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Ruedi Widmer

Leben im Aare-Park

1. Tellerrand

Der Bahnhof der Stadt, in der er wohnte, trug eine rostig-noble Patina. Die Bahnhofstrasse – an strahlenden Sommertagen paradierten auf ihr Kavalleristen, Blasmusiken und blumenbekränzte Kinder unter dem Blauschwarz der Kantonsflagge – verlief parallel zu den Geleisen. Blauschwarz auch die Krawatte, die er an Samstagnachmittagen, als temporärer Waldbewohner, Flossbauer in den Auen der Aare oder auf der Suche nach Stein gewordenen Tieren des Jura-Zeitalters trug, sein Pfadfindername Maus, der Name seines Stammes Schenkenberg, der Abteilungsname Adler. Die Strassen und Plätze der Stadt trugen europäisch klingende Namen von Denkern der Geburtsstunde der sogenannten Helvetik, die ein Imperator hier mit Geistesgegenwart und Militärgewalt eingepflanzt hatte, und von hohen Militärs, die das Land seither verteidigt hatten. Dem Kind einer zugewanderten, christlich inspirierten Familie war im Wald des Menschlichen fremd und auch exotisch, was Wurzeln, Ranken oder Dornen hatte oder zu haben vorgab. Da stand er, Bezirksschüler, an einem Tag im Vorfrühling, Gott weiss warum, am Westende des endlos langen Perrons dieses Bahnhofs, mit seinem Lehrer, Gastarbeiter, Serbe. Der Lehrer hatte schwarze, manchmal verschmitzt und dann fast liebevoll blickende, manchmal temperamentvoll aufblitzende Augen. Im Schulzimmer war es seine besondere Leidenschaft, Weltwissen in das Halbdunkel der Schülerköpfe zu bringen. Er wusste von untergegangenen Imperien, mythischen Bibliotheken, von Plato und Aristoteles, von fernöstlichen und indianischen Ritualen. Wenn er davon sprach, konnte er wie ein Häuptling oder Medizinmann aussehen. Und so konnte er mit grosser Leichtigkeit alles aushebeln, was die Kleinstadt und das Eisenbahnland an sich selber massgeblich fand. Hybris: Hier, auf diesem rostpatinierten Perron, im Gespräch mit seinem Lehrer, machte der Schüler Anstalten, sich mit dessen sublimem Aussenseitertum zu solidarisieren. Das traf des Lehrers Stolz, und er verwies den Schüler mit einer Handbewegung, die des erwähnten Helvetik-Imperators würdig gewesen wäre, an seinen Ort: „Wenn du weisst, was Überleben heisst, der Kampf für die eigenen Ideen, wenn du eine Herkunft hast, eine Heimat und einen Horizont, dann kannst du von der Welt her blicken. Genau das aber kannst du nicht.“ Ein Schnellzug donnerte vorbei, hinein in den Tunnel, auf dessen anderer Seite die ausufernden Aare-Matten lagen, die letzten Bauern pflügten, die neusten Blasmusikrekruten übten. – „Genau das kann man nicht, wenn man von hier kommt.“

 

 

2. Klimaschranke

Die Seelöwen, Wandertiere, Forschungsobjekte wie wir, tragen manchmal Sonden wie wir. Ihr Gefangenschaftsbiotop kann unseren Freiheit- und Freizeitpärken – nimmt man die avanciertesten, also gut durchlüfteten, welt- und himmeloffenen, artgerecht gestalteten Konzepte – stark gleichen, ihnen in diesem Sinn das Wasser reichen. Hier in Schinznach Bad, einst der Ort, wo die neuen Eliten, anreisend mit dem Schiff, als Lesegesellschaft zusammenkamen, gibt es im neu gebauten Thermalbad den Bereich, in dem sich, beispielweise an einem Freitagmittag, erwachsenere Exemplare der Gattung Mensch, fast immer paarweise (wobei bestimmte Paare schneller, andere erst mit der Zeit als solche erkennbar werden), an den Rändern eines grossen und eines kleinen, runden, wärmeren, Beckens angeordnet haben. Ihr Blick geht ins Unbestimmte, sie sind hier voll auf den wasser-massierten Körper konzentriert. Rundherum viel Stein, Granit, aufgeschichtet in Blöcken, die stirnseitig geschliffen und poliert, längsseitig naturbelassen sind. Zirkulation des Blutes in den Menschenkörpern, Zirkulation und Selbstreinigung der Elemente im Wasser-Luft-System: Luft wird durch abgesägte Kunststoffröhrenstücklein, die schaum-abgedichtet in ausgesägten Löchern am Rand des Beckens sitzen, eingesogen. Das Ganze bewegt von Pumpen, deren Kraft man nicht hören, aber ahnen kann. Innerhalb des Gebäudes, wenn man sich durch insgesamt drei Schranken in den Eingangsbereich zurückbegibt und sich dabei in einen normalen Passanten zurückverwandelt, finden sich farblich assortierte Kacheln, elegant geformte Armaturen. Auch, an geeigneter Stelle: Erdlehmverputz. – Dreissig Jahre vorher war er einen Sommer lang auf dem hinter den Granitblöcken verlaufenden Gleis zweimal wöchentlich ins zwanzig Kilometer ostwärts gelegene Baden gefahren, als Nachtportier im Hotel Verenahof, einem damals halb verrotteten, höchst traditionsreichen, alte europäische Wander-Rituale (Heeresstrassen, Grand Tour) sowie viel Schwefelgeruch atmenden Etablissement. Diese Thermalquellen waren Teil eines gewissermassen nach unten offenen Hauses und Gebäudes; die Becken, da es Nacht war, leer. Seine Portier-Tour war eine Petit Tour, aber für eine solche ausgesprochen verwinkelt, und es erschien ihm am Anfang lohnend, in der Manier eines Höhlenforschers Wegmarken und Abzweigungen zu memorisieren. Nicht dass es sich um eine intendiert labyrinthische Struktur gehandelt hätte. Eher schien es, dass über die Jahrzehnte (eigentlich: Jahrhunderte), nach Mikrorenovationen und immer neuen Anpassungen, die Klarheit einer Orientierung, welche Architekten den Gästen von Hotels gerne vermitteln, komplett verlorengegangen war. Wenn er dann nach der Tour, die pro Nacht dreimal zu absolvieren war, zurück in der kleinen Portierkammer auf dem schmalen Bett lag, konnte er über sich an der Wand die Zeit-Schichten sehen: Drähte und Kabel, die meisten in gewobener Umhüllung, mit Briden aus verschiedene Epochen auf der Tapete fixiert, einander über- und unterkreuzend, endend in einer Vielzahl von früh-elektrischen Schellen und Klingeln. Welche davon funktionierten, wäre vielleicht klarer geworden, wenn einmal ein Buzzer-Kleinalarm losgegangen wäre, doch das war nie der Fall. Auch gab es kaum Kontakt mit dem sonstigen Personal, noch weniger mit den Hotelgästen. Lohn des unruhigen Liegens unter der stummen Klingel-Wand war immer das schmackhafte Frühstück mit Silberbesteck und delfterblauem Geschirr, anhand dessen er problemlos den Weg an die mentale Oberfläche seines Lebens fand, bevor er mit dem Frühzug in die Kantonshauptstadt zurückfuhr.

 

 

3. Talgrund

Das ist unser Tal, sagen die Pferde, die im neu erbauten Pferdeheim wohnen, eines jeden Stalltür schaut auf die Hauptstrasse und den Talbach, und aus den darin eingelassenen Fenstern, es sind im ganzen sicher zwanzig, lachen sie heraus. Hier leben wir, sagen auch die auf Vorplätzen stehenden Pickups. Das ist unser Turf, rufen die beiden mit voller Fracht die Hofmatt Richtung Staffelegg hinaufreitenden Traktorjockeys, der vordere auf einem John Deere, der hintere auf einem Bucher. Auf der anderen Talseite ein brandneu-roter Chevrolet Camaro, dessen Gebrüll den ganzen Talraum füllt. Wir sind Siedler, sagen, indem sie ihre Haus- und Garten-Manifestationen sprechen lassen, die unsichtbaren Talbewohner. Unter ihnen sind nicht wenige Migranten, allerdings von der Art, mit der sich gut kutschieren lässt. Lasst uns in Frieden, sagen auch und gerade die. Und dass man, mit weisser Schrift auf braunem Grund, die Hauptstrasse zur Genuss-Strasse machen, riesige Weinfässer mit Willkommensgrüssen schmücken und eine Metzgerei mit URL anschreiben konnte, darf hier nicht als Anbiederung, Verkauf der Seele und der Heimat verstanden werden. Dem entsprechend sagt die Ruine Schenkenberg, der über allem thronende Rest des gleichnamigen Schlosses: Die Zeiten, als man uns noch unterjochte, sind vorbei. Auch das im Talgrund stehende Herrschaftsgebäude, genannt Kastelen, ist in der Gegenwart angekommen. Seit vielen Jahrzehnten leben hier Subjekte, die man früher schwer erziehbar nannte, und die man im zugehörigen Landwirtschaftsbetrieb arbeiten lässt. Frische Früchte dieser Arbeit, dazu auch ein Hofkino, werden auf am Strassenrand prangenden Schildern angepriesen. – Was soll er denken? Als Stadtkind hat er einst einen Sommer lang im Kiosk des am Taleingang gelegenen Schwimmbads gearbeitet und sich versuchsweise zu dem Volk gesellt, das damals, begeistert von der Idee des kollektiven Eigentums, die Neubesiedelung durch Freiheitsliebende eingeleitet hatte. Kastelen, das ihm, als er Lehrer lernte, bei einem Aufenthalt im letzten Jahrhundert wie ein pädagogisch-paramilitärisch gepoltes Magnetfeld vorkam, hat in seiner heutigen Erscheinung etwas so sonnig Genusstalhaftes, dass er die Entwicklung nur mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen kann. Und wenn er sich von dort wieder zur Aare hinunterbegibt, ist diese hier, zwischen Wildegg und Schinznach, so breit und weit und windgekräuselt, sind die in ihr schauklenden Boote so zeit-entrückt und die am Südufer des Flusses angelagerten Monumente der Zementindustrie in ihrer Anmutung so archaisch, dass er sich im Tal des Hudson River wähnt, wo nie mehr endende Wälder ihren Anfang nehmen, und wo die Besiedelung Amerikas und seiner Exklaven recht eigentlich begann.

 

Die Schreibzelle 2014 bildete sich als Schreib-und-Lesegemeinschaft im März 2014. Das Dossier Schreibzelle 2014 versammelt folgende Werkgruppen, die sich auch als literarische Nebenräume der Ausstellung Gastspiel im Museum Rietberg verstehen lassen: Damian Christingers Tiraden (erste Staffel), Katharina Fliegers Fremde Federn, Ruedi Widmers Leben im Aarepark, Peter Webers Allee und Daniela Bärs Rochenwald (Erscheinungsdatum Dezember 2014).