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Nicolas Bouvier

Saat des Sonderbaren

Bevor man ins Dorf kommt, erblickt man schon von weitem einen gigantischen Baum, der es fast um und um überschattet. Es ist ein hochherrlicher Banyan, dessen Wipfel noch die höchsten Kokospalmen um fünfzig Ellen überragt. Darüber eine schwarze Säule, die träge hin- und herschwingt, sich unter wirrem Rauschen verdichtet und wieder auflöst, was ich von fern für den Flug von Raben hielt. Es sind die Vampire, die truppweise den Baum verlassen, wo sie den Tag über geschlafen haben, kopfüber hängend, die dreieckigen Ohren zu Boden gerichtet. Als ich ankam, gab es nur noch ein paar dieser finsteren Früchte in den unteren Zweigen, zart entfalteten sie ihre Flügel und zeigten so ihre seidigen Bäuche von sturztrunkenen Huren, ehe sie Schwung holten und sich in Spiralen hochschraubten, um im vesperlichen Sabbat mitzutun. Unter diesem schwarzen Schirm dämmerte das Dorf in gedämpftem Licht. Zwei Strässchen, ein Platz zum Ufer hin, wo die Auslegerboote bereits für die Nacht an Land gezogen lagen, und ein paar verwaiste Bauchläden mit Messingwaagen, unerklärlicherweise schepperten sie in der reglosen Luft leise. Zwischen den Krämerbuden und um den Hackblock eines Fleischers geschart, der von Fliegen umsummt wurde, rauchte ein halbes Dutzend ergrauter Rauschbolde still vor sich hin. Ich grüsste sie im Vorbeigehen, erntete aber kein Wort und keinen Blick, dann legte ich mich an den Strand und schaute, das Kinn in den Händen, zum Platz hinüber. Sah gerade noch einen dieser Bettelmönche, der sich mit der üblichen Schamlosigkeit und Frechheit dem Grüppchen nähert, mit seinem Glöcklein klingelt, alles in Augenschein nimmt und abzieht wie ein elender Hund, der einen weiten Bogen um andere Hunde macht, die noch elender sind als er selbst. Der Weg hatte mich ausgelaugt und ich schlief eine Weile. Als ich erwachte, glänzte das Meer wie Zinn; die Vampire unterbrachen ihr Kreisen und zerstreuten sich in alle Richtungen des Raumes. Die Dämmerung prunkte mit heimtückischer und hochmütiger Pracht. Die sechs Kumpane stocherten nachlässig im Feuer, das sie gerade entfacht hatten. Die Flamme liess das Weiss ihrer Augen in den finsteren Gesichtern funkeln. Ich hörte ihre erstickten Stimmen und sagte mir, dass ich da nicht länger herumlungern sollte. Als ich mich erhob, fühlte ich, wie mich eine Hand von der Grösse eines Ruderholzes in den Rücken stiess, tat taumelnd zwei Schritte und streckte mich auf dem Strand der Länge lang hin. Ich drehte mich um, Sand zwischen den knirschenden Zähnen. Natürlich hatte ich nichts und niemanden gesehen, nichts als einen grossen, dunkelblau getupften Rochen, der noch im Netz hing und unter unsäglichem Gestank verröchelte. Auf Distanz einen Störenfried oder Eindringling zu Fall zu bringen, das ist einer der hundskommunsten Tricks, die die Magier des Subkontinents seit jeher kennen. Namentlich an Markttagen, wenn das Opfer zusammenbricht, unter dem Gewicht seiner Einkäufe, gewiss, und doch, es ist ein warnender Hieb. Wenn Ihre Anwesenheit unerwünscht ist, gibt es hier mehrerlei Möglichkeit, um es Sie merken zu lassen. Die da, aber auch weit radikalere, die ich lieber nicht am eigenen Leib erfahren möchte. Die Nacht war hereingebrochen. Ich jagte dem Strand entlang und nahm die Route nach Galle unter die Füsse, wobei ich mich beim Geräusch meiner eigenen Schritte nicht viel öfter umdrehte als üblich.

Der Bericht von meinem Ausflug nach M… steigerte in der Herberge bei den anderen Gästen meine Achtung. […] Es war an diesem Abend, als sie mich fragten, was für Jadoos (schwarze oder weisse Magie) wir denn in meiner Heimat kennen würden. Da wurde ich zum Stockfisch, stammelte… »Bei uns, da knarren die Schuhe, die man nicht bezahlt hat… Und die Hexen fliegen rittlings auf Besen.« Das schien ihnen etwas mager und auch nicht sonderlich vernünftig. Weshalb sollte man einen Besen bespringen, wenn man nur ein Mantra murmeln muss, um durch die Nacht zu jagen wie im Funkenflug. Genau dieser mechanistische und utilitaristische Geist blendet und plündert das Abendland seit Archimedes und Leonardo. Sie meinen, dass wir durch Erfindungen wie Schubkarre oder Ankerwinde unsere psychische Kraft eingebüsst und seit der Dampfmaschine vollends verloren haben. Und was den scheuen Protest der Schuhe betrifft… Hier, hier wären die Füsse des Diebes in den Sandalen verfault, noch ehe er die Fersen gewendet hätte.

 Nicolas Bouvier: Saat des Sonderbaren. In: Der Skorpionfisch. Basel 2011, S. 91ff.

Zum Projekt:
Holy Shit – Katalog einer verschollenen Ausstellung erschien im Oktober 2016 im diaphanes-Verlag. Erzählt wird die semifiktionale Geschichte einer Ausstellung, die zweimal scheiterte: 1929 als das gemeinsame Ausstellungsprojekt der Zeitschrift Documents und der Bibliothek Warburg, 2016 als der Versuch einer Rekonstruktion durch die Kuratorin Svenia Steinbeck. Erzählt wird auch, in Essays und vielen ‚Exponaten‘, eine Geschichte des Primitivismus in der Kultur- und Diskursgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Editorisch verantwortet wird die Publikation von Basil Rogger, Stefan Zweifel, Michel Mettler, Peter Weber, Ruedi Widmer; gestalterisch von Mihaly Varga und Corinne Gisel; erarbeitet wurde sie von und mit Martina Felber, Sophie Grossmann, Angela Meier, Nina Laky, Lora Sommer, Dominique Raemy, Philipp Spillmann, Kate Whitebread und einer Anzahl weiterer Studierenden des Master Kulturpublizistik der ZHdK.