Rasender Stillstand
Vom Spektakel als Folgenlosigkeit zum Spektakel als Subversion. Eine fragmentarische Diskursgeschichte
- Kanonische Spektakelkritiken
Im 19. Jahrhundert hatte es das Spektakel noch leichter. Die dominierenden Staaten des Westens steuerten in der zweiten Jahrhunderthälfte auf die Blütezeit der liberalen Ära zu: Fortschrittsglaube, Technikglaube, explosionsartige Vermehrung des Wissens, der Technologien, Konsumgüter, Menschen. Diese Ära fand ihre symbolische wie auch konkrete Form in den spektakulären Weltausstellungen, die seit 1851 als Überbietungswettbewerbe und Leistungsschauen von westlichen Nationen ausgerichtet werden (heute als «Expos»). Hier wurde, im Sinne Martin Heideggers, die Welt zum Bild, aber auch zur Ware – gleichsam zum Weltwarenwimmelbild und «Weltinnenraum des Kapitals» (Peter Sloterdijk). Idealistisch-säkulare Vorläufer solcher kapitalistischen Megaevents, bei denen Spektakel und Bildung, Kommerz und Kunst, Euphorie und Nüchternheit, Musealisierung und Ereignishaftigkeit amalgamierten, finden sich etwa in den französischen Revolutionskulten wie dem von Jacques-Louis David ausgerichteten Culte de l’Être Suprême (1794). Das moderne Weltspektakel, obzwar schon kulturkritisch beäugt von Zeitgenossen wie John Ruskin, zeugte von der Gewissheit: Es geht aufwärts. Immer höher. Zumindest bis zu den Weltkriegen.
Spätestens seit deren zweitem steht das Spektakel, also die gross angelegte, auf sinnlichen Überwältigungseffekten oder schlicht auf Omnipräsenz basierende Inszenierung für ein idealiter grosses Publikum, in Kreisen der Neuen Linken und bei Vertretern der Kritischen Theorie unter Generalverdacht. Das Spektakel ist keine liberale Elevationsmaschine mehr, sondern «rasender Stillstand» (Paul Virilio). So heisst es in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1944), die eine Filiationslinie von Aufklärung über Totalitarismus hin zum Konsumismus zieht: «Amusement selber reiht sich [heute] unter die Ideale ein, es tritt an die Stelle der hohen Güter, die es den Massen vollends austreibt, indem es sie noch stereotyper als die privat bezahlten Reklamephrasen wiederholt.»[1] Damit ist die Stossrichtung des Diskurses über das Spektakel in der Nachkriegszeit gesetzt. Guy Debords Schlüsselwerk der Neuen Linken, La société du Spectacle(1967), weist die postmodernen Medien- und Konsumkulturen, aber auch die totalitären kommunistischen Staaten als Verblendungsapparate, Passivitätsgeneratoren, Unterjochungsinstanzen mit je unterschiedlichen Funktionsweisen aus. Letztere versuchten mit eher groben Mitteln, die Menschen auf Linie zu bringen (Propaganda), während erstere den Menschen vermittels subtilerer Strategien zum bloss «zuschauende[n] Bewusstsein, [zum] Gefangene[n] eines verflachten Universums, das durch den Bildschirm des Spektakels beschränkt ist, hinter den sein eigenes Leben verschleppt worden ist» degradierten. Dieses Bewusstsein kenne «nur noch die Scheingesprächspartner, die es einseitig mit ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten».[2] Das Spektakel ist aus Debords Sicht mit Kapitalismus und Konsumismus total, genauer: totalitär geworden, zeitigt es doch nichts Geringeres als «die Verarmung, die Unterjochung, und die Negation des wirklichen Lebens».[3] Ob bei Horkheimer und Adorno oder bei Debord – das so verstandene Spektakel zeichnet aus, dass die Steigerung affizierender Effekte an die Steigerung sedierender Folgenlosigkeit gekoppelt ist, dass es das Bestehende endlos verdoppelt, Machtverhältnisse verbrämt und konsolidiert.
