Piemontessen
„Salametti“, bellt die Grosstante in der Küche, im Fernsehkasten im Wohnzimmer tanzen die veline. Der Tisch präsentiert sich als Gabentisch einer adipösen Gottheit, eines katholischen Nimmersatts, dessen Hunger durch das Wissen um die Ungläubigkeit aller Anwesenden noch verstärkt wird. Zu Weihnachten hat man mir ein Porzellan-Eichhörnchen und eine aufklappbare Lidschattenpalette in Bärenform – blütenweiss bis veilchenlila – geschenkt. Wenige Tage später kommt man nun zusammen, um das neue Jahr so zu beginnen, wie man das alte beendet hat: essenderweise.
Auftaktsanordnung auf dem Tisch: Salame crudo, der etwas hellere salame cotto, vitello tonnato, hauchdünn geschnitten, schuppenartig angerichtet. Mortadellahäufchen, russischer Salat im Schinkenmantel, gesottene Eier, dazu sieben Weissbrotkränze, Grissini über den ganzen Tisch verteilt. Ich spiele Mikado, Nonnas „non mangiare grissini“ in der Endlosschlaufe.
Der gute Ton liegt hier in der Betonung, wie wenig Hunger man hat. Dieses Klagen hat Familientradition, setzt beim aperitivo ein und endet nach dem dolce noch lange nicht, sondern tritt danach nur in neuem Tempus auf. Ich habe es nie verstanden, aber als Zugehörigkeitsmantra stets eifrig wiederholt. Das Reden übers Essen ist hier von ähnlicher Existenzialität wie das Essen selbst. Ob man sich sonst nichts zu sagen habe, frage ich meinen Vater. Er zuckt mit den Schultern, versteht nur wenig Italienisch und dieses Ritual kein bisschen.
Secondo piatto: hausgemachte Tagliatelle. Seit Jahren scheitert der Versuch, der Grosstante dieses mehrtägige Vorhaben auszureden. Stundenlang kurbelt sie Teigflächen durch die Maschine und spannt Schnüre auf Augenhöhe durch die ganze Wohnung. Ihr Mann, zwei Köpfe grösser als sie, erlebt diese Tage draussen.
Am Tisch wird mit unterschiedlichem Vermögen deutsch und italienisch gesprochen, doch die Missverständnisse sind kulinarischer Art. „Mangiate, mangiate“, ruft man sich generationenübergeifend und quer über den Tisch zu. Ich habe im Radius von siebzig Zentimetern bereits alle Grissini gegessen, mit salamifettigen Fingern zeige ich die Menge Pasta an, die ich mir auf meinen Teller wünsche: solo un poco. Ausgesprochen habe ich damit auch eine Beleidigung. Die gastgebende Grosstante versteht nicht, wie man Grissini gierig im Staccato zerbeissen und danach nur fünf Gabelumdrehungen Tagliatelle verdrücken kann. Unser kulinarisches Glück ist ihr alltäglich Brot, und dass der salame und die Grissini nirgendwo besser schmecken als hier, weiss sie nicht, weil sie nie woanders Salami und Grissini gegessen hat.
Zu den Tagliatelle gehören Ravioli, gefüllt mit dreierlei Fleisch und Salbei. Die Teigtaschen trocknen mindestens vierundzwanzig Stunden auf sämtlichen Ablageflächen der Küche und des Flurs. Dazu wird das sonst unverzichtbare Röcheln des Luftbefeuchters zum Verstummen gebracht.
Der sugo, in einem anderen Haus gemacht, stammt von meiner Grossmutter. Die Sugoproduktion steht derjenigen der Pasta in nichts nach, kann gar nur unter kosmisch günstigen Bedingungen stattfinden: Die Tomaten müssen in der Leermondnacht geerntet und am nächsten Tag direkt verarbeitet werden. „Aberglauben“, findet meine Mutter, „alles später verschimmelt“, meint Nonna und erzählt von Jahren, in denen der Mond am entsprechenden Tag schon etwas voller war.
Zwischen secondo und dem, was folgt, bildet Zitronensorbet mit Vodka eine Zäsur. Vodka unterstütze den Magen, meint Nonno, und nickt. Das Zitronensaure erlaubt der Zunge, nicht länger bisherigen Geschmäckern nachzulecken.
