Schön wie Maria
Die Figur der japanischen Geisha in Puccinis Oper «Madama Butterfly» ist eine europäische Imagination. In ihrer Arbeit versetzt die Autorin und Regisseurin Satoko Ichihara die Figur ins heutige Japan, um die komplexe Dynamik westlicher Stereotypisierungen und Schönheitsideale zu erforschen.
Natürlich muss sie sich am Schluss umbringen. Die Vorlage, Puccinis Oper «Madama Butterfly», aus der die japanische Autorin und Regisseurin Satoko Ichihara ein Theaterstück für drei Personen gemacht hat, will es so. Also kniet sich Kyoko Takenaka, die in Satoko Ichiharas Stück die Butterfly verkörpert, auf den Boden und streckt die rechte Hand in die Höhe, in der sie einen Stab hält. Dann verzieht sie das Gesicht und stösst einen Laut aus, es ist mehr ein Heulen und Ächzen auf herausgepressten und langgezogenen Vokalen, wie aus einem japanischen Anime, und rammt sich den Stab in Richtung Körpermitte, krümmt sich nach vorn, kippt seitlich weg. Von der Decke regnen rote Stoffkonfetti auf sie herunter.
Und wie der Körper von Kyoko Takenaka kippt an dieser Stelle auch das ganze Theaterstück einfach weg, kippt ins Groteske. Aus der Handlung von Puccinis Oper heraus betrachtet macht der Selbstmord von Madama Butterfly, die eigentlich Cio Cio San heisst, sprachlos. Er ist furchtbar, aber dramaturgisch schlüssig. Nicht in Satoko Ichiharas Stück. Und natürlich ist das volle Absicht, und es ist grossartig. Denn wer figuriert hier eigentlich, auf der Bühne des Theater Neumarkt, auf der heute Abend eine erste Durchlaufprobe stattfindet? Ist es die Cio Cio San aus dem Stück von Satoko Ichihara, in all ihren Facetten, ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit? Oder ist es nicht doch die Butterfly von Puccini, die Figur, in der sich wie wohl in keiner zweiten westliche Zerrbilder und Stereotypisierungen der Japanerin spiegeln? Hat sie Ichiharas Stück über die Hintertür wieder betreten? War sie jemals weg?
Wenn es um die Vorstellungen geht, die sich der Westen von Japan macht, erzählt Satoko Ichihara nach der Probe im Foyer, kommt Madama Butterfly immer ins Spiel. Die Oper ist in Japan sehr berühmt. Aber etwas stimmt nicht mit diesem Stück, sagt sie. «Something is off.»
Puccini hat sich die Geschichte von Madama Butterfly nicht selbst ausgedacht, er hat sie – interessante Pointe – auf der Bühne gesehen. Der Stoff von der schönen Japanerin, in die sich ein US-amerikanischer Soldat verliebt, geisterte damals, an der Wende zum 20. Jahrhundert, bereits seit einiger Zeit durch die zeitgenössische europäische Literatur. Er wurde schliesslich auch für die Bühne adaptiert. Eine dieser Aufführungen, in London im Jahr 1900, sah Puccini. Er begriff sofort das Potential dieses Melodramas für die Opernbühne: Eine Geschichte aus dem Land, von dem das europäische Bürgertum wie besessen war, seitdem es Japan etwa zwei Jahrzehnte zuvor für sich «entdeckt» hatte. Ein Held aus den USA, dessen strahlend weisse Marineuniform in auffälligem Gegensatz zu seinem moralisch zweifelhaften Verhalten steht. Der mit einer japanischen Frau in Nagasaki die Ehe schliesst, sie dann verlässt und in seine Heimat zurückkehrt – um drei Jahre später plötzlich wieder aufzutauchen, jetzt in Begleitung seiner neuen, US-amerikanischen Ehefrau. Die japanische Frau, eine Geisha natürlich, die ihm drei Jahre lang die Treue hält, obwohl sie dafür ausgegrenzt wird. Und die sich, als ihr auch das gemeinsame Kind weggenommen werden soll, selbst tötet.
Die mit Japan-Klischees gefüllte, mit erotischen Phantasmen angereicherte Geschichte hat Puccini vertont: Mit kleinen Trillern, Tamburin, Triangel, Glockenspiel, Glissandi in der Harfe, lyrischen Melodien auf nur wenigen Tönen, in die repetitive Rhythmen einfallen. Mit der ganzen Trickkiste, aus der sich die europäische Musik bedient, wenn etwas «Exotisches», etwas «Fremdes», etwas Nicht-Europäisches hörbar werden soll. Es ist Musik, die niemals «ernst» gemeint ist, die nicht «wahrhaftig» sein soll, sondern immer nur ein Zitat.
Puccinis Stück zeigt, wie in Europa ein zweites Japan konstruiert wurde, ein Japan, das aus Imaginationen und Phantasmen der Europäer:innen bestand.
Im heutigen Japan, sagt Satoko Ichihara, sind die kulturellen Einflüsse aus Europa, den USA und dem Westen vielleicht stärker denn je. Viele Menschen, sagt sie, haben Probleme, sich so zu akzeptieren, wie sie sind. Wie sie aussehen. Und sie erzählt von den Gaijin-Bars in Roppongi, einem Ausgehviertel in Tokio. Gaijin, das sind Menschen aus dem Ausland, vor allem aus dem Westen, es ist eine negativ konnotierte Bezeichnung. In den Bars treffen japanische Frauen und westliche Männer aufeinander. Die Männer, so sagt man in Tokio, müssen in diesen Bars nicht klug, nicht schön, nicht reich, nicht gross, sportlich oder in sonstiger Weise herausragend sein. Es reicht, wenn sie ein westliches Gesicht haben.
Doch wer jagt in den Gaijin-Bars eigentlich wen? Who is the hunter, and who the prey?, fragen sich Butterfly und der Gaijin gegenseitig, in der berührenden, erschreckenden, und auch sehr komischen Szene, in der sie zusammen im Love-Hotel landen.
Die Realität, das macht Satoko Ichihara, das machen die drei grossartigen Darsteller:innen Kyoko Takenaka, Yan Balistoy und Sascha Ö. Soydan deutlich, funktioniert nicht nach der Dramaturgie des Melodrams. Die Figur, die Kyoko Takenaka verkörpert, wächst im Japan der Gegenwart auf. In einer Gesellschaft, in der Frauen westlich beeinflussten Schönheitsidealen entsprechen sollen, ist sie konfrontiert mit der Frage nach der eigenen Identität, mit Wünschen und Sehnsüchten, mit Erwartungen, von denen nicht klar ist, ob es die eigenen oder die von anderen sind. Einmal wünscht sich das kleine Kind in ihr, so auszusehen wie die Statue der Muttergottes in der Kirche. So schön, hell und unerreichbar oben. Für den Gaijin trägt sie später einen Kimono und eine Perücke mit langen dunklen Haaren.
Vielleicht verfängt sich Satoko Ichiharas Butterfly hier in Erwartungen, den eigenen und denen der anderen. Vielleicht verirrt sie sich in einem Narrativ, das ihr den Gaijin als Hauptpreis präsentiert, und nichts von der Armut und Ausgrenzung weiss, die einer alleinerziehenden Mutter mit halbjapanischem Kind drohen. Vielleicht konstruiert Satoko Ichihara hier ganz bewusst Parallelen zu Puccinis Figur der Butterfly, die ins Groteske überzeichnet und damit sofort wieder dekonstruiert werden. Vielleicht geht es auch darum, das Publikum mit der eigenen Erwartung an diese Figur, an dieses Stück zu konfrontieren. Auch sie selbst spüre Erwartungen, wenn sie auf europäischen Festivals zu Gast sei, sagt sie. Wie sieht die Arbeit einer jungen Regisseurin aus Japan, geboren 1988, wohl aus? Welche Perspektiven bringt sie ein? Wie blickt sie zurück auf uns Europäer:innen?
Zum Schluss, als Cio Cio San reglos inmitten roter Stoffkonfetti liegt, singt die US-amerikanische Opernsängerin Renée Fleming ein Ave Maria.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Eva Mackensen (*1986) studierte Philosophie und Kulturkritik in München. Sie ist Dozentin im Master Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste.