Schwieriges Erbe
Fotobücher mit Darstellungen von Landschaften und Menschen aus aller Welt schaute ich mir als Kind während Stunden an, gefesselt von Pflanzen, Tieren, unbekannter Architek tur und Mode: Gotthard Schuh, Martin Hürlimann, Henry Brandt … In späteren Jahren führte die Spur dieser Faszination in Bibliotheken und Antiquariate, wo nun auch die dazu gehörigen Texte gelesen wurden und ich mich gelegentlich zum Kauf von solch zwiespältigen Büchern wie Mittelholzers Abessinienflug hinreissen liess. Dass diese problematisch waren, erkannte ich allerdings erst viel später.
Mit der Kodak auf Bilderjagd
Walter Mittelholzers Hinerlassenschaft von Texten, Foto büchern und Filmen reiht sich ein in eine lange Geschichte visueller Repräsentationen des «Fremden» und «Anderen» in der Schweiz. Als 1888 die Rollfilmkamera auf den Markt kam, wurde das Fotografieren einfacher: Alle, die reisten, hätten ihre Kodak mitgenommen, schreibt die Kunsthistorikerin Annemarie Hürlimann im Aufsatz Bildband und illustriertes Reisebuch in der 1992 erschienenen Publikation Photographie in der Schweiz. 1840 bis Heute. Kaum war die Technik für den Transport von Kameras weit genug fortgeschritten, über nahm die Fotografie nach der Malerei die zentrale Rolle als Bilderlieferantin aus der Fremde – auch in der Schweiz. Hürlimann beschreibt, wie Schweizer Ethnologen, Missio nare und «bildungsbeflissene Bürger» auf ihren Reisen von der neuen Erfindung profitiert hätten. «Geschäftstüchtige Fotografen richteten überall ihre Studios ein, um den Wün schen der Touristen nach malerischen und exotischen Bil dern zu entsprechen.» Und: «Die Fotografen nahmen mit ihren Bildern die Erde in Besitz, kolonialisierten sie.»
Silva-Bände zur Volkserziehung
Die Geschichte des Kolonialismus und die der Fotografie sind in der Epoche der industriellen und imperialistischen Expansion Europas im 19. Jahrhundert eng miteinander ver flochten. Beide spielten darin eine zentrale Rolle, deren Spuren sich heute in denselben Archiven finden.
Im darauffolgenden Jahrhundert dann erfreuten sich Bildbände und illustrierte Reisebücher grosser Beliebt heit, ihre Produktion nahm kaum zu überblickende Ausmasse an. Vor allem Magazine wie die «Zürcher Illustrierte» mach ten Ansichten ferner Länder den zuhause Gebliebenen be kannt. Im Gegensatz zum Fotojournalismus knüpften diese in Illustrierten und Bildbänden versammelten Reisefotografien weder an aktuelle Ereignisse an noch nahmen sie eine gesellschaftskritische Position ein. Ihre Aufgabe war es viel mehr «schön» oder «exotisch» zu sein – sie schufen damit die Stereotypen des auflebenden Fremdenverkehrs.
Die Bildbände vergegenwärtigten Sehnsucht, widerspiegelten den Traum von Reisen. Bereits in den zwanziger Jahren wurden einzelnen Handelsprodukten wie Schokolade oder Seide kleine lithographierte Fotobilder von einladenden Landschaften oder unbekannten Sitten beigelegt, die die sammelnde Bevölkerung in textlose Alben kleben konnte. Seide und Schokolade, Waren des kolonialen Handels, ver sprachen ein Glücksgefühl und liessen sich mit Luxus, Sehn suchtsorten und einem gewissem Orientalismus verbinden. Später wurden die Sammelpunkte gegen Bild-Text-Bände eingelöst, am bekanntesten darunter die Bücher der Silva und MondoVerlage. Diese «zeigten» fremde Sitten, Natur und Abenteuer, waren für ein breites Publikum gedacht im Sinne der «Volkserziehung».
Auch in den Bücherregalen meiner Grosseltern – zuunterst und darum am leichtesten greifbar für Kinderhände – fanden sich zahlreiche Fotobücher, darunter solche des Silva-Verlages: Grönland und Kakteen, Siam oder gar Biblische Welt. Längst die Häuser getauscht, stellen sie sich heute da heim dem kritischen Bewusstsein in den Weg. Unbehagen regt sich: Was haben diese Bücher mit mir, mit uns und unse rem Blick auf die Welt gemacht?
Visual History…
Der Beginn des Vorwortes des 1959 erschienenen Buches Siam mit Fotografien von Michael Wolgensinger mutet an wie ein kolonialistisches Märchen: «Vor etwa sechzig Jahren stand auf dem Üetliberg König Chulalongkorn von Siam – und schaute auf die Stadt Zürich hinunter. Es war das erste Mal, dass er sein eigenes Land verlassen hatte und nach Europa gekommen war, um möglichst viel zu sehen, zu lernen und zum Nutzen seines Landes zu verwerten.» Die Vorstellungen über das aussereuro päische «Andere» und deren Rolle für europäische beziehungsweise schweizerische Identitätskonstruktionen gehören zu derzeit intensiv bearbeiteten Forschungsthemen. Meist im Fokus: das Bild. Vielfach ausgerufen: der «Visual» oder «Iconic Turn», wenn nicht gar die «Visual Revolution»: Ob euphorisch oder kulturpessimistisch gefärbt, das Bild rückte ins Zentrum der Debatten. Unter «Visual Studies» wird ein transdisziplinäres Forschungsfeld zusammengefasst, welches auf die (feministische) Repräsentationskritik zurückgeht und neben Ansätzen aus Kunst und Medienwissenschaften auch Fragestellungen der Cultural, Gender, Queer und Postcolonial Studies bearbeitet – ausgehend von der Position, dass visuelle Wahr nehmung kulturell, geschlechtlich und klassenspezifisch geprägt ist. Und dass visuelle Bilder ebenso wie die Sprache an der Herstellung gesellschaftlicher Macht und Herrschafts prozesse beteiligt sind.
Auch in den Geschichtswissenschaften schlug sich dieser Paradigmenwechsel nieder. Im deutschsprachigen Raum prägte der Historiker Gerhard Paul den Begriff der «Visual History». Er plädiert dafür, Bilder in der Geschichtswissenschaft ernst zu nehmen. Bis vor rund 20 Jahren wurden diese im europäischakademischen Raum vorwiegend als Illustration (meist in Form einer Fotografie) für einzelne Ereignisse verwendet. Selten hat man sich darüber hinaus da mit beschäftigt, welche Informationen dem Bild eingeschrieben sind, die der schriftlichen Quelle fehlen. Visual History bezieht den Kontext mit ein: Von wem wurden die Bilder gezeigt? Welchen Mehrwert generieren sie? Dabei spielen Entstehungsgeschichte, Finanzierung, Verbreitung und der Rezeptionskontext eine wichtige Rolle. Bilder werden heute als eigentliche geschichtliche Akteure, die nicht bloss Vorhandenes repräsentieren, sondern selber eine Wirkung erzielen können, ernst genommen.
… oder die störende Armbanduhr
Mit diesem Ansatz befragt das Forschungsprojekt Aussereuropäische Kulturen in Reisefotografien und Dokumentarfilmen des deutschsprachigen Raums, 1924–1986 der Universität Luzern unter der Leitung des Historikers Aram Mattioli das visuelle Schaffen von Schweizer Fotografinnen und Dokumentarfilmern, die als wirkungsmächtige Bildproduzierende Weltgegenden bereisten, die den meisten Zeitgenossen noch nicht zugänglich waren. Im Rahmen zweier Dissertationen arbeiten Angela Müller und Felix Rauh im Projekt mit: Angela Mül lers Arbeit Südasien im Sucher. Fotografie im deutschsprachigen Raum 1920–1970 kristallisiert anhand von Fotografien von Martin Hürlimann, Werner Bischof und anderen die zeittypisch dominanten Vorstellungen von Südasien heraus. Sie zeigt unter anderem auf, wie Indien in diesen Abbildungen als eigentliches «Wunderland» mit einer dem Lauf der Zeit enthobenen Kultur repräsentiert wurde.
Aktuelle politische und gesellschaftliche Entwick lungen fanden in dieser Darstellungsweise keinen Platz. Viel mehr habe es sich um eine Art «pittoreske Imaginationsfabrik» gehandelt – wie diese funktionierte, zeigt Angela Müller anhand einer Fotografie eines tibetanischen Mönchs: Der Zürcher Reisefotograf und Bildautor Martin Hürlimann hatte per Retusche eine Armbanduhr vom Handgelenk eines Mönchs entfernt. «Das Tragen einer modernen Uhr schien ihm nicht mit zeitgenössischen europäischen Vorstellungen des entsagungsvollen Daseins eines buddhistischen Mönchs kompatibel zu sein.»
Wie Mittelholzer in der Zwischenkriegszeit, prägte der Reiseschriftsteller, Fotograf und Filmer René Gardi ab den 1950er Jahren das Afrikabild der Schweizer und Schwei zerinnen. Im zweiten Dissertationsprojekt, Imaginationsraum Dritte Welt. Audiovisuelle Repräsentationen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas im schweizerischen Entwicklungskontext (1960–1986), untersucht Felix Rauh die Konstruktion der «Dritten Welt» anhand von Werken der Dokumentarfilmer René Gardi, Ulrich Schweizer und Peter von Gunten. Gardi, der Afrika Reisende aus Bern, begab sich seit Ende der vierziger Jahre immer wieder vor allem in die Sahara, nach Nordkamerun und andere Gegenden Westafrikas, wo er Aufnahmen machte und mit diesen den Menschen hierzulande «das Fremde» vertraut zu machen versuchte.
Mit seinen illustrierten Erlebnisberichten und Bildbänden hat er die Vorstellung von dem, was Afrika war, massgeblich beeinflusst, wie sowohl in Felix Rauhs Beitrag in Afrika im Blick. Afrikabilder im deutschsprachigen Europa, 1870– 1970 wie auch im Aufsatz von Gaby Fierz in der Publikation Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien nachzulesen ist. Laut Felix Rauh lassen sich damit Parallelen zu Mittelholzer ziehen: «Mit ihren Fotografien, Filmen, Texten verfolgten sie eine ähnliche Strategie der Vermarktung ihrer Produkte.»
Obschon bei Mittelholzer mit der Vermarktung der Luftfahrt der technische Aspekt scheinbar im Vordergrund stand und sich Gardi in den Bildern selber weniger stark in Szene setze, verbindet die beiden die Verknüpfung ihrer Repräsentationsmöglichkeiten mit der Person. «Mittelholzers und Gardis Publikationen wurden zu eigentlichen Marken, für deren Qualität ihr Name bürgte», betont Rauh.
Wohin mit der eigenen Faszination?
Der Kolonialismus ist in unserem Bildgedächtnis fest verankert. Obschon heute eine zögerliche Aufarbeitung stattfindet, erweist sich gerade das wiederholte Zeigen dieser historischen Repräsentationen als problematisch. Der Fotograf David Bate stellt in diesem Kontext die Frage, ob die Geschichte der Fotografie als Disziplin die koloniale Vergangenheit nicht auf eine Weise behandelt hat, die den kolonialen Blick verfestigt. Wenn sie Abstand zur alten Einstellung gegenüber der historischen Realität gewinnen wolle, müsste sie sich mit der Repräsentation kolonialer Polaritäten, also Bildern von Begegnungen zwischen West/Ost, Kolonisator/Kolonisierter, Okzident/Orient eine neue Geschichte der Fotografie auseinandersetzen.
Wie also Abstand gewinnen? Ist dies nicht auch im Privaten, abseits akademischer Diskurse und vordergründig kolonialistischer Gesten gefragt? Was ist mit der Journalistin und Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach, deren Bilder und Texte mich verzauberten, die Vorbild und Anreiz war? Meinen Reisen nach Zentralasien, der verklärenden Suche nach dem «Wilden» und den einsamen Steppen? Marco Polo, dessen Spuren immer wieder meinen Weg kreuzten? Was ist mit den Fotografien aus dem Pamir-Hochgebirge, auf denen tadschikische Kinder zu sehen sind, ins Objektiv meiner Spiegelreflexkamerablickend?
Heute reflektiere und kritisiere ich fremde und eigene alte Reisebilder, während in sozialen und Massenmedien endlos Touristenbilder aus Afrika, Südamerika, Asien meinen Bildschirm fluten. Als kläglichen Versuch, Gegensteuer zu geben, lese ich kritische afrikanische Magazine oder Folge dem Tumblr-Portal everydayafrica, wo fern der «Dritte Welt»Erzählung von Hunger, Krieg und Krankheit alltägliche Bilder produziert und verbreitet werden. Wie aber damit um gehen, dass die Bilder und Bücher, die mich einst träumen und aus der Schweiz in die Ferne ziehen liessen, mich auch zum Teil einer rassistischen Gesellschaft machten?
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Dieser Text wurde im Ostschweizer Kulturmagazin Saiten erstveröffentlicht.
Katharina Flieger (*1982) ist Kulturpublizistik-Absolventin und als Kulturjournalistin für verschiedene Medien tätig.