisiert von den ikonischen Fotografien von Audrey Hepburn, Elvis Presley, John Lennon, Mick Jagger und verbringe Stunden und Tage damit, mir diese Fotos genau anzusehen. Was mich besonders fasziniert ist, wie sich diese drei Jahrzehnte so einfach in Bildbänden zusammenfassen lassen. Wie man die Codes dieser Zeit erfassen und erlernen kann. Wie ich sie mir selbst aneignen kann. Wie ich sie später benutzen kann, um mich von den anderen Jugendlichen um mich herum abzuheben.

Während sich meine Freundinnen zu diesem Weihnachten Konzerttickets für Lana Del Rey und Passenger wünschen, liegen unter unserem Christbaum die Best-of-CDs von Jim Croce, The Rolling Stones, America, Cat Stevens, Janis Joplin, Bob Dylan, Leonard Cohen. Vor allem an Bob Dylan und Leonard Cohen bleibe ich hängen, verliere mich vollends in ihren sprachlichen Bildern, die von Mystik und Religion geprägt sind, in den sich mir immer wieder neu erschliessenden Interpretationsebenen und Referenzen ihrer Lyrics. Auf der Suche nach Antworten vergrabe ich mich in Biografien und Fotobände.

Mein Vater, der die Musik nach 1979 ausnahmslos als «Schrott» bezeichnet, entdeckt mich in dem Jahr zum ersten Mal als ernsthafte Gesprächspartnerin. Ich atme auf und habe das Gefühl, dem Geheimnis einen Schritt näher gekommen zu sein.

 

Da ist etwas an diesem Regenmantel, das mich unruhig macht, irgendwas daran stinkt so bestialisch nach Geheimnis. Ich habe Lust, das alles so richtig nass zu machen, das alles so richtig zu durchtränken, einzuweichen, aufzulösen.

 

Auf dem alten Perserteppich in meinem WG-Zimmer am Kaiser-Wilhelm-Ring, ich bin 22 Jahre alt. Du hast dich wieder komplett entkleidet und eine Schallplatte aufgelegt. Wir liegen mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Wir lauschen der abgrundtiefen, ein-ganzes-Leben-aufgebrauchten Raucherstimme von Leonard Cohen. «I’m ready, my Lord», raunt er ins Mikrofon, als stünde er bereits im Angesicht des Allmächtigen (und wird dann auch im Jahr der Aufnahme erlöst). Du erzählst mir, dass du dein Schaffen als Autor dem Werk von Cohen widmen willst. Wir lauschen dem jüngeren Leonard Cohen, der mit fistelnder Stimme von Orangen aus China singt und schlafen miteinander.

 

Es bleibt übrigens nicht bei der einen griechischen/norwegischen Muse Marianne Ihlen – als Cohen mit Anfang Dreissig zur Gitarre greift, beginnt eine Reihe von Affären mit den grossen Folk- und Rock-Künstlerinnen der Zeit. Als «Ladies‘ Man» durchschreitet Leonard Cohen die 70er- Jahre in seinem berüchtigten blauen Regenmantel. Angefangen mit der Sängerin Judy Collins, die ihn überhaupt erst auf die Bühne holt. Es folgen Geschichten mit Sängerinnen wie Joni Mitchell, Janis Joplin und vielen anderen Frauen, deren «perfect bodies» Cohen später in seinen Songs befühlt, durchlebt, fixiert, wenn auch nur «with his mind».

In einem Interview von 2005 sagt Cohen: «I had a great appetite for the company of women».(2) Er sei aber nie gut in den Dingen gewesen, die Frauen wollten (gemeint ist Treue). Diese angebliche Unfähigkeit ist dabei, so darf man annehmen, eher Alibi als ehrlich empfundenes Manko. Denn obwohl die Frauen in seinen schwermütigen Liedern meistens zu Ende genauso plötzlich verschwinden, wie sie erschienen sind, ist es im echten Leben in der Regel er, der den Frauen entflieht. Sobald er ihre inspirative Kraft versiegen sieht, noch bevor sich die Muse wieder in eine Frau verwandeln kann, hat er sich schon davongestohlen. Auf den ersten Seiten seiner Biographie «Leonard Cohen: A Life in Art» von 1994 fasst der Autor Ira Nadel zusammen: «When entrapped by beauty, [Cohen] finds his art imperiled. He responds by seeking freedom, recognizing the need to dismantle love…for only art can truly seduce Leonard Cohen.»(3)

 

Ich plane jeden Schritt im Voraus. Wie eine Blume enthülle ich jede neue Information über mich als Blütenblatt, das ich im richtigen Moment vor deine Augen hinuntersegeln lasse. Ich versuche dich mit den banalsten Dingen zu beeindrucken. Etwa, dass ich die 1001 Seiten «Zauberberg» in einer Woche lese, mein Bier schneller austrinke als du oder dir Gedichte von Goethe auswendig aufsage (du voller Ehrfurcht). Dass ich dir als Erste «exit RACISM» empfehle und neuerdings in einem feministischen Kollektiv aktiv bin, in dem wir mit Geliermittel Abdrücke von unseren Vulven anfertigen (du kommst aus dem Stauen nicht heraus). Ich lege kennerisch «The Köln Concert» von Keith Jarrett auf meinen Plattenspieler und schlüpfe wieder zu dir unter die Bettdecke, wo wir uns mit Kaffee betrinken. Zum Frühstück setze ich mich oben ohne zu dir auf den Balkon (du endgültig sprachlos).

Du fragst, ob mir meine schlechte Haut eigentlich egal sei. Du fragst, wie ich eigentlich meinen Körper finde. Du sagst, du möchtest mir eine «Ganzkörperberührung» geben und ich bereite mich mental darauf vor, dass du mich an Stellen meines Körpers berühren wirst, mit denen ich unzufrieden bin. Du greifst mir an die Waden, während wir die Treppen zum Seminarraum hochsteigen und bringst deine Verblüffung darüber zum Ausdruck, wie stark sie sind. Du sendest mir eine E-Mail (ohne Betreff), die nur eine jpg-Datei enthält: ein viktorianisches Gemälde von Herbert James Draper, das eine laszive, nackte Nymphe im Flussbett zeigt. Du weist mich auf ihre und meine körperliche Ähnlichkeit hin. Du antwortest auf meine perplexe Nachfrage: «Vielleicht sind es nicht die Ähnlichkeiten, sondern meine Ähnlichkeiten. Vergiss es am besten einfach ganz schnell wieder!».

 

Ich muss mich korrigieren: Leonard Cohen konnte die 70er-Jahre gar nicht im blauen Regenmantel durchschreiten, weil ihm der bereits 1968 gestohlen wurde und seitdem nie wieder aufgetaucht ist. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, denn das hat ihn nicht davon abhalten, seine «Ladies‘ Man»-Attitüde weiter zu fahren. Zumindest nicht in seiner ersten Schaffensphase, nach der er den inhaltlichen Fokus seiner Songs auf seine Beziehung zu Gott lenkt und die Background-Sängerinnen durch Synthesizer ersetzt.

Ich denke an die unzähligen Künstler, die sich Frauen und ihre Körper in Gemälden, Büchern, Liedern, Filmen angeeignet und zu ihren tragenden Objekten gemacht haben, um ihr Werk zu erschaffen, um sich als «Genies» oder «Legenden» in unser Kulturgedächtnis einzuschreiben. Um ihre Fantasien auszuleben, in denen sie den weiblichen Körper immer und immer wieder unterwerfen. Der Historiker Martin Jay hat dafür den Begriff des «Aesthetic Alibis» erfunden und der bringt das Geheimnis auf einen einfachen Punkt: nämlich als Alibi. Als simplen Vorwand, problematisches, frauenobjektivierendes und -verachtendes Verhalten zu Kunst, zum Geniestreich zu verklären. Und dieser Kniff gelingt deswegen so gut, weil die Kunst, um die es hier geht, ja auch mit einem grossen kulturellen Wert daherkommt. So gross, dass man ihr beinah alles glauben möchte. Aber er gelingt auch deswegen so gut, weil mit jedem schlüpfrigen Grinsen der Übergriff darin weiter rechtfertigt wird und sich als «guter Geschmack», und damit als Machtmittel, in unserem Kulturverständnis konserviert.

All die Männer, die da so lachen, die wissen ganz genau, dass sie eigentlich Arschlöcher sind. Dass sie sich das Lachen nur leisten können, weil es ihnen die bestehenden Machtstruktur erlaubt.

Und das geht soweit, dass sich ein postmoderner Künstler wie Leonard Cohen nicht einmal ernsthaft als Genie stilisieren muss. Er macht es ja komplett ironisch und gibt uns damit den Wink, eigentlich einer von den «Guten» zu sein, eigentlich zu wissen, was Aufrichtigkeit und Respekt bedeutet. Dabei ist diese Selbstironie nur ein weiterer Mechanismus, um die bestehenden Machtverhältnisse zu untermauern.

Leonard Cohens Selbstironie ist sein blauer Regenmantel: seine Rüstung, sein Schutzschild, das ihn davon abhält, sich mal wirklich nass zu machen. Und wenn man sich ansieht, mit welchem sakrosankten Ruf Cohen aus der Welt geschieden ist, kann man kaum sagen, dass ihm diese Haltung irgendwie geschadet hätte. Im Gegenteil. Der kanadische Nachrichtensender CBC schreibt in Cohens Nachruf: «What woman wouldn’t be flattered to be the focus of such a fiercely artistic, intellectual, romantic man?»(4)

Leonard Cohen wird im gegenwärtigen Zeitgeist als eine Art Heiliger gehandelt. Nicht wegen der unzähligen religiösen Referenzen seiner Songs, wie in «Hallelujah» oder «You Want It Darker». Sondern wegen seiner Pose als ewiger Liebhaber, dem Mythos Leonard Cohen, der von den Brüsten, den Bäuchen, den Schenkel tausender Frauen getragen wird, die er für uns immer und immer wieder «in his mind» betoucht.

Und was soll ich sagen? Wo dieser Mythos eine so enorme Anziehungskraft auf mich hat. So enorm, dass angefangen habe zu denken, ich müsste meinen eigenen Mythos erschaffen? Ich frage mich, ob das alles eigentlich auch ohne geht. Gibt es einen Weg zu schreiben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen? Ohne ein Arschloch zu sein? Ohne sich die Körper anderer für seine Worte gefügig zu machen?

Ich sitze immer noch an meinem Schreibtisch. Draussen vor meinem Fenster braut sich ein Unwetter zusammen. Ich starre auf den Bildschirm, bis er verschwimmt. Erst jetzt registriere ich die blauen Ärmel am unteren Rand meines Blickfeldes und fühle auf einmal wieder den leichten Stoff des Mantels, den ich die ganze Zeit über getragen habe. Wieder dieser Schauder aus Faszination und Ekel, der mich durchfährt. Nur diesmal gegen mich selbst gerichtet. Ist das hier nicht alles bloss eine Reproduktion von dem, was ich gerade so verurteilt habe? Und ist das nicht noch verlogener? Bin ich gerade dem Club der geheimen Arschlöcher beigetreten? Ich klappe den Laptop zu, feuere den Regenmantel zurück in die Schublade und gehe raus auf die Strasse. Es beginnt zu tröpfeln.

 

Illustration: Taddeo Lorenzo Motta

(1) Leonard Cohen: The Juke-Box Heart. Excerpt From a Journal by Leonard Cohen, In (ders.): The Favorite Game, London, 1963

(2) Aus einem Interview von Kari Hesthamar für NRK Radio, Los Angeles, 2005, LeonardCohenFiles (Stand: Juni 2023)

(3) Ira Nadel: Leonard Cohen: A Life in Art, Toronto, 1994

(4) Andrea Warner: «Leonard Cohen, the women he loved, and the women who loved him», in: https://www.cbc.ca/music/read/leonard-cohen-the-women-he-loved-and-the-women-who-loved-him-1.4998473, 11.11.2016, (Stand: Juni 2023)