Performance und die Frage des Spektakels
Der folgende Essay fragt in einem ersten Schritt, ob und warum das Spektakel in der Geschichte und der Gegenwart das Problem oder die Lösung ist. Ein zweiter Schritt dreht sich darum, wie der Völkermord in Ruanda mit Blick auf das Spektakelthema von Milo Rau aufgenommen wurde. Der dritte Teil untersucht, wie die aus Ruanda stammende Performerin Dorothée Munyaneza, die am Theater Spektakel mit «Mailles» auftritt, in ihrer Arbeit damit umgeht.
«Unser soziales Leben ist ein fragiles Gebilde, unsere Körper sind zart und porös, unser Geist und unser moralisches Urteilsvermögen zuweilen unglaublich schwach. Die Pandemie, die unser Leben plötzlich bestimmte, wirkte wie ein Fragilitätskatalysator», schreiben Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela in ihrem Essay «Post / Pandemische Zeiten im Zeichen der Zerbrechlichkeit», das in der Programmkommunikation des Theater Spektakel publiziert wurde.
Die Zerbrechlichkeit, die hier gemeint ist braucht Ruhe, leise Töne, Zwischentöne, um wahrgenommen werden zu können. Erst in diesem Wahrnehmen aber liegt der Schlüssel, um «unser moralisches Urteilsvermögen» postpandemisch zu entwickeln, zu schulen um in die neuen Verhältnisse intervenieren zu können. Die Autor:innen fahren fort: «In post/pandemischen Zeiten wird es darum gehen müssen, eine Politik der Starken und der Ignoranz zu überdenken, die die eigene Fragilität nicht wahrhaben will und deswegen ausgrenzend argumentiert sowie gewalttätig agiert.»
Die Ignoranz ist laut und gewalttätig, müssen wir dagegen anschreien? Wie lässt sich dieser Fragilität in der Kunst begegnen, wie lässt sie sich aufnehmen, verwenden und transformieren? Kann dies in einem Rahmen gelingen, der das Wort «Spektakel» im Namen trägt? Kann es in irgendeinem Rahmen gelingen, in dem Kunst einer Ökonomie der Aufmerksamkeit gehorchen muss? Ist nicht die Logik des Spektakels und des pseudodemokratischen Schaukampfs eine der Wurzeln für Ignoranz und Lautstärke, die es zu überwinden gilt?
Ein Blick zurück auf die Diskursgeschichte: In «Die Gesellschaft des Spektakels» (La Société du spectacle, 1967) analysiert Guy Debord die postmodernen Gesellschaften – egal welcher Prägung – als Inszenierung, in der alle ihnen zugewiesene Rollen spielen. Die gemeinsame Realität verschwindet hinter einer Scheinwelt aus Propaganda, Fake-News, Werbung und medialen Kanälen der Bespassung. Das tatsächlich Erlebte und Erlebbare geht verloren und wird durch Surrogate ersetzt, durch die Simulation von Erfahrungen in einem einheitlichen Duktus des Konsums von Scheinwelten. Der Alltag wird durch eine konstante Theatralisierung der Umgebung unkenntlich, die Kunst wird instrumentalisiert, Widerstand wird eingebunden und wirkungslos. Hoffnung geht ins Leere, Enttäuschung ist programmiert. Die Lücke, die dabei entsteht, die Fehlstelle, wo echte Emotionen und politische Folgen sein sollten, wird mit dem Müll des Konsums aufgefüllt.
Eine Vorgeschichte des Spektakels, das für Debord das Leben und die Gesellschaft vollends sich selbst entfremdet, geht auf die feudale Gesellschaft im Übergang zur Moderne zurück. Im Barock ist das Spektakel – «Son et lumière» – eine zunächst dem Adel vorbehaltene Form der Unterhaltung. Lebendige Bilder, grosse Inszenierungen mit Licht und Ton, die in den Sälen und Gärten der Schlösser stattfanden, funktionieren als Augenweide, aber auch als Form der Aufklärung. Danach wird solches Spektakel auf den Jahrmärkten für das Volk immer beliebter und kulminiert während den Bewegungen der Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert in einem Theater der Aufklärung für die Massen.
Die Geschichte der darstellenden Künste und der Massenmedien (heute: der sozialen Medien) ist eine Geschichte des Spektakels im Positiven wie im Negativen. Spektakel ist je nachdem ein Gift und ein Gegengift. In der Theatergeschichte folgen auf Momente des versuchten Bruchs mit der Illusion (z.B. Brecht) oder eines wider-sinnigen Theaters (z.B. Beckett, z.B. Ionesco) Positionen, die das Leben selbst «ungebrochen» auf die Bühne bringen (z.B. Rimini Protokoll, z.B. Milo Rau). Die Performance tut aus dem Kontext der bildenden Kunst Ähnliches: Sie bricht die Scheinwelt durch das Einsetzen des realen (des eigenen) Körpers, den sie als ausgesetzt und verwundbar – und in diesem Sinn fragil – aufs Spiel setzt.
