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Michel Leiris

Paris – Minuit

Durch die Straßen zu schlendern gehört immer noch zum Besten, das einem in einer so dumm-logischen Zeit wie der unsern zu tun übrigbleibt, und ich glaube, es heißt nie seine Zeit vertun, wenn man tagsüber vor Schaufensterauslagen herum, nachts durch Bars oder Nachtlokale streift. Wenn ich mich um Mitternacht in eine obskure Bar setze und die abwechslungsreichen Bewegungen der Poker-Würfelbecher auf dem Mahagoni des Schanktisches verfolge, gegen drei Uhr morgens einen Cocktail trinke, einen Blues höre, so ist das jedesmal eine Freude, die ich metaphysisch nennen möchte.

Der Alkohol, in mittleren Dosen zu sich genommen, aber mehrfach (und zwar kontinuierlich), ist ein ausgezeichnetes Stimulans, das in Verbindung mit der Müdigkeit, die diesem nachtwandlerischen Leben eignet, wo man bei wenig Schlaf viel auf den Beinen ist, schnell zu einer Art von dauerndem Traumzustand führt und wie in einer Halluzination festgehalten ist. Diese langsam-metaphysische (um es zu wiederholen) Vergiftung hat nichts gemein mit den groben Saufereien, deren Ende meist Geschrei, Obszönitäten und Keilerei ist. Ich will aber durchaus nicht Herold des Lasters sein, ich will vielmehr an dieser Stelle deutlich feststellen, daß man sich täuschte, wenn man mich Alkoholiker glaubte.

Auch darf man nicht, weil ich von Nachtlokalen spreche, annehmen, ich sei ein Bummler, dies am allerwenigsten in dem üblichen Sinn dieser Redensart. Wenn es eine Zeitlang fast kein Vergnügen gab, auf das ich verzichtet hätte, so lag das daran, daß ich in einem solchen Maße von der Sinnlosigkeit alles Geschehenden überzeugt war, daß ich nicht einsah, warum irgendeine Betätigung der Verachtung mehr preisgegeben sein sollte als irgendeine andere, und daß alles in allem genommen die Hingabe an die erkannte Inhaltslosigkeit der Illusion irgendeines Wertes vorzuziehen sei. Das Café »Le Bœuf sur le Toit« zum Beispiel lockte mich damals wegen der absoluten Belanglosigkeit der meisten seiner Besucher. Ich muß allerdings zugeben, daß da ausgezeichnete Musik gemacht wurde: nur amerikanische Ragtimes, von dem Pianisten Doucet gespielt, der in diesem Lokal Jean Wiéner abgelöst hatte.

Ich kann nicht sagen, wie die Musik der amerikanischen Neger mich erschüttert. Es scheint heute fast ein Gemeinplatz, vom Jazz zu sprechen, und doch glaube ich ganz und gar nicht, daß über diesen Gegenstand das letzte Wort gesprochen ist, ich gehe so weit, zu behaupten, daß von allen, die bis jetzt darüber geschrieben haben, keiner auch nur im entferntesten geahnt hat, um was es sich hier in Wirklichkeit handelt. Denn es geht auch hier noch einmal um Metaphysik und nichts anderes.

Lieder wie »All alone«, »Sweet Creola« oder »Lady be good« haben auf mein Leben außerordentlichen Einfluß gewonnen, so großen vielleicht, wie irgendeine Lektüre oder ein Ereignis von entscheidendem Einfluß. Keine Musik scheint mir so sehr die Beschaffenheit lebendigen Fleisches zu haben.

Die Stellen in Paris, an denen man die beste authentische Negermusik hört, sind (mehr als im »Bœuf sur le Toit«, wo seit dem Scheiden von Vance Lowry und Marion Williams nur noch Weiße spielen): der »Grand Duc«, »Florence« und »Mitchell’s« Nachtrestaurant-Bars, alle Rue Pigalle.

In der erstgenannten Bar, deren ständiger Gast ich lange Zeit war, sang eine Mulattin namens Bricktop. Eine Frau zwischen Dreißig und Vierzig, ziemlich stark, aber von erstaunlicher Anmut. Ihre leichtgebräunte Haut, von Sommersprossen übertupft, die ihr Gesicht und ihre Arme wie mit Goldkörnern überhellen. Prachtvolle Toiletten. Sehr lebhafte Augen unter schwarzen lackierten Haaren. Ein Mund, den man als »geistreich« bezeichnen muß. Sie besaß insbesondere jene außerordentliche Intelligenz der Bewegungen, die bei einer Josephine Baker zum Paroxysmus gesteigert sind und die sich von der Pantomime unterscheiden, wie zum Beispiel die Akrobatik von der Gymnastik, eine köstliche Anmut in den Bewegungen der Arme und der Finger, dem Augenaufschlag, dem Lippenspiel, dem Zucken des Fußes, alles dies vereinigt mit einer Stimme, wie ich sie nie gehört habe, einer Stimme, die einem schweren, bestickten Stoffe, der wie durch Beilhiebe zerfetzt ist, oder einem Sperlingsschwarm, in den Adler eingebrochen sind, oder den Ruinen der Paläste von Palm Beach oder Los Angeles nach einem Erdbeben gleicht.

Und diese Frau wußte nichts von Komödiantentum. Sie war gelangweilt. Ihre Lieder schrieb sie sich in ein kleines Schulheft. Sie lernte sie, indem sie sie mit halber Stimme vor sich hinsang. Sie trank, ohne jemals betrunken zu werden. Sie hatte lange Unterhaltungen mit dem intellektuellen Neger Jackson, der sie auf dem Klavier begleitete. Sie machte sich ab und zu einen Spaß daraus, das Duett »I am in love again« mit Buddie Gilmore zu singen, einem kleinen, kugelrunden Neger voller Phantasie und Laune, der als Drummer des Syncopated Orchestra (einer von Harry Wellmon dirigierten Truppe von etwa 40 Negern – Sängern, Tänzern und Musikern) nach Paris kam und sich sofort durch sein Schlagsolo einen Namen gemacht hatte.

Sie empfing die Gäste, sagte jedem eine Liebenswürdigkeit, vollendete Dame des Hauses. Leutselig und lächelnd war [sie] der Herr des Hauses, wenig um Reklame besorgt, empfing jeden mit der entgegenkommenden Herzlichkeit eines alten Verwalters, der auf dem Schlosse seiner Herrschaft die intimsten Freunde des Hauses empfängt.

In den »Grand Duc« kamen regelmäßig fast alle amerikanischen Neger von Paris, alle, die auch das »high-brown« bedeuten: Mitchell, Inhaber der Bar in der Rue Pigalle, Marion Williams, der ehemalige Trommler des »Bœuf sur le Toit«, Vance Lowry, Seth Jones, Fernando Jones, der zurzeit in der Revue des »Palace« tanzt. Die Crackner Jacks (damals Jazz im »Shanley’s«, dem heutigen »Palermo«), der Tänzer Hommy Wood, Virginia West, das »coloured girl« von Moulin-Rouge usw. usw. Und reihum trug jeder von ihnen zu seinem Amüsement etwas vor, und oft mußte auch jeder der Gäste (weiße und schwarze) etwas bieten, gleichviel ob Tanz, Gesang oder Musik. Man hatte nie das Gefühl, sich in einem Nachtlokal zu befinden, eher schon in einer Art kleinem geselligen Klub, wo man sich auf eine kindlich harmlose Weise amüsierte.

In dieser Bar, bei dieser Mulattin, die ganz gewiß der von Apollinaire erwähnten, die »die Poesie erfand«, ähnlich ist, habe ich die tiefsten Stunden meines Lebens verbracht. Beim Anhören dieser Lieder, die kaum von anderem als dem Paradies, naiver Liebe und etwa dem Exil handeln, während ich dieser Stimme lauschte, die sich wie ein rauher, aber reiner Pfeil erhob, sich durch das Gebüsch der Luft einen Weg bahnte und wie eine närrische, aber in sicherer Flugbahn gehaltene Feder bis zu den höchsten astralen Schichten stieg, in einer Nacht, deren ich mich Wort für Wort (Auge für Auge möchte ich sagen) erinnere, mit einem Freund trank, der mir von Liebe und vom Unabänderlichen sprach, habe ich begriffen, erfaßt, greifbar mit den Händen erfaßt, was es ist um diese Ewigkeit, deren Name meist »Verzweiflung«, manchmal auch »Leere« ist.

 Michel Leiris: Paris – Minuit. In: Der Querschnitt. 6. Jg., Berlin 1926, Heft 9, S. 685-688

Zum Projekt:
Holy Shit – Katalog einer verschollenen Ausstellung erschien im Oktober 2016 im diaphanes-Verlag. Erzählt wird die semifiktionale Geschichte einer Ausstellung, die zweimal scheiterte: 1929 als das gemeinsame Ausstellungsprojekt der Zeitschrift Documents und der Bibliothek Warburg, 2016 als der Versuch einer Rekonstruktion durch die Kuratorin Svenia Steinbeck. Erzählt wird auch, in Essays und vielen ‚Exponaten‘, eine Geschichte des Primitivismus in der Kultur- und Diskursgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Editorisch verantwortet wird die Publikation von Basil Rogger, Stefan Zweifel, Michel Mettler, Peter Weber, Ruedi Widmer; gestalterisch von Mihaly Varga und Corinne Gisel; erarbeitet wurde sie von und mit Martina Felber, Sophie Grossmann, Angela Meier, Nina Laky, Lora Sommer, Dominique Raemy, Philipp Spillmann, Kate Whitebread und einer Anzahl weiterer Studierenden des Master Kulturpublizistik der ZHdK.