Orientreisen mit Schweizer Nummernschild: Bouvier, Maillart, Schwarzenbach


1952 besucht der damals 23-jährige Nicolas Bouvier die 49-jährige Ella Maillart in Genf. Grund dafür ist ihr Rat über die Reiseroute Genf-Madras, die Bouvier mit seinem Freund Thierry Vernet plant, und die Maillart 13 Jahre zuvor mit Annemarie Schwarzenbach befahren hat. In knappen Sätzen schildert sie ihm die Route und fasst schliesslich zusammen: „Wo immer Menschen leben, kann auch ein Reisender leben.“
“ Rund ein Jahr später schreibt Bouvier im türkischen Trabzon ein Gedicht mit folgenden Zeilen: „[…] ein fantastischer Gewitterpilz, stieg auf über der Krim, und breitete sich aus bis China […]“.
Der Fiat Topolino der beiden Genfer rollt kurz darauf an der türkischen Ostgrenze über unwegsame Bergwege in eine, wie Bouvier schreibt, andere Welt: „Keine Möglichkeit mehr, ein Plakat zu entziffern: Hier herrschte die persische Schrift, die rückwärts läuft. Die Zeit übrigens auch. Im Lauf einer Nacht waren wir aus dem zwanzigsten nachchristlichen Jahrhundert ins vierzehnte der Hodscha hinübergewechselt.“
Der Orient: dämonisch, Ort der Sehnsucht, heiss und staubig, nimmt die beiden in sich auf. Genauso wie 13 Jahre zuvor die beiden Frauen. „Ein Entrinnen der Ratlosigkeit Europas“, schreibt Maillart. „Befreiung! Befreiung! Einzige Freiheit, die uns geblieben ist“, Schwarzenbach.
Bouvier, Maillart und Schwarzenbach waren Reisende. Schriftsteller, Journalisten und Fotografen. Diese Berufsbezeichnungen sind allerdings Gehhilfen für Sesshafte. Die Medien fliessen ineinander über. „Nur wer die Weite erfassen und reifen lassen kann, kann sie besitzen – nachdem er das Mittel gefunden hat, sie auszudrücken.“ (Ella Maillart) Das Mittel ist mal die Fotografie, mal das Gedicht. Mal die Anekdote und mal die nüchterne Beschreibung. Gemeinsam wird es zur Suche, der „ins Ferne und Abenteuerliche verbannten Existenz“ (Annemarie Schwarzenbach), die allen gemeinsam ist. Und so fahren die vier gemeinsam im Abstand vieler Jahre auf der Strasse in „die Abendstunden, die wie hungrige Wölfe über die lautlose, kaum noch atmende Welt streichen“ (Annemarie Schwarzenbach). Der Orient, Wiege und Rettung der europäischen Seele.
Annemarie Schwarzenbach: Shahbash bei Herat/Afghanistan, Juli 1939. Signatur: SLA-Schwarzenbach-A-5-19/151, Nachlass Schwarzenbach, Schweizerisches Literaturarchiv der Nationalbibliothek Bern.
Annemarie Schwarzenbach: Shahbash bei Herat/Afghanistan, Juli 1939. Signatur: SLA-Schwarzenbach-A-5-19/149, Nachlass Schwarzenbach, Schweizerisches Literaturarchiv der Nationalbibliothek Bern.
Quelle: Unsterbliches Blau. Reisen nach Afghanistan. Herausgegeben von Roger Perret. Scheidegger & Spiess. Zürich. 2003
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Olivier Christe, *1986, ist Kulturbeobachter und Absolvent des Master Kulturpublizistik.