Die Fehlstelle, die Lücke, die in der Gesellschaft des Spektakels nach Debord existiert, wurde gerade in der Performance-Kunst der Gegenwart immer wieder mit dem Gestus einer radikalen Authentizität gefüllt. Die Performerin oder der Performer wird in solchen Performances zur Schmerzensfigur, die das Leid der Welt am eigenen Leib erfahren muss, um Echtheit zu behaupten (Marina Abramovic ist darin eine Pionierin, und gleichzeitig sozusagen die Blaupause). Figuration bewegt sich hier in grosser Nähe zum Denken von Erich Auerbach (1892–1957), der seinen Begriff der Figuration – die Verkörperung des Dichterwortes – u.a. vom christlichen Denken bei Augustin («Fleischwerdung des Wortes») ableitet. Dass solche Performance den Körper und seine Schmerzfähigkeit in der Logik des Spektakels (mit allenperversen Nebeneffekten) bewegt, wird selbstreferentiell thematisiert und der innere Widerspruch somit vermeintlich aufgelöst, was aber nie vollständig gelingen kann. Zu diesem Problem kommt ein zweites: Die Performerin oder der Performer kann, bei allem Symbolgewicht, das sie entwickelt, in der beschriebenen Logik und Ästhetik letztlich nur sich selbst darstellen. Der Anspruch der Kunst, etwa Ungerechtigkeit zwischen Menschen darzustellen, stösst hier an eine harte Grenze: Jede:r spricht von sich selbst. Das dritte Problem: Auch die entstehenden Bilder sind selbstreferentiell. Sie werden entgegen ihrer Intention zu Surrogaten. Die Figuren existieren nur im Stück und durch das Stück. Sie bleiben Figuration, da ihre Erfahrungen in ihrer radikalen Authentizität partikular bleiben.
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In welchem Ausmass auch Kriege und Katastrophen von der Logik des Spektakels durchdrungen sind, zeigt das Beispiel des Genozids in Ruanda. Ein wesentlicher Treiber dafür war das Massenmedium Radio. Die Moderatoren von Stationen wie «Radio-Télévision Libre des Milles Collins» waren wichtige Quellen einer hasserfüllten Propaganda, die sich nahtlos in ein Unterhaltungsprogramm einfügte, das in einer einfachen Sprache für breite Volkschichten der Hutu gehalten war, die weder lesen noch schreiben konnten. Eine wilde Mischung aus Popmusik, aufgepeitschten Sportreportagen, gefühlvollen Soaps und aufpeitschenden Politkommentaren bereitete den Genozid, der sich 1994 ereignete, mit vor. Wichtige Moderatoren des Radios wurden dann auch vom Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda verurteilt.
Milo Rau liess das Radiostudio 2011 als Kulisse für seine Produktion «Hate Radio» in verschiedenen Institutionen, auch Museen, wiederaufbauen und von Sprecher:innen, unter ihnen auch Überlebende, zu neuem Leben erwecken. Die Produktionsgesellschaft, die Rau bereits 2007 in der Schweiz gründete, nennt sich folgerichtig IIPM (International Institute of Political Murder). Das Institut schreibt auf seiner Website: «Die bisherigen Produktionen des IIPM stießen international auf große Resonanz und stehen für eine neue, dokumentarisch und ästhetisch verdichtete Form politischer Kunst – ‹Real-Theater›, wie Alexander Kluge Milo Raus Ästhetik einmal nannte.» Dieses reale Theater nutzt nicht nur die Kulisse des Radios «Milles Collines» sondern auch dessen Heuristiken des Spektakels als Grundbedingung eines Massenmediums, um eben diese Mechanismen aufzuzeigen und zu denunzieren. Die zentralen Elemente, die Rau anhand der Propaganda zum Genozid verhandeln will, sind der Rassismus in uns allen, die Ausschlussmechanismen in unseren Köpfen, die durch Massenmedien angezapft und angefacht werden können. Er bedient sich also eines Stoffes, den er durch seine Akteur:innen nacherzählen und nachempfinden lässt.
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Figuration der Gegenwart entsteht in einem gemeinsamen Verkörpern menschlicher Erfahrungen – der Gedanke, der im postpandemischen Körper, wie ihn Bayramoğlu und Castro Varela beschreiben, noch an Gewicht gewinnt, ist zentral im Werk der Regisseurin, Sängerin und Tänzerin Dorothée Munyaneza, die ihr neues Stück «Mailles» mit dem Untertitel «ein polyglottes Spektakel» – es ist ihr drittes abendfüllendes – als Performance am Theaterspektakel 2021 zeigt.
Munyaneza ist in Ruanda aufgewachsen und mit zwölf Jahren zusammen mit ihrer Familie während des Genozids nach London geflüchtet, wo sie im französischen Gymnasium zur Schule ging und dann Musik und Sozialwissenschaften an der Universität von Canterbury studierte. Sie lebt heute in Marseille. Vielsprachigkeit ist somit in ihre Biografie eingeschrieben. Munyaneza ging in ihrem ersten Stück «Samedi détente» (2014) noch von ihrer eigenen Erfahrung aus. Die Kindheit mit den Ritualen auf dem Spielplatz am Samstag, als die Sendung «Samedi détente» des ruandischen Radios ausländische und fremdartige Musik spielte und die Kinder dazu tanzten und performten, die Flucht mit den Eltern, als die Stimmung kippte, das Grauen, das darauffolgte, die Ankunft in einem fremden Land, das Aufwachsen als schwarze Frau in einer weissen Mehrheitsgesellschaft. Man konnte die Produktion auch als Antwort auf Raus «Hate Radio» interpretieren, das drei Jahre früher Premiere feierte. Die Frage, die bereits damals heiss diskutiert wurde, war: wer spricht?
