Schlafen auf
dem Meer
Aus der Dusche im Hotel de la Gare kommt nur kaltes Wasser. Um meiner geizigen Gastgeberin zu entkommen, breche ich früh auf und laufe im Nieselregen los Richtung Hafen. Restaurants, Einkaufszentren, McDonald‘s, alles ist geschlossen bis auf eine kleine Brasserie mit dem Namen Le Petit Parapluie. Die Bardame lässt mich mein Handy aufladen. An der Theke lesen Männer die Sportnachrichten, kaufen Lotto-Lose, trinken Kaffee aus kleinen Tässchen und manche auch schon mal ein Bier. Im TV über der Bar singen und tanzen junge Menschen wie Puppen durch eine bunte Show. Ich verlasse die Bar und gehe weiter durch den Regen bis zum Terminal.
Auf dem Weg von Cherbourg hierher habe ich von der Häufung extremer Wetterereignisse wegen des Klimawandels gelesen, von Hochwasserkatastrophen oder zu niedrigen Pegelständen. Ich ärgere mich über den Sog schlechter Nachrichten, weil ich den Regen liebe, denn er fliesst durch alle Lebensadern, ist Quelle, Fluss, Fruchtwasser und Muttermilch zugleich.
Check-in am Hafen. Es gibt eine Sturmwarnung. Ich nehme Platz in der Lounge für Passagiere zu Fuss. Um 14 Uhr legt die Fähre ab, eine Stunde früher als geplant, damit wir sicher aus dem Hafen kommen. Wir fahren Richtung Nordwesten. Die See sei sehr unruhig, sagt die Stewardess freundlich, aber keine Sorge, früher hätten die Boote viel stärker geschwankt, heute gäbe es Stabilisatoren. Ich versuche mir vorzustellen, wie das funktioniert mit den Stabilisatoren, gehe hinaus aufs Seitendeck und schaue lange auf die unendliche Wasserfläche. Das Meer wogt in der Tiefe, noch überschlagen sich keine Wellen. Das Boot scheint sich kaum vorwärts zu bewegen; es fühlt sich an wie ein Traum, in dem ich renne und doch nicht von der Stelle komme.
Nachmittags um vier Uhr versinken Himmel und Meer im dunkelblauen Licht der Dämmerung. Als ich wieder in die Lounge trete, sind die Tische bereits vollgepackt mit Chipstüten und Esswaren und die Passagiere sitzen in Polstergruppen vor den Bildschirmen, hypnotisiert vom WM-Endspiel Frankreich gegen Argentinien. Während wir auf dem Atlantik Fussball im Wüstenstaat Katar schauen, fliessen tausend Liter Wasser durch unser Gehirn und tausende Bilder durch unsere Wasseraugen. Durch eine Plexiglaswand von uns getrennt sitzen die Lastwagenchauffeure in einer separaten Lounge zusammen und schwatzen. Sie tragen bequeme Kleider, Trainerhosen und klobige Clogs, die Älteren haben dicke Bäuche und kurze Hälse, ab und zu gehen sie mit schweren Schritten aufs Seitendeck zum Rauchen. Sie geniessen die Gesellschaft mit ihresgleichen und erkundigen sich gelegentlich über den Stand der Fussball-WM. Nach der Landung werden sie ihre Fracht stundenlang allein durch Irland fahren und sie dann irgendwo abliefern.
Um neun Uhr abends liegt das Meer tiefschwarz unter dem bewölkten Nachthimmel. Die Fähre ist jetzt auf offener See, der Seegang hat stark zugenommen. Passagiere torkeln durch die Gänge, das Personal folgt ihnen mit Wischmopp und Kessel bewaffnet durch die Korridore. Motoren dröhnen, die Balken knarren und riesige Wellen schlagen mit voller Wucht an die Bordseiten. Um unnötige Gänge zu vermeiden, lege ich mich auf eine Liege und lasse mich wiegen, bin Wasser und Boot zugleich, spüre die Kraft der Wassermasse, wenn sich eine Welle unter dem Koloss aufbäumt, sich die Fähre mitsamt Passagieren, Autos und LKWs bedrohlich steil auf eine Seite, dann auf die andere Seite lehnt und sich trotzdem stur vorwärts pflügt. Ich schlafe hundertmal ein und wache auf, sehe das Platzen des Aquariums im Berliner Hotel und wie Seetiere durch die Hotellounge fliegen, sehe Plastikabfälle im Meer schwimmen, den von Wellen ausgespuckten Müll an den Stränden, dazwischen liegen eine schaumgeborene Aphrodite und die Leiche eines Jungen, der von einem Flüchtlingsboot gefallen ist. Ich sehe, wie ein Fluss aus Blut und Wasser durch unsere Körper ins Meer fliesst, in Seen, in unterirdische Ströme und in die Adern der Berge.
Auf dieser Reise sammelt das Wasser Schmutz, Mikroplastik, Gifte, Ausscheidungen, Hormone. Früher oder später löst es sich von den Verunreinigungen und verdunstet, schwebt hinauf in den Himmel und wird als weisse, reine Wolke vom Wind davongetragen. Genau so, stelle ich mir vor, verlassen wir unseren Körper: Wir verdunsten und kommen in den Himmel. Wasser ist heilig und Regen ein Segen.
Gegen fünf Uhr morgens hat sich das Meer beruhigt. Vereinzelt schlafen Passagiere auf den Sofas. Ich bekomme einen Gratiskaffee und ein PET-Fläschli Wasser aus der Personalküche. Der Mensch hat es geschafft, auch aus dem Kreislauf des Wassers Geld zu generieren. Am Nachmittag kündigen die Möwen über uns die Nähe zum Festland an und eine Stunde später fahren wir lange durch den Hafenkanal, vorbei an Werfthallen, Kranen und bunten Containern, bis die Fähre behutsam am Pier in Dublin anlegt.
Über das Meer hat sich eine sanfte Nebelschicht gelegt, wie ein schwebendes Tuch aus feinsten Wassertröpfchen. Die Sonne schickt ihre Strahlen durch die Wolken und der Himmel küsst die Wellen. Auf der Insel hat es in der Nacht geregnet, an den Blättern hängen glitzernde Wassertropfen, es ist ein ruhiger, frischer Tag.
Illustration: Taddeo Lorenzo Motta