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Zollfreilager Publikumsforschung

Rietberg Publikumsforschung IV: Einschweizern

Max Weber, Lehrer für Geographie und Volkswirtschaft , Jahrgang 1949:

Dieses Reh oder dieser Hirsch ist mit dem deutschen Kaiser Franz Wilhelm zusammengestossen und hat ihm den Orden abgerissen. Der Hirsch ist nicht glücklich. Der hat ganz komische Augen. Der weiss nicht so recht, was er denken soll. Jetzt sehe ich die Anschrift: Da steht „Hochland von Guatemala“. Das sieht ganz anders aus. Das sieht deutsch aus. Komplett deutsch.

Ich denke, der Franz Wilhelm hat sich mit seiner Jagdgesellschaft im Wald verirrt, dieses Hirschlein angetroffen und gedacht: „So nicht, ich nimm jetzt dich, du erwischt mich nicht, aber ich erwische dich.“ Der Hirsch hat ihn nicht gefressen, sondern hat ihn gestossen mit seinen Hörnern und sich darüber gefreut. Er nimmt jetzt diese Trophäe und wird mit ihr noch das nächste halbe Jahr stolz als erster seinesgleichen durch den Wald spazieren. Der Hirsch ist nicht traurig, er ist überrascht, dass ihm das überhaupt gelungen ist. Er glaubt selber noch nicht daran, dass er diese Rosette auf dem Kopf trägt und noch nicht mausetot ist, denn: Normalerweise ist man mausetot, wenn der Franz Wilhelm kommt.

thematisiertes Werk/Objekt:
Tanztheater-Maske Hirsch, Hochland von Guatemala, 19./ frühes 20.Jahrhundert.

Die Interviews fanden im Zeitraum August bis November 2014 im Museum Rietberg statt. Geführt und transkribiert wurden sie von Jeanette Badura, Sabrina Barbieri, Nadia Canonica, Stephanie Frey, Jasmine Giovanelli, Bruno Heller, Fabienne Horat, Fabienne Kälin, Sabrina Nater, Nina Oppliger, Anna Studer, Anika Rosen, Erika Unternährer und Eva Wottreng. Die Publikation der hier versammelten Äusserungen und Erzählungen erfolgt mit dem Einverständnis der Sprechenden, deren Namen, wo das Bedürfnis bestand, geändert wurden.

Walter, Musiker, Jahrgang 1950:

Das in Schiefer gemeisselte Bild der heimlichen Flucht des Prinzen Siddharta erinnert mich an eine Szene aus der Geschichte „Wilhelm Tell“, in der Wilhelm Tell Gessner auflauert und ihn mit einem Pfeil erschiesst. Gessner kommt auf dem Pferde geritten und überrennt fast eine Bettlerin. Gessner entspräche der Person hoch zu Ross. Die Figur links unten, das könnte der Bube Walter sein, der dann später einen Apfel auf dem Kopf hat. Der Kopf (Figur) ganz rechts, unterhalb des Pferdes, könnte die Bettlerin sein und hier, ganz links, neben dem Pferd stehend, ist Wilhelm. Dieses Schieferbild erinnert mich auch an das Wilhelm-Tell-Denkmal in Altdorf. Ich habe ein Foto davon zuhause. Die Hohle Gasse sowie die Tell-Kapelle muss man als Schweizer schon besucht haben.

thematisiertes Werk/Objekt:
Die heimliche Flucht des Prinzen Siddharta – Pakistan, Gandhara-Gebiet, 3./4. Jahrhundert, Schiefer.

Max Weber, Lehrer für Geographie und Volkswirtschaft , Jahrgang 1949:

Ich bin natürlich vorbelastet: Diese Maske erinnert mich ans Lötschertal. An einen Bergbauer. Vielleicht an einen Fridolin. An den fröhlichen Fridolin. Das ist sogar ein Stabreim, das ist aber Zufall. Die Maske daneben ist seine Frau, das ist klar. Die dritte Frau ihre kleinere, schlankere Schwester. Die Schwestern sind immer zusammen. Im Prinzip hat der Bergbauer beide geheiratet. Die eine hat er effektiv geheiratet, die könnte Olga heissen, und die andere ist einfach immer dabei, wie ein Schatten. Die hat keinen Namen. Die ist ganz fein und hat ein komisches Gesicht. Die andere, die, die er geheiratet hat, ist viel saftiger und steht mehr im Leben, die ist ein richtiges Vollweib. Ich denke, die Schwester ohne Namen hatte aber auch schon einen oder zwei Männer. Die sind gestorben oder haben sich scheiden lassen. Die hatte aber sicher auch schon auch ihr eigenes Leben.

Da ist noch die Tante Elsie nebenan. Die ist halt auch immer dabei. Am Montag, Dienstag und Sonntag ist sie auch dabei. Sie ist uh fröhlich und sie putzt die Kammer. Sie hat immer einen dummen Latz, ruhig sein kann sie nicht, und das Mäschli, das sie auf dem Kopf trägt, ist toll. Sie ist immer fröhlich, aber auch ein wenig doof. Die freut sich des Lebens. Der Bergbauer selbst hat strähniges Haar, ist ein einfaches Gemüt und findet das ganz toll, sein Leben in seinem Tal hinten mit seinen drei Frauen. Am Abend sitzen sie in der Hütte und essen Käse und trinken Most und danach noch einen Schnaps. Er hat eher Ziegen als Kühe. Von den Zähnen will ich gar nicht reden. Da kann er der Frau das Wasser nicht reichen. Die beiden Schwestern sind stämmiger als er. Die kommen auch von einem anderen Ort. Er hat sie auf dem Markt kennengelernt. Die haben Backenknochen und kantige Nasen. Die Schwester hat ein komisches Maul. Dieses Maul kenne ich von irgendwo. Von irgendeinem Politiker – nicht Blocher. Irgendein Politiker hat auch so ein Maul.

thematisierte Werke/Objekte:
Fastnachtsmasken Schweiz, Sarganserland, 19./20. Jahrhundert.

Marlen, Verkäuferin, Jahrgang 1951:

Diese Statue schaut doch aus wie ein Harlekin, also eine Mischung aus Clown und Narr. Ich hatte als Kind eine Harlekin-Puppe zu Hause, sowie den Suppenkasperli. Mit denen habe ich als Kind oft gespielt. Beim Knorrli konnte man an den Schnüren ziehen, die an den Beinen befestigt waren. Dann haben sich die Glieder bewegt, als ob die Figur tanzen würde. Das hat von der Körperhaltung her genau so ausgesehen wie bei dieser indischen Figur.

In unserer Kindheit hatten wir noch nicht so viele Sachen zum Spielen, da genügte uns ein Knorrli, um Spass zu haben. Diese Figürchen waren lustig und bereiteten uns Freude, sie waren meist in den Farben gelb, blau oder rot gekleidet.

thematisiertes Werk/Objekt:
Tirujnana Sambandhar – Indien, Tamil Nadu, 12. / 13. Jahrhundert, Bronze.

Barbara, Grafikerin, Jahrgang 1982:

Teilweise war ich ziemlich erstaunt, dass mir diese Gesichter – gerade bei dieser alten Frau – so authentisch erschienen. Wie das Gesicht von einer Bergfrau, das man auf Fotos aus den Schweizer Bergen oder aus der Innerschweiz sehen kann. Es ist, als ob diese Masken, orientiert an den Menschen, die dort leben, geformt wurden.

Dann bin ich zu dieser grossen Maske gekommen. Ich war mit meinem Gedanken in der Schweizer Bergwelt, wo wir früher als Kinder mit meinen Eltern ein Haus hatten. Wir wohnten bei Ruedi. Er war ein richtiger Bergler und hat immer frühmorgens seine Milch mit Knoblauch getrunken, damit er gesund bleibt. Wir lernten Bergleute kennen, Töni und Friedli, die dann abends immer in die Stube kamen und ihre Stumpen rauchten. Manchmal brachten sie ihre Kinder mit. Damals habe ich etwas gesehen, das ich bis dahin nicht kannte, die Hasenscharte, eine Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalte, ein Geburtsfehler im Gesicht. Bis jetzt habe ich das nur bei Leuten aus den Bergen oder der Innerschweiz gesehen, dort oben in den Bergen hatten das einige Leute. Als ich diese gosse Maske gesehen habe, hatte ich den Eindruck, dass hier ernsthaft eine Maske mit einer Hasenscharte gemacht wurde. Ich habe mir kurz überlegt, ob die Hasenscharte aus der Schweiz kommt, habe mich gefragt, ob es die Hasenscharte auf der ganzen Welt gibt. Woher kommt sie, ist sie ein Schweizer Produkt?

thematisierte Werke/Objekte:
Schweiz: Fastnachtsmasken – Saal 35.

Die Interviews fanden im Zeitraum August bis November 2014 im Museum Rietberg statt. Geführt und transkribiert wurden sie von Jeanette Badura, Sabrina Barbieri, Nadia Canonica, Stephanie Frey, Jasmine Giovanelli, Bruno Heller, Fabienne Horat, Fabienne Kälin, Sabrina Nater, Nina Oppliger, Anna Studer, Anika Rosen, Erika Unternährer und Eva Wottreng. Die Publikation der hier versammelten Äusserungen und Erzählungen erfolgt mit dem Einverständnis der Sprechenden, deren Namen, wo das Bedürfnis bestand, geändert wurden.