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Leila Alder

Reflux

Von Traumas, gebrochenen Staudämmen und nassen Schwämmen

Ich erinnere mich. Das Wasser war kalt.

 

Mit beiden Händen kralle ich mich am Badewannenrand fest. Meine Handknöchel sind weiss. Vor meinen Augen die gelblich verfärbten Fliesen. Meine Kleider kleben an meinem Körper und werden immer schwerer. Ich schreie. Laut. Verdammt laut. Das eiskalte Wasser dringt in all meine freigelegten Körperöffnungen. Es brennt. Das Wasser verschliesst meine Ohren, meine Augen, meinen Mund und irgendwann lässt es mich verstummen. Das war das Ziel.

 

Ich war ein ruhiges Kind. Bloss nicht auffallen, meine Mutter nicht zur Weissglut bringen, wie es meine Schwester andauernd tat. Niemandem auf die Füsse treten. Am liebsten verschwinden. Meiner Mutter ging es nicht gut. Das wusste ich. Sie weinte oft. Meistens ohne erkennbaren Grund. Manchmal stürmte sie spätabends aus dem Haus und schrie: «Ich fahre gegen eine Wand!» Mein fünfjähriges Ich nahm sie beim Wort und blieb verstört in der dunklen Wohnung zurück, nicht wissend, ob Mama jemals wiederkommen würde. Was sie genau hatte, wusste ich nicht. Bloss, dass ich es nicht schlimmer machen wollte. So schluckte ich Tag für Tag die unangenehmen Emotionen runter. Besonders häufig schluckte ich Wut. Das ging gut für einige Tage, manchmal Wochen. Aber irgendwann rumorte es in den Tiefen meiner Seele. Die Wut musste raus. Richtig, richtig raus. Aus allen Löchern. Und das tat sie; explosionsartig. Tobsuchtsanfall. Ich verlor die Kontrolle über mich und über jegliche Körperflüssigkeiten. Tränen vermischten sich mit Rotz, Schweiss, Spucke, Kotze. Aus dem zarten, ruhigen Mädchen wurde eine tobende Bestie. In diesen Momenten verlor auch meine Mutter aus restloser Überforderung die Kontrolle. Mitsamt den Kleidern zerrte sie meinen kleinen, bebenden Körper in die Badewanne und duschte ihn eiskalt ab. So lange, bis ich keinen Ton mehr rausbrachte.

 

Ich. Darf. Nicht. Wütend. Sein.

 

Auch nicht in romantischen Beziehungen. Ich schluckte, ich schluckte alles runter. Ich schluckte – Wut, sonst spuckte ich. Vieles liess ich über mich ergehen. Ich liess mich enttäuschen, anschreien, schubsen, würgen, beleidigen, einengen, hintergehen. Sie taten mir leid. Unsicherheit. Hatten sie doch so einen schweren Rucksack zu tragen. Ich behielt die Kontrolle. Wusste, dass ich einiges aushalten kann. Bis irgendwann: Tobsuchtsanfall. Tränen, Rotz, Schweiss, Spucke, Kotze.

 

Wieder so vermischt, dass ich nicht mehr wusste, was wo rauskam. Dammbruch. Als Kind habe ich oft und gerne Staudämme gebaut, wie ein kleiner Biber. In der Sihl, im Bach neben dem Ferienhaus meiner Grosseltern in Amden, in Rinnen am Strassenrand. Dann habe ich zugeschaut, wie sich das Wasser langsam sammelte, anstieg, der Druck immer grösser wurde, und dann: die Erlösung – das war mein Lieblingsmoment –, wenn er brach. Es gab mir eine unbeschreibliche Befriedigung, zuzuschauen, wie sich das Wasser mit aller Wucht seinen Weg bahnte. Nach meinen Dammbrüchen rannte ich jeweils ins Bad, drehte den Hahn auf und spritzte mir das eiskalte Wasser so lange ins Gesicht, bis es brannte.

 

Dass ich tatsächlich nicht wütend sein darf, haben mir weder meine Mutter noch meine Partner gesagt. Nur ich mir. Ich redete mir ein, es müsse immer alles okay sein und ich könne alles mit mir selbst ausmachen. Nur andere Menschen hätten Probleme und es sei nicht ihre Schuld, wenn sie mich so behandelten. Bullshit. Ich hatte allen Grund, wütend zu sein: auf meine manisch-depressive Mutter, die auf meine Liebenswürdigkeit angewiesen war; auf meinen Vater, den ich brauchte, der aber meistens abwesend war; auf meine grosse Schwester, die jedes Mal davonrannte, wenn’s unangenehm wurde; auf meine Essstörung, die mich zweimal beinahe das Leben kostete; auf meine Perspektivlosigkeit, die von allen Seiten kritisiert wurde und auf meine Partner, die mir jeglichen Selbstrespekt und Freiraum raubten.

