Ohne Sprache, ohne Ort
Ein Versuch über den Mythos der babylonischen Sprachverwirrung, aktuelle Dynamiken des Diskurses – und Kommunikationsversagens und das gewaltvolle Potential von Sprache.
Ein Gedankenspiel: Was ist in Babel wohl vor sich gegangen, als jene Sprachverwirrung unter den Babylonier*innen einsetzte, von der die alttestamentarische Genesis erzählt? Von einem Tag auf den anderen, vielleicht von einer Minute auf die andere, verstanden sie sich nicht mehr. Man darf davon ausgehen, dass zunächst Ungläubigkeit geherrscht hätte, Erstaunen. Versuche, dem Gegenüber eine Antwort abzuringen, die in einer verständlichen, nämlich der eigenen, Sprache formuliert wäre, unter Zuhilfenahme von Händen und Füssen, in zunehmender Verzweiflung. Aber der*die Andere, der*die gerade noch verlässliches Gegenüber, vielleicht sogar geliebte*r Freund*in, gewesen war, sprach nicht mehr: Er*sie äusserte Unverständliches, so wie man selbst in seinen Augen nur noch Unverständliches von sich geben konnte. Vermutlich haben die Babylonier*innen, die nun radikal vereinzelt waren, noch einige Tage in der Stadt ausgeharrt. Waren vollends verstummt und auf sich selbst zurückgeworfen, als schliesslich die ersten die Stadt verliessen. Ohne sich umzusehen, sich noch einmal erklären zu können.
Das Nachdenken über die babylonische Sprachverwirrung offenbart eine Katastrophe ungeheuren Ausmasses: Weil Verstehen und Verständigung unmöglich wird, erodiert eine Gemeinschaft in kürzester Zeit, fällt in sich zusammen, wird, wie es die Genesis berichtet, über die Erde verstreut wie Staub und Asche. Ganz so, wie einige Zeit später wohl auch der Turm, das gemeinsame Werk, verfallen und in sich zusammensinken musste. Doch zum Mythos der Sprachverwirrung gehört auch, dass er sich selbst in vieler Hinsicht dem Verstehen verschliesst. Wo der Turm einstürzt, bauen sich Fragen auf: Was etwa sagt uns die quasi-solipsistische Isolation der Individuen, die wir aus dem Mythos herauslesen, über das Verhältnis zwischen Sprache und Gemeinschaft, oder, konkreter formuliert, zwischen Sprache und Gesellschaft? Was geht vor sich, wohin führt es, wenn eine Gesellschaft keine gemeinsame Sprache mehr hat? Und nicht zuletzt: Wie können wir diese Ortlosigkeit begreifen, die den Einwohner*innen Babels widerfährt?
Über all diese Fragen scheint der Mythos zu schweigen. Dabei stellen sich einige von ihnen doch auch heute wieder, wenn wir die Situation in vielen westlichen Demokratien betrachten. Da ist von einer Erosion der Öffentlichkeit die Rede, von «Filterblasen» und «Echokammern». In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist zu erleben, wie rechtspopulistische Parolen in den öffentlichen Diskurs einfallen, gegen Andersdenkende und -gläubige hetzen, Drohungen aussprechen, Hassreden verbreiten.[1]Um über Anzeichen, Gründe und Auswirkungen eines solchen Verlusts gemeinsamer (öffentlicher) Sprache nachdenken zu können, ist es notwendig, den Blick vom Mythos zu lösen. Perspektiven aus der Wissenschaft – der Soziologie, der Linguistik, der Philosophie, auch der Gewaltforschung – werden für die nun folgenden Überlegungen statt seiner leitend sein. Zuletzt wird es die Erfahrung der Ortlosigkeit sein, die mit einem Verlust gemeinsamer Sprache einhergeht, was unweigerlich wieder zum Mythos zurückführt.