Der Glaube, dass das Essen vorbei sei, wenn der Magen nichts mehr fassen mag, wird einem an diesem Tisch ausgetrieben. Mein schweizerisch erzogener Verdauungstrakt, der in Teigwaren jeweils einen Hauptgang zu erkennen glaubt, wird eines weiteren Ganges belehrt. Der italienische Teil der Familie glaubt, wir Schweizer seien chronisch unterernährt. In Italien, an diesem Tisch, sind wir i magri. Ich hätte abgenommen, meint meine Nonna, Cousine und Coucousine nicken. Meine Coucousine ist ein Jahr jünger als ich und seit Jahren gesundheitsgefährdend pummelig, ihre Mutter kompensiert die gescheiterten Abnehmversuche mit einer beeindruckenden Sammlung an Euphemismen.
Aus der Küche werden schliesslich Steaks getragen, bistecce, blassbraune Rindfleischlappen, in einer Auflaufform aufgetürmt, zentimeterhoch im eigenen Saft liegend. Die Anspannung der letzten Tage ist in sie hineingeklopft, jedes wird anschliessend einzeln angebraten und in die Form drapiert. Das Herausheben der Form aus dem Ofen wird mit den Jahren immer herausfordernder für den Rücken.
Das Essverhalten der älteren Generationen und der Aufwand, den sie in der Küche betreiben, verhalten sich umgekehrt proportional. Das Essen, meint mein Vater, sei in den vergangenen Jahren nicht mehr geworden, aber das Altern schlage allen auf den Magen: Die einen dürfen nicht mehr allzu viel Salz, die anderen haben sowieso kaum mehr Appetit, die mittlere Generation fasst sich beim Anblick der Salamischeiben an die eigenen Speckröllchen, das eine oder andere hungrige Maul fehlt inzwischen im Leben, also auch am Tisch. Gekocht wird jedoch immer noch gleich, zum Trotz und als Liebesbeweis, aus Nostalgie und als lebensbejahendes Signal, an die Anderen, aber auch an sich selbst.
Zu süsser Letzt: Il dolce. Auch für diesen Gang ist das Auftürmen die geeignete Bauart. Profiteroles, kleine Windbeutel mit zwei Füllungen, cioccolato und zabaione. Der Teig verlangt Geduld, die Füllungen gelangen durch ein später unsichtbares Einspritzloch und dank einer pipettenartigen Eigenkreation in den Hohlraum. Systematische Anordnung der beiden profiteroles-Typen, die Statik des Turms wird durch zähflüssige Schokoladenglasur unterstützt. Dazu Guetsli und biscotti, von einer grossen Schüssel macedonia ist die Rede, Stühle werden gerückt, der Fruchtsalat schliesslich herbeigetragen, das Vanilleglacé ging vergessen, nein, es steht direkt neben der Tiffany-Schale mit den Baumnüssen.
Höhepunkt des gesamten Tages, es ist inzwischen Frühabend, sind taleggio, parmigiano, provolone, gorgonzola. Am Tisch wird aus Überwältigung Ablehnung, statt Sinnlichkeit liegt Ekel in der Luft, aus Fülle wird Abfall. Die Resten werden nicht zu bewältigen sein, Tage später werden wir noch an den Resten der Resten der Resten zu kauen haben. Schliesslich werden wir sie wegwerfen, weil sie schlecht werden, während einem schlecht ist, man sich schlecht fühlt. Seit dieser Käseplatte ist plötzlich alles zu viel. Zu viel Gutgemeintes und Falschverstandenes. Zu viel ausgegebenes Geld. Zu viel Salz, zu viel Fett, zu viel Laktose. Und wenn alles zu viel ist, hilft nur noch ein Espresso, und nach dem Espresso folgt der Grappa, der Limoncello, hat man schon fast wieder Hunger, taucht plötzlich ein Blech focaccia auf. So lange aufgetischt wird, sind die Verhältnisse geklärt, ist man sich der Liebe sicher. Familie ist, wenn alle essen, obwohl niemand Hunger hat.
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Daniela Bär, *1989, ist Kulturpublizistik-Absolventin und Zollfreilager-Mitgründerin.