Die zweite abendfüllende Produktion Munyanezas ging wieder vom Genozid in Ruanda aus, wurde diesmal jedoch auf verschiedene Perspektiven erweitert. Munyaneza interviewte Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden und dann schwanger waren, ein Kind zur Welt brachten, das sie so nicht wollten. «Unwanted» (2017) befragte radikal persönliche Erfahrungen von Frauen in Ruanda, Tschad, Syrien und dem ehemaligen Jugoslawien und verband diese zu einer scharfen Anklage gegen das Mittel der Vergewaltigung als Kriegswaffe in Konflikten.
Beiden Stücken ist eine bestimmte Ästhetik gemein. Klare Farben in streng ausgeleuchteten Bühnensettings, die minimal eingerichtet sind. Der Fokus liegt auf den sprechenden, singenden Akteur:innen, die sich tänzerisch bewegen. Das Geschehen ist stark reduziert, es wurde in einem komplexen Verfahren der Improvisation soweit entwickelt, dass es Abend für Abend in der gleichen Intensität reproduzierbar wurde. Munyaneza betont in einem Interview mit France Culture von 2015 die Wichtigkeit der Improvisation und den Anteil, den der Choreograf François Verret an der Entwicklung ihrer Arbeitsweise hatte: «Die Arbeit mit François Verret hat mich auch ermutigt, meiner Stimme zu vertrauen und meinen Sinn für Improvisation zu schärfen. Er forderte jeden Künstler auf, ständig zu improvisieren und dabei eine künstlerische Handschrift zu finden, die am Ende der Schaffensperiode reproduziert werden kann. In der Zusammenarbeit mit ihm fühlte ich mich der Idee noch näher, dass Kunst ein Spiegelbild unserer Gesellschaft ist, ein Medium, mit dem wir nicht nur versuchen, Schönheit zu schaffen oder das Hässliche zu berühren, sondern uns auch vollzu engagieren.»
Die Menschen auf der Bühne sind als Menschen greifbar, werden durch die Kostüme, immer dichtgewobene Stoffe, die den Körper umhüllen und ihnen fast etwas skulpturales verleihen, aber auch als Stellvertreter:innen von anderen greifbar. In einem anderen Interview beim gleichen Kanal zwei Jahre später zu «Unwanted» bringt sie diese Möglichkeit der Transformation auf den Punkt: «In erster Linie bin ich Sängerin, aber ich glaube fest daran, dass Tanz, Text, Gesang und Performance dazu da sind, sich zu verständigen und die Aufgabe zu erfüllen, die ich mir gestellt habe, nämlich diese Stimmen in den Körper und zum Publikum hinaus zu tragen. Wir tragen Erinnerungen, unsere Körper tragen Geschichten, die mit anderen Geschichten in der Vergangenheit und Gegenwart unserer Menschheit verbunden sind. Es geht also darum, einen Raum zu finden, in dem wir diese Geschichten erzählen, zu den Erinnerungen zurückkehren und das Zerbrochene heilen können.»
Die Stimmen des Dazwischen, die zarten Zwischentöne, entstehen bei Munyaneza in einem gemeinsamen Sprechen, im Chor, in dem alle aufeinander hören. Das poetische Sprechen über den Schmerz transformiert die Erfahrung desselben, die Bewegungen der Körper schaffen Beziehungen zwischen ihnen, die multiperspektive Narration bezieht Betrachter:innen mit ein, wir sind alle Teil eines Systems, das die Ungerechtigkeiten erzeugt, die verhandelt werden. Diese Erfahrungen sind individuell und partikular, geprägt von den Realitäten der Herkunft und des Geschlechts, den gesellschaftlichen Ein- und Ausschlussmechanismen, den Konflikten, die sie formen. Wenn wir sie aber zusammenbringen und gemeinsam erfahrbar machen, dann kann das Eigene, das Lokale zur gemeinsamen Figuration werden. Die Frage «wer spricht?» bleibt, kann aber in unterschiedlichen Kontexten verschieden beantwortet werden.
Der Übergang von der Figur zur post/pandemischen Figuration im Hinblick auf eine echte und dennoch gemeinsame Erfahrung besteht nicht einfach darin, dass westliche und nicht-westliche Künstler:innen ihre eigenen, besonderen und situierten Konstruktionen von Existenz miteinander teilen, sondern vielmehr darin, dass sie gemeinsam ein multiperspektivische, poetische Realität schaffen und so die eigene Perspektive jedes und jeder Einzelnen über die situierten Grenzen singulärer Kontexte und Traditionen hinaus erweitern.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.