Die Entstehung jener «Teilöffentlichkeiten» in vielen westlichen Demokratien, von der oben bereits die Rede war, wird von einer Neuordnung des medialen Raums durch Soziale Medien ermöglicht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sie dadurch nicht – oder zumindest nicht allein – verursacht wurde. Dass sich neue, kollektive Identitäten ausgebildet haben, über deren Grenzen hinweg Verständigung zunehmend schwierig bis unmöglich erscheint, bedarf vor allem soziologischer Deutung. Mit ihrer kürzlich erschienenen Publikation Die Gesellschaft des Zorns (2019) legt die Soziologin Cornelia Koppetsch einen umfassenden Erklärungsversuch vor. Die Partikularisierung des öffentlichen Diskurses dient dabei als ein Ausgangspunkt: «Größere Bevölkerungsgruppen», konstatiert sie, «verlassen den gemeinsamen Boden der Wirklichkeit, sie bilden eine Parallelöffentlichkeit heraus, kehren bisherigen politischen Narrativen den Rücken oder bestreiten gar die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens.»[2]
Diesen Verlust des «gemeinsamen Bodens der Wirklichkeit» führt Koppetsch auf eine fatale gesellschaftliche Dynamik wechselseitiger Entfremdung zurück. Entlang einer neuen gesellschaftlichen Trennlinie steht demzufolge eine kosmopolitisch orientierte Ober- und Mittelschicht einer national und regional orientierten «Koalition der Deklassierten» gegenüber. Letztere besteht aus ökonomisch und kulturell abgehängten Globalisierungsverlierern, aber auch aus oftmals hochgebildeten, rückwärtsgewandten Konservativen, die sich mit den liberalen Werten der neuen Mittelschicht nicht identifizieren können. Beide Gruppierungen sind durch rechte und rechtspopulistische Parteien potentiell mobilisierbar, in denen sie sich als «Ressentimentgemeinschaften» und «reaktionäre Protestbewegungen» vereinigen, um die liberale Öffnung der Gesellschaft aufzuhalten.[3]
Während sich die liberale, kosmopolitische Mitte im «Widerstand der Lebensformen»[4] zunehmend nach unten abgrenzt (eine Entwicklung, die Koppetsch ebenso kritisch beleuchtet), bringen rechtspopulistische Wortführer*innen und ihre Anhänger*innen diffamierende und ressentimentgeladene Positionen in den öffentlichen Diskurs ein, die sich dezidiert gegen Geflüchtete, Andersgläubige, gesellschaftliche Minderheiten sowie Anhänger*innen liberaler Wertvorstellungen und Parteien richten. Unterstellungen, Umdeutungen von Sachverhalten, Verdrehungen und Umwertungen historischer Zusammenhänge seien weitere gängige Diskursstrategien, konstatiert der Sprachwissenschaftler Thomas Niehr in einem Beitrag für den Youtube-Kanal der Universität Aachen.[5]
Ein solches Sprechen ist nicht mehr an Austausch interessiert, sondern an der Diskurs- und Deutungshoheit, die durch die Abwertung der Gegenseite und ihrer Positionen erreicht werden soll. Eine Antwort wird hier nicht erwartet; erwünscht hingegen ist zustimmendes Grölen. Im Hinblick auf diese Tendenzen spricht Niehr von «Prozessen der Entzivilisierung». Das zum «Sprachkampf» geronnene Sprechen verweist dabei unweigerlich auf den intimen Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt. Wie der Philosoph Burkhard Liebsch in seiner Untersuchung zu Formen subtiler Gewalt in der Sprache bemerkt, kann Aggression, die zunächst quasi symbolisch im Sprechen vorweggnommen wird, schnell in physische Gewalt umschlagen: «Nicht selten dient die Sprache der Anbahnung späterer, massiver Gewalt, die geradezu herbeigeredet wird.“[6]