In Jean Baudrillards apokalyptischer Simulationstheorie der 70er und 80er Jahre, die ebenfalls auf die postmodernen Konsum- und Mediengesellschaften gemünzt ist, mündet dieser Traditionsstrom linker Spektakelkritik in den Ozean des Fatalismus: die Wirklichkeit sei unwiderruflich verloren, die Metaphysik zerstört, der Ursprung verpufft, die Realität frei flottierende Simulation. Mithin sei auch die engagierte Kritik des Spektakels nurmehr simulativer Art, nur eine Möglichkeit unter Myriaden anderer Möglichkeiten, von denen alle gleich richtig und gleich falsch seien. Diese Diagnose mag uns heute, da wir über «alternative Fakten» und «post truth» diskutieren, wieder aktuell vorkommen. Baudrillard jedenfalls, der 2007 verstarb, hätte die Debatten mit einem ironischen Lächeln zur Kenntnis genommen: Was wundert, was ereifert ihr euch? The (hyper)real Donald Trump ist nur eine irre Begleiterscheinung von Spektakel und Simulation; die Leugner des menschgemachten Klimawandels sind nichts als Diener der «Agonie des Realen»![4] Vergesst Foucault, vergesst den Protest! Das einzige, was vielleicht noch Aussicht auf Erfolg hat, ist, die Simulationsmaschine mit Hyper-Simulationen zu füttern, bis sie platzt. So ist wohl auch Baudrillards schrille Theorie selbst zu verstehen.
Das «wirkliche Leben» zu kennen sowie stellvertretend für die gesamte Weltbevölkerung zu wissen, wie das gute Leben sein sollte und müsste, ist seit jeher ein Privileg von Kulturkritikern mit Feldherrenblick gewesen. Die Tatsache, dass es sich bei den epochemachenden Spektakelkritiken von Horkheimer, Adorno, Debord und Baudrillard – ganz zu schweigen von Richard Wagners 1850 publizierten Prolegomena der künftigen Kulturindustrie-Kritik[5] – ihrerseits um spektakulär-spektakelhafte Artefakte handelt; dass auch in ihnen grosse Bilder mit grosser Geste auf grosse Leinwände gepinselt werden, bleibt eine tragikomische Fussnote der Geschichte. Gerade heute, da die Neue Rechte die Kritische Theorie und die Neue Linke vampirisiert, erweist es sich, wie unzureichend die spektakulären Spektakelkritiken von ihren Verfassern gegen reaktionäre Vereinnahmungen imprägniert worden sind. Allein ihr aphoristisches Gepräge und ihr kalenderspruchartiger Zuschnitt laden zu Zweckentfremdung ein. Nur zu gerne schliesst sich die Rechte den Verfalls-, Niedergangs- und Entfremdungsdiagnosen an; nur zu gerne stimmt sie in den Chor der Globalismus- und Kapitalismuskritiker ein, um daraus ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. In ihrem kontrovers diskutierten Buch Mit Rechten reden (2017) formulieren Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn pointiert: «Mussolini imitierte Lenin vor dem Spiegel, als Noske auf Arbeiter schießen ließ; Goebbels studierte Eisenstein, als Adorno und Horkheimer zum Institutsfasching in SA-Uniformen erschienen; und als Andreas Baader mit Knarre und Tigerunterhose über die deutsche Autobahn raste, las Alain de Benoist mit roten Ohren Antonio Gramsci und Guy Debord.»[6] Auch so kann das von Debord erhoffte «Detournement» also aussehen…
2. Spektakel kritisch neu denken
Im Rückblick erscheinen die kanonischen Spektakelkritiken, so redlich und punktuell richtig sie auch sein mögen, als totalisierend in ihren Grundannahmen. Wenig verwunderlich also, dass aktuell vermehrt Ansätze zu beobachten sind, die darauf abzielen, es «dem» Spektakel und der damit – mutmasslich – verbundenen Gleichmacherei nicht gleichzutun, sich also nicht – oder nur ein bisschen – zu spektakulärer Grosskritik («Wahrlich ich sage euch, hinter allen Erscheinungen verbirgt sich nur ein einziges Prinzip!»), einem essentialisierenden Verständnis des «Systems» und apokalyptischen Theorie-Inszenierungen verleiten zu lassen. Vielmehr gilt es, die vorhandene Elastizität des «Systems» – der Kapitalismus ist erwiesenermassen ein Opportunismus – und die Ambiguitäten des Spektakelbegriffs auf differenzierte Weise produktiv zu machen. So setzt sich etwa die – hier exemplarisch vorgestellte – auf performative Künste und Biennalen, mithin auf ein häufig mit dem Spektakel in Verbindung gebrachtes Ausstellungsformat spezialisierte Kuratorin Claire Tancons für eine Besinnung auf die emanzipatorische Kraft des Karnevals ein. Dabei greift sie einerseits auf Debord zurück und schliesst sich der Spektakelkritik-als-Kapitalismuskritik an. Zugleich versucht sie sich an einer positiven Neudefinition des Begriffs wie auch der Praktiken des Spektakels, nämlich als Karneval. In ihrem Essay «Spring in Gwangju», verfasst im Zusammenhang mit der von ihr für die Gwangju Biennale 2008 kuratierten Prozession SPRING, differenziert sie zwischen einer «era of spectacular power»,[7] gekennzeichnet von einem «cheap spectacle sold out to the diktat of entertainment», und einer zu begründenden «New-World strategy by which carnivalesque excess disarms spectacular conflict and the grotesque gauges power».[8] Diese postkolonial-hybride Form des Spektakels soll sich, so Tancons Hoffnung, zum einen aus dem subversiven Potential älterer europäischer Karnevalstraditionen speisen, zum anderen aus «the carnivalesque strategy of antispectacular spectacle … as the native colonial language of the Americas».[9]
Zwar schiesst Tancons über das Ziel hinaus, wenn sie, wie es häufig in der postkolonialen Theorie der Fall ist, vermittels Kollektivsingularen einen essentialisierend-homogenisierenden Blick auf «den» Westen und «den» Kontinent Europa wirft – als handle es sich um geschlossene, geschlossen auftretende Gebilde. Das ist weder aus historischer Sicht noch mit Blick auf die Gegenwart der Fall. Gleichwohl stellt ein solcher differenzierend-hybridisierend-synthetisierender Umgang mit dem Spektakel die wohl vielversprechendste Form von Kritik dar, basiert sie doch nicht länger auf der Debords Theorie durchaus noch eingepreisten Sehnsucht nach Authentizität und «organischer Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse».[10] An Stelle des heiligen Ernstes, der auch dem Erhabenheitsbedürfnis der Rechten zupass kommt, tritt das Spiel des Karnevals. Adorno hätte wohl eingewandt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Und Biennalen, das seien nun mal symbolische Formen des hybrid gewordenen Kapitalismus. Baudrillard hätte mit den Schultern gezuckt: Netter Versuch! Die Realität ist trotzdem tot, die Simulation ist überall, hybride Karnevalsprozessionen hin oder her. Tancons hätte ihm vielleicht mit einem Satz aus Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft entgegnet: «[Es] gibt … kein Reales – und folglich auch kein Leben –, das nicht zugleich Spektakel, Theater und Dramaturgie wäre.»[11]
[1]Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main, 200817, S. 152.
[2]Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin, 1996, S. 136.
[3]Ebd., S. 134.
[4]Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin, 1978.
[5]Vgl. Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.
[6]Leo, Per, Steinbeis, Maximilian und Zorn, Daniel-Pascal: Mit Rechten reden. Stuttgart, 2017, e-book, n.p.
[7]Tancons, Claire: Carnival and The Artistic Contract: Spring in Gwangju. In: Nka: Journal of Contemporary African Art, Number 25, Winter 2009, S. 106–119, hier: S. 108.
[8]Ebd., S. 108–109.
[9]Ebd., S. 109.
[10]Debord 1996, S. 36. Anzumerken ist, dass Debord nicht naiv von überzeitlichen «echten» Bedürfnissen ausgeht, sondern betont, dass alle Bedürfnisse und jegliches Begehren «selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte geformt» sind (ebd.).
[11]Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin, 2014, e-book, n.p.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Jörg Scheller, *1979, ist Kunstwissenschaftler, Publizist, Musiker und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.