 

Erst seit Kurzem erlaube ich mir, meine Wut nicht nur zu spüren, sondern sie auch frühzeitig rauszulassen. Heilungsprozess. Jahrelange Therapie. Ich entlade mich regelmässig, indem ich versuche, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, sie zu formulieren und mitzuteilen, indem ich für mich und das, was ich als moralisch richtig erachte, einstehe, indem ich meinen Platz auf dieser Welt und vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen einnehme, indem ich manchmal Menschen auf die Füsse trete, indem ich sichtbar bin. Wichtig erscheint mir bei diesem Prozess auch, die Wut nicht nur als Gefühl anzunehmen, sondern sie auch zu hinterfragen. Woher kommt sie? Was macht sie gerade mit mir? Was mache ich gerade mit ihr? Was will sie mir sagen? Seither bin ich lieber nass. Auf meinem Kopf, an meinen Händen, auf meinen Wangen – und zwischen meinen Beinen.

 

Denn, früher war’s so:

Der Tag des obligatorischen Schwimmwettkampfes in der Primarschule war für mich ungefähr der schlimmste Tag des Jahres. Bereits eine Woche vor Startpfiff litt ich unter Insomnie und Appetitverlust. Ich konnte keinen Köpfler. Ich konnte keinen verdammten Köpfler. Warum sollte ich mich kopfüber ins kalte Wasser stürzen, um danach panisch, so schnell ich konnte, zu schwimmen mit dem Wissen, dass ich, wie jedes Jahr, den zweitletzten Platz belegen würde? Von dem Tag an, an dem zum ersten Mal unkontrolliert Blut aus mir floss, stand ich nie wieder mit zitternden Beinchen auf dem Startpodest.

 

Regentage, an denen ich meinen Schirm zu Hause vergessen hatte, waren Scheisstage. Wasser, das grundlos auf meinen Kopf, über meine Wangen, in meine freigelegten Körperöffnungen drang, war für mich kaum aushaltbar. Es versetzte mich in einen panischen Zustand. Unfähig mich mit jemanden zu unterhalten. Ich war doch gar nicht wütend?! Dann hätte ich schreien können. Laut. Verdammt laut. Bis es aufgehört hätte zu regnen.

 

Putzen mit blossen Händen war grausam. Einen nassen Schwamm zu halten, nicht die Möglichkeit zu haben, meine Hände nach dem Wasserkontakt direkt zu trocknen, machte mich wahnsinnig. Die aufgeweichte Haut zwischen meinen Fingern trieb Schweisstropfen auf meine Stirn. Ich war angewidert. Dann hätte ich den Schwamm mit aller Kraft, gegen die Wand schmeissen können.

 

Die Wendung in unserer Beziehung – meiner mit dem Wasser –
kam dann so:

 

Den letzten Sommer verbrachte ich alleine in Südfrankreich. Eine impulsive, wichtige, schwere, richtige Entscheidung, die einige Opfer gefordert hatte. Ein heisser Sommer. Die hohen Temperaturen – 40 Grad im Schatten – trieben mir literweise Wasser aus dem Körper. An einem Tag besonders: Wanderung von Nizza nach Villefranche-sur-Mer mit zwei Bekanntschaften. Die Sonne brannte. Die Tageszeit – Nachmittag – war nicht optimal gewählt.

 

Der Weg steil, über Stock und vor allem Stein. Hitzetod, dachte ich, als wir eine Treppe besteigen mussten, deren Stufen höchstens zehn Zentimeter breit waren und die kein Ende nahm. Ich und meine zitternden Beinchen zogen durch. Ich trug bei der Ankunft bereits keine Kleidung mehr. «Carlos, can you watch my stuff? I’ll be right back.» Ich rannte los. Mein Kopf, meine Schultern, meine Arme, meine Hände, mein Bauch, meine Füsse brannten. Ich tauchte meinen glühenden Kopf unter Wasser. Immer und immer wieder. Und mit jedem Mal wurde ich ruhiger.

 

Richtig ruhig. Momente der Stille. Seelenfrieden.

 

Dammbruch, irgendwie.

 

Illustration: Taddeo Lorenzo Motta