Hier wäre nun der Ort, dieses «Herbeireden» realer Gewalt durch die Sprache zumindest skizzenhaft zu beleuchten. Der Germanist und Sozialforscher Jan-Philipp Reemtsma (der 1996 selbst Opfer einer Gewalttat wurde) hat dazu mit seinem Werk Vertrauen und Gewalt einen Beitrag geleistet. Reemtsma zeigt etwa, wie im modernen, seinem Selbstverständnis nach gewaltarmen Staat die tatsächlich auftretenden Formen extremer Gewalttätigkeit – das Massensterben in Lagern, in Revolutionen, in den Kolonien – von legitimierenden Narrativen begleitet wird, die die Gewaltmittel als gerade noch notwendige ausweist: «Man ist ‹noch› zur Gewalt genötigt, weil man verhindern will, dass es ›weiterhin› zu Gewalt kommt – oder man ist ‹noch› zur Gewalt genötigt, weil man sich in einer Gegend aufhält, wo die Moderne noch nicht recht Fuß gefasst hat.»[7] Auch Gewalt gegenüber spezifischen Gruppen, wie sie etwa während ethnischen Säuberungen, Genoziden oder Bürgerkriegen auftritt, wird Reemtsma zufolge sprachlich legitimiert: «Ungeziefer-Metaphorik» rückt diese Gruppen durch zunehmend drastische Diffamierung zunächst fast unmerklich, dann aber umso deutlicher in die Zone «erlaubter Gewalt».[8]
Physische Gewalt also ist keineswegs stumm, wie so häufig gesagt wird. Sie wird durch Sprache eng begleitet, vorgängig vorbereitet und nachträglich legitimiert. Die Sprache wird dabei zur Komplizin gewaltvoller Handlung. Sie wird selbst zu einem Tun, gewinnt Handlungsmacht, wie J. L. Austin in seiner Sprechakttheorie gezeigt hat. Auch zahlreiche historische Beispiele belegen, wie durch Akte sprachlicher Performanz zivilisatorische Grenzen verschoben werden. Eines davon hat der Theatermacher Milo Rau mit seinem dokumentarischen Stück Hate Radio inszeniert: In einer Sendung des ruandischen Extremistenradios RTLM aus dem Bürgerkriegsjahr 1994, die auf der Bühne reenacted wird, werden angebliche Aggressionen der Gegenseite für die Morde an den Tutsi verantwortlich gemacht. Durch dieses Narrativ, das der Sender im ganzen Land verbreitete, werden Angriff und Verteidigung, Aktion und Reaktion systematisch verkehrt; Opfer werden zu Tätern, Täter zu Opfern gemacht, und diese so von jeglicher Schuld freigesprochen.
Am Beispiel des ruandischen Hate Radios – genauso hätte etwa die NS-Propaganda im Dritten Reich angeführt werden können – wird deutlich, welcher perversen Logik hasserfülltes Sprechen folgt. Ob dieses öffentliche Sprechen in physische Gewalt umschlägt, scheint eine Frage der historischen Umstände, der Mehrheitsverhältnisse, der Lautstärke, Intensität und Häufigkeit dieses Sprechens zu sein. Es dürfte sich also lediglich um graduelle Steigerungen eines Gewaltpotentials handeln, dass in einem derartigen Sprechen von Grund auf angelegt ist. (Tatsächlich sind ja bereits heute vereinzelte Ausbrüche physischer Gewalt zu beobachten, zu deren Mobilisierung rechte Diskurse, wie sie für die gegenwärtige politische Öffentlichkeit in Europa prägend sind, mutmasslich beigetragen haben dürften.[9]) Dieser Umstand lässt Diffamierungen und Entzivilisierungstendenzen im öffentlichen Sprechen in noch grellerem Licht erscheinen, über das kein Versuch einer Normalisierung mehr hinwegtäuschen sollte.
Um das verletzende Potential von Sprache vor Augen zu führen, das angeblich unversöhnliche Gegensätze behaupten, Feindbilder etablieren, Individuen oder ganze Gruppen aus einer Gemeinschaft ausschliessen kann, muss allerdings nicht auf physische Gewalt verwiesen werden. Der Bezug ist, wie Judith Butler in ihrer Politik des Performativen zeigt, in der Sprache immer schon symbolisch eingeschlossen: Beginnend damit, dass «für das Problem der sprachlichen Verletzung keine spezifische Sprache [existiert], so dass diese sozusagen gezwungen ist, ihr Vokabular der körperlichen Verletzung zu entlehnen» – wir also in unserem Nachdenken über Verletzung durch Sprache darauf zurückgeworfen sind, diese mit physischer Gewalt, physischem Schmerz, einer Verletzung unseres Körpers gleichzusetzen.[10]Und in einem existentielleren Sinn noch dadurch, dass wir sprachliche Wesen sind. Wir bedürfen der Ansprache der Anderen, «um zu sein», wir können uns als Subjekte erst durch die Anrede der Anderen überhaupt konstituieren: In einem bejahenden, bestärkenden, positiven Sinn «innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung« durch die Anderen, und in einem negativen Sinn «außerhalb dieses Kreislaufs», in der Ablehnung, «in der Verworfenheit».[11]Von letzterem aber ist das Subjekt in seinem Überleben ebenso bedroht wie von real erfahrener, physischer Gewalt.
Dies ist es wohl, was uns der Mythos im Kern erzählt: Wenn es Individuen wiederholt verwehrt bleibt, durch und in der Ansprache durch Andere Verständnis und Anerkennung zu erfahren, bedeutet dies für sie eine existentielle Katastrophe. Obwohl die im Mythos auftretende Verständnislosigkeit nicht mit abwertendem, hasserfüllten Sprechen (bei Butler: hate speech) identisch sein dürfte, bleibt auch hier alle Möglichkeit verwehrt, in jenen Kreislauf der Anerkennung einzutreten, von dem Butler (mit Bezug auf die Philosophie Althussers) spricht. Auch hier schiebt sich die Sprache wie eine undurchdringliche Wand zwischen die Individuen und die Welt, beraubt sie ihrer Subjekthaftigkeit, wirft sie in die Vereinzelung.
Nicht zufällig setzt Butler ein solches Verworfen-Sein des Subjekts gleich mit seiner Ortlosigkeit: In einem vernichtenden Augenblick wie diesem werde «gerade die Unbeständigkeit des eigenen ‹Ortes› […] sichtbar.»[12]Das Individuum kann sich selbst nicht mehr – als Subjekt – verorten, es verliert seinen Platz in der Welt, wird zum Spielball von Wind, Gezeiten und höheren Mächten. Wenn die Babylonier «über die ganze Erde zerstreut» werden, wie es in der Genesis heisst, so lässt sich der biblische Mythos als Metapher einer radikalen Entwurzelung lesen, die mit einer Vertreibung des Subjekts aus der Gemeinschaft der Sprecher*innen, und damit letztlich aus sich selbst einhergeht. Das Schicksal der Ortlosigkeit, das die Babylonier*innen erleiden, ist die letzte, radikalste Konsequenz der Verletzung der Sprache durch die Verständnislosigkeit, der Verletzung des Individuums durch die Sprache, der Vernichtung der Gemeinschaft durch das Verworfen-Sein ihrer Individuen.[13]Während Soziologie, Sprachwissenschaft und Gewaltforschung diese Dynamiken des Diskurs- und Kommunikationsversagens beleuchten und begreiflich machen können, scheint uns der Mythos aus grosser Ferne zuzurufen: Gebt darauf acht, dass niemand ortlos wird.
[1]Auf Zitate dieser diffamierenden Äusserungen soll hier bewusst verzichtet werden; etliche davon sind beispielsweise auf www.das-ist-afd.de nachzulesen.
[2]Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter. Bielefeld 2019, S. 12
[3]Ebd. S. 37-42
[4]Ebd. S. 41
[6]Burkhard Liebsch: Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Göttingen 2007, S. 115
[7]Jan-Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008, S. 270
[8]Ebd. S. 308-314
[9]Dazu zählen etwa der versuchte Mord an einem Geflüchteten aus Eritrea im hessischen Wächtersbach am 23.7.2019, der am selben Tag verübte Sprengstoffanschlag auf die Wohnung einer Lokalpolitikerin der Partei Die Linke im sächsischen Zittau, sowie der Mord an dem hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke am 2.7.2019.
[10]Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998, S. 13
[11]Ebd. S. 14
[12]Ebd. S. 13
[13]Vor allem in Bezug auf «Entzivilisierungstendenzen« wie hate speech, aber auch der Äusserung von mehrheitlich als unpopulär oder absurd angesehenen Meinungen im öffentlichen Diskurs stellt sich die Frage, ob dadurch nicht auch die Sprechenden selbst in gewissem Sinn ortlos werden. Dazu eröffnet der von Butler herausgestellte Zusammenhang zwischen der Subjektwerdung und der Ausrichtung des Sprechens an jenen impliziten Normen, die den «Bereich des Sagbaren» konstituieren, eine interessante Perspektive. Sich ausserhalb des Bereichs des Sagbaren zu begeben, hiesse demnach, «seinen Status als Subjekt aufs Spiel zu setzen» (ebd. S. 189/190). Hier schliesst sich im Grunde die Frage an, ob eine Gemeinschaft das Recht hat, einzelne Mitglieder auszuschliessen, wenn sie extreme oder diffamierende Positionen äussern. Ihre Beantwortung kann auf ethischer, politischer und rechtlicher Ebene geschehen und ist deshalb komplex. Soziologisch betrachtet ist es wohl so, dass sich der Bereich des Sagbaren in jeder Gemeinschaft als ein Instrument symbolischer Herrschaft herausbildet, und dass dieser unweigerlich Ausschlüsse produziert. Die «Grenzen des Sagbaren» zu verschieben, wie es der rechtspopulistische Diskurs anstebt, hiesse dann, die Gemeinschaft selbst, ihre Normen und Wertvorstellungen zu verändern.
Eva Mackensen (*1986) studierte Philosophie und Kulturkritik in München. Sie ist Dozentin im Master Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste.