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Eva Vögtli

Selbstporträt als Jeanne d’Arc. Interview mit Marion Siéfert

EVA VÖGTLI: Jeanne, die Protagonistin in Deinem neuesten Stück, ist eine Sechzehnjährige, die sich auf Instagram als _jeanne_dark_ ungeschönt zur Schau stellt, gegen ihre Eltern und die strenge katholische Erziehung rebelliert und die Welt an ihrem verhassten Leben teilhaben lässt. Geht es Dir dabei um eine Interpretation der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc in der heutigen Zeit? Oder waren Themen wie Cybermobbing und digitale Reizüberflutung wichtiger?

MARION SIÉFERT: Weder noch. Mein Wunsch war es, zusammen mit Helena de Laurens die Figur der Jeanne weiterzuentwickeln, die schon im Stück «Le Grand Sommeil» Protagonistin war, hier noch als elfjähriges Mädchen. Mich interessiert die Frage, wie und was man im Theater von sich selbst erzählen kann – mit dem Fokus auf Gefühle statt auf Dokumentarisches. Ich fragte mich also, was mich mit der Figur der Jeanne d’Arc verbindet und es war bald klar, dass sie mir ermöglichte, einen Teil meiner eigenen Biografie zu thematisieren und über meinen persönlichen Bezug zum Katholizismus, in dem ich erzogen wurde, zu sprechen.

Jeanne d’Arc wurde seit jeher unterschiedlich interpretiert: Als Nationalheldin, Heilige, Feministin oder Psychopathin… Es gibt unzählige Werke aus der Kunst und Kultur, die die Figur Jeanne d’Arc aufgreifen. Wie bist Du damit umgegangen?

Hätte ich einen unbekannten Namen wie Jeanne Duval ausgewählt, hätte das nicht die gleichen Erwartungen geschürt. Mit Jeanne d’Arc verbindet jede:r eine Assoziation, sei es das Bild einer Kämpferin, eines Transvestiten, einer Heiligen, Frankreichs Heldin, einer Verrückten. Ich will in dem Stück aber keine historische Perspektive einnehmen, mich interessiert die heutige Zeit und Gesellschaft.

Du gehst dabei von Deiner eigenen Biografie aus und sprichst gleichzeitig Themen an, die eine breite Zahl von Menschen beschäftigen – Pubertät und Selbstfindung, Ablösung von den Eltern, Sexualität und Scham…

Meine Gefühle und Gedanken aus der Jugend waren bei der Entwicklung des Stücks sehr präsent. Weil ich meine eigenen Erfahrungen nutzte und das thematisierte, wofür ich mich als Teenager geschämt habe oder an mir selbst nicht mochte, war das Ausgangsmaterial sehr umfangreich und persönlich. Indem ich die Fiktion auf der Basis meiner eigenen Biografie entwickelte, ist sie auch viel präziser. Jeanne befindet sich in einem Alter, das ich sehr spannend finde: Man fragt sich, welchen Weg man einschlagen will und entdeckt, dass die Welt anders ist, als von den Eltern beschrieben. Auch die Spannung zwischen Katholizismus und Sexualität spielt eine wichtige Rolle im Beispiel von Jeanne. Ich selbst bin katholisch erzogen worden, auch wenn Frankreich ein säkularisiertes Land ist. Was nicht bedeutet, dass der Katholizismus verschwunden ist. Er ist in mutierter Form immer noch überpräsent in der französischen Kultur.

Zu Beginn des Stücks wird Jeanne von Gleichaltrigen gemobbt, weil sie noch Jungfrau und eine Aussenseiterin ist. Weshalb entscheidet sie sich dazu, auf Instagram zu rebellieren?

Jeanne beschäftigt sich damit, wie sie von Gleichaltrigen wahrgenommen wird und wie sie diese Wirkung verändern kann. Genau diese Frage der Selbstdarstellung wird auch in den Sozialen Medien verhandelt und ins Extreme getrieben. Es bleibt dahingestellt, ob Jeannes Performance auf Instagram ein Akt der Befreiung, der Verrücktheit oder des puren Spiels ist. Ob Jeanne Trost findet auf Instagram, hängt davon ab, wie das Publikum reagiert – mit positiven Kommentaren oder mit Hass, mit Interesse oder Passivität.

Man könnte Instagram mit einer Bühne vergleichen, auf der Jeanne als _jeanne_dark_ die Möglichkeit hätte, in eine andere Rolle zu schlüpfen und für begrenzte Zeit jemand anderes zu sein.

Stattdessen tritt sie genau so auf, wie sie ist. Wer auf einer Theaterbühne spielt, kann sehr echt sein: Reale und intensive Gefühle wie Wut kommen zum Vorschein und können uneingeschränkt ausgedrückt werden, weil die sozialen Hemmschwellen wegfallen. Auf Instagram hingegen ist man in einer Bubble gefangen. Indem man eine Schauspielerin auf der Bühne fast zwei Stunden in ihr Handy sprechen und sich vor dem Bildschirm inszenieren sieht, kriegt man ein Gefühl dafür, wie wir heute leben.

Ist das Stück also auch eine Kritik an den Sozialen Medien?

Das Stück soll die Realität möglichst treffend beschreiben. Soziale Medien bestimmen unseren Alltag. Ich kann das Leben einer Sechzehnjährigen nicht beschreiben, ohne diesen Aspekt mit einzubeziehen. Zudem eröffnen sich dadurch neue Räume: Das Spiel mit der Kamera, die Interaktion mit den Livestream-Zuschauer:innen und deren Integration ins Stück. Auf Social Media kann jede:r Vorbild sein – durch gute Vermarktung. In unserem Stück hingegen nutzen wir die Plattform, um Kunst zu machen. Unsere Heldin beschreibt ihr uncooles Leben und lässt dabei alle Scham fallen. Diese Zweckentfremdung stösst das Publikum auch vor den Kopf und kann von Instagram Nutzer:innen als peinlich interpretiert werden.

Die Zusammenarbeit mit Helena de Laurens war Dir sehr wichtig. Füllt sie den Charakter von Jeanne auch mit ihren Ideen und Erlebnissen?

Ich habe das Skript während den gemeinsamen Proben laufend überarbeitet. Ich merkte, dass es spannender ist, wenn Helena mehrere Figuren gleichzeitig spielt – wie den Priester oder die Mutter, die mit Jeanne in Dialog treten. Helena wollte die Figuren nicht mit der eigenen Biografie anreichern. Aber wenn sie spielt, benutzt sie natürlich ihre eigenen Erinnerungen und Gefühle, die sich vielleicht von dem unterscheiden, was ich kenne oder mir vorgestellt habe. Ich lasse ihr die Freiheit, zu experimentieren, auch wenn zum Beispiel die Mutter in ihrer Version bürgerlicher ist, als in meiner Fantasie. So haben wir das Stück im Austausch und durch Ausprobieren aufgebaut. Helena kann sich im Spiel sehr gut verlieren, wenn sie Spass hat. Auch wenn alles sehr präzis geskriptet ist, ist es schön, wenn sie viele kleine Elemente einfügt, die das Ganze spielerisch und lebendig machen.

Jeanne präsentiert sich auf Instagram als Antiheldin, man könnte sagen abschreckend oder skurril. Wie schaffst Du es, dass sich Zuschauer:innen trotzdem mit ihr identifizieren können?

Das ist es der Unterschied zwischen Instagram, wo es um Werbung geht und dem Theater, Film oder der Literatur: Wenn ich ein Buch lese, tauche ich in eine andere Welt ein, werde Teil einer anderen Person, der ich nachempfinden kann. Das heisst nicht, dass ich diese Person bewundere oder so sein will wie sie. Es gibt auch viele Männer, die sich mit Jeanne identifizieren, etwa aufgrund der katholischen Erziehung und dem Aspekt der unterdrückten Sexualität. Ich verbringe gerne Zeit mit der Hauptperson eines Theaterstücks, eines Buches oder eines Films, selbst wenn sie ein Monster ist – weil ich durch sie etwas über meine eigenen Gefühle